P. Purtschert u.a. (Hrsg.): Postkoloniale Schweiz

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Titel
Postkoloniale Schweiz.


Herausgeber
Purtschert, Patricia; Barbara, Lüthi; Francesca, Falk
Reihe
Postcolonial Studies 10
Erschienen
Bielefeld 2014: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
411 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Steve Page


Mit den Konzepten Entanglement, Spektakel des Exotischen, Warenrassismus, othering, koloniale Wissensproduktion und Widerstand rechtfertigen die Herausgeberinnen die Anwendung einer postkolonialen Perspektive auf die Schweiz. In dieser umfassenden Ausrichtung ist der Ansatz für die Schweiz neu, obwohl der Aspekt des entanglement – oder der Verflechtung – doch nicht so unerforscht ist, wie es die Einleitung des Buches darstellt: Die Herausgeberinnen blenden eine Reihe von Publikationen über Auslandsschweizer und Wirtschaftsgeschichte aus, die bereits klar gemacht haben, dass die Frage der Kolonisation und asymmetrischen Nord-Süd-Beziehungen auch die Schweiz betrifft.1 Dies bedeutet keineswegs, dass in diesem Forschungsfeld keine Lücken mehr bestehen. Alle fünfzehn Beiträge stützen sich auf eines oder mehrere der sechs oben erwähnten Konzepte. Sara Elmer beschäftigt sich mit einem spezifischen Aspekt der postkolonialen Verflechtung und zitiert den ETH-Schulratspräsidenten Hans Pallmann, der die Teilnahme der Schweiz am «Wettlauf für den Ausbau der wirtschaftlich zurückgebliebenen Gebiete» als nützliches Mittel zur Erschliessung neuer Absatzmärkte hielt, ohne damit zu rechnen, dass die Mitglieder der ersten nach Nepal gesandten Expertenmission vor allem von wissenschaftlichen Interessen angetrieben waren. Christof Dejung analysiert die Haltung der Schweiz in Welt- und Landesausstellungen während der Kolonialzeit. Ähnlich wie die Kolonialmächte präsentierte sie sich als entwicklungsfähige Nation und trug dazu bei, NichteuropäerInnen als geschichtslose Naturvölker darzustellen. Dies zeigt das Beispiel des Village noir in Genf 1896. Hier geht es u. A. um Ausgrenzung, oder othering.

Das Werk des Basler Reisenden René Gardi kann als (post-)koloniale Wissensproduktion angesehen werden. Gaby Fierz zeigt, welches Afrikabild dieser Schriftsteller und Filmautor seit den 1950er Jahren «in die Deutschschweizer Wohnzimmer» brachte. Eingeborene aus Nordkamerun galten hier als erziehungsbedürftige Kinder; daraus ergab sich «unsere» Elternpflicht, die «Neger» zu kleiden und zu ernähren. Diese Vorstellung unverdorbener Völker steht im Zusammenhang mit dem Mythos der Urschweizer «Bergler». Eine solche Parallelle zieht auch Bernhard C. Schär, der in seinem Beitrag Gedichte von Albrecht von Haller untersucht und diesen mit dem folgenden Ausspruch zitiert: «In jedem Hottentotten steckt noch ein Berner Oberländer».

Die Quellen- und Perspektivenvielfalt stellt ein dominierendes Merkmal des Werkes Postkoloniale Schweiz dar. Francesca Falk und Franziska Jenni entwickeln ihre gemeinsame Darlegung anhand von Missionsausstellungen in Basel und Werbeträgern mit Hinweisen auf die indische Geschichte. Hier kommen einige wenig fundierte Zusammenhänge vor, auf die Urs Hafner (Rezension in NZZ, 22.6.2012) bereits verwiesen hat. Keramik und Kinderbücher sind Teil des Materials, mit dem Martin Mühlheim eine «postkoloniale Spurensuche in Zürich» unternimmt. Patricia Purtschert befasst sich auch mit Kinderbüchern, hauptsächlich mit den Figuren Globi und Schorsch Gaggo, die eine Fülle gängiger Klischees über Afrikaner tradierten und so dem Rassismus Vorschub leisteten. Allerdings fällt es schwer, der Autorin zu folgen, wenn sie in einer 1970 erschienenen Abbildung heteronormative und homophobe Vorstellungen erkennt, weil darauf ein dicklippiger afrikanischer «Häuptling» Blätterrock und Schmuck trägt. Rohit Jain interessiert sich seinerseits für die Comedyfigur Rajiv Prasad, die in einem «Spätprogramm » des Schweizer Fernsehens um die Jahrhundertwende präsent ist. Dieser verkörpert einen «verkaufswütigen, feilschenden und dubiosen» Inder und erneuert ein Stereotyp, das bereits in britischen Schriften der viktorianischen Zeit auftauchte. Der «Aussenseiter» Prasad, so Jain, spiegelt im Kontext der heutigen Schweiz einen Mechanismus der Ausgrenzung als Folge der am Ende des Kalten Krieges auftretenden Infragestellung der nationalen Identität. Abseits der populären Fernsehkultur konzentriert sich Alexander Honold auf die Novellen Meine Väter von Martin R. Dean und Hundert Tage von Lukas Bärfuss: diese zwei Werke lassen eine komplexe und verstrickte schweizerische Identität erkennen. Einige Autoren arbeiten mit klassischen Quellen. Daniel Speich Chassé analysiert die Überlegungen mancher prominenter Wissenschaftler zur Neutralität im Zeitalter der Dekolonisation, und Christian Koller untersucht die Erinnerungsschriften der Schweizer Legionäre in den französischen Kolonien. Gerne würde man mehr darüber erfahren, inwiefern diese Schriften sich als typisch schweizerisch erwiesen, z.B. in Bezug auf die Kontakte mit den kolonisierten Menschen. Allerdings zeigt sich, dass die Nationalität unter den Legionären «eine eher untergeordnete Rolle» spielte. Im Nachtrag seiner 2011 publizierten Doktorarbeit (Rezension in SZG, Vol. 62, 2012, Nr. 3, S. 518), setzt Konrad J. Kuhn den Schwerpunkt auf die Erklärung von Bern, deren Kritik der kolonialen Kontinuitäten und ethnozentrischen Perspektiven in der Schweiz am deutlichsten in ihrer 1976 veröffentlichten Broschüre Dritte Welt: Empfehlenswerte Kinder- und Jugendbücher in Erscheinung trat.

Bemerkenswert am Werk ist, dass die Gegenwartsgeschichte einen grosszügigen Raum einnimmt. Vor der Wahl Miss-Schweiz 2004 hob die Ringier-Presse die Doppelbürgerschaft von zehn Kandidatinnen hervor und fragte: «Wie schweizerisch muss eine Miss Schweiz sein?» Christine Bischoff stellt einen Zusammenhang zwischen einer solchen ausgrenzenden Identitätssuche und der Abstimmung über die Einbürgerungsvorlagen im gleichen Jahr her. Hier werden Stereotypen, zumeist anhand von Bildern, vertief analysiert und konzeptualisiert; möglicherweise allerdings insofern zu tief, als die zur Analyse herangezogene Dichotomie zwischen Schwarz (als Hautfarbe) – markant – und Weiss – unsichtbar – wenig überzeugend ist. Meral Kaya befasst sich mit dem Diskurs über «unterdrückte Musliminnen». Sie zeigt, wie die Diskussionen von 2009 über ein Minarettverbot in der Schweiz sich mit denjenigen über die Burka in Frankreich und Belgien vermischten: die Islamophobie äusserte sich unter einem feministischen Deckmantel, ohne dass eine Wortmeldung der Musliminnen zu ihren eigenen Rechten und ihrer Situation erwünscht war. Mit einem breiteren Ansatz beleuchtet Francesca Falk einige Triebkräfte der heutigen Illegalisierung der Immigration, bei der eine Angst vor «umgekehrter Kolonisation» eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.

Überinterpretation ist in der Kulturgeschichte eine bekannte Gefahr; nicht allen Autorinnen und Autoren der vorliegenden Publikation gelingt es, ihr ganz auszuweichen. Dadurch werden manchmal Parallelen gezogen, die nicht unbestreitbar sind. Zu bedauern ist auch, dass das Forschungsfeld sich auf die Deutschschweiz beschränkt und so dreissig Prozent der Landesbevölkerung ausschliesst. Die innovativen Ansätze und die breite Interdisziplinarität sind dennoch nicht zu übersehen. Die Konzipierung von Postkoloniale Schweiz ist wegweisend für eine zukünftige Auswertung vieler Forschungsresultate, die oft zu einseitig beleuchtet werden.

1 Zwei Beispiele unter anderen: Hans Werner Debrunner, Schweizer im kolonialen Afrika, Basel 1991. Béatrice Veyrassat, Réseaux d’affaires internationaux, émigrations et exportations en Amérique latine au XIXe siècle. Le commerce suisse aux Amériques, Genève 1993.

Zitierweise:
Steve Page: Rezension zu: Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hg.): Postkoloniale Schweiz. Bielefeld, transcript Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 170-172.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 170-172.

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