N. Ritzer: Der Kalte Krieg in den Schweizer Schulen

Cover
Titel
Der Kalte Krieg in den Schweizer Schulen. Eine kulturgeschichtliche Analyse


Autor(en)
Ritzer, Nadine
Reihe
Geschichtsdidaktik heute
Erschienen
Bern 2015: h.e.p. verlag
Anzahl Seiten
568 S.
Preis
CHF 49.00
URL
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sibylle Marti, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Der Kalte Krieg war ein weltweiter Konflikt. Etliche Kriege in Afrika, Asien und Südamerika standen im Zusammenhang mit dem Ost-West-Antagonismus. In den meisten Staaten des ‚Westens‘ handelte es sich allerdings primär um einen imaginären Konflikt.1 Doch auch der vorgestellte Kalte Krieg war wirkmächtig. Als dichotome Spaltung der Welt drang die Blocksituation in sämtliche Bereiche der Gesellschaft – Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur – ein. Die Cold War Studies erforschen diese Deutungsmacht des Kalten Krieges in jüngster Zeit zunehmend auch in Staaten, die – wie die Schweiz – nicht im Zentrum des Ost-West-Konfliktes standen.

Nadine Ritzers 2015 im Bildungsverlag „h.e.p.“ erschienene Dissertation reiht sich in diese Forschungsperspektive ein. Die Hauptquellen von Ritzers Arbeit bilden die zwei bedeutendsten Lehrerzeitschriften der deutschsprachigen Schweiz, die zugleich als Verbandsorgane der beiden wichtigsten Deutschschweizer Lehrervereine fungierten. Daneben konsultierte Ritzer Archivakten und das Publikationsorgan der Eidgenössischen Erziehungsdirektoren-Konferenz, eine Auswahl an Geschichtslehrmitteln sowie ferner Lehrpläne, kantonale Curricula und Unterrichtsmaterialien. Ebenso führte sie mehrere Interviews mit während des Kalten Krieges tätigen Lehrpersonen durch. Mit diesem Quellenkorpus verfolgt Ritzer methodisch in erster Linie einen inhalts- bzw. diskursanalytischen Zugang. Die Arbeit geht von der These aus, „dass sich die diskursiv ‚gedeutete Wirklichkeit‘ des Kalten Krieges und die damit einhergehende Sinnkonstruktion der gedachten bipolaren Weltordnung auf verschiedenen Ebenen der Schweizer Volksschule widerspiegelten: auf der Ebene der Diskurse über den gesellschaftlichen Auftrag der Schule generell, auf der Ebene der sozialen Praktiken des Unterrichtens und der Lehrpersonenauswahl, auf der Ebene der Deutung des Kalten Krieges und seiner Ereignisse selbst sowie innerhalb der Kontrastierung des ‚Fremden‘ mit dem ‚Eigenen‘“ (S. 36). Diese These und ihre Präzisierungen strukturieren auch den Aufbau der Arbeit.

Nach der Einführung stellt Ritzer im ersten Teil sowohl ihre theoretische Perspektive als auch die institutionellen Rahmenbedingungen der Schweizer Volksschule und die Rezeption des sozialistischen Bildungssystems dar. Die theoretischen Überlegungen wären in gekürzter Form gut in der Einleitung aufgehoben gewesen. Auch in anderen Teilen hätte es noch Potential für Verdichtung gegeben. So vermögen die Ausführlichkeit und die Struktur der Arbeit nicht an allen Stellen gleichermaßen zu überzeugen. Dies spiegelt sich auch in der bisweilen etwas gar kleinteiligen Kapitelstruktur wider. Demgegenüber hätten die gelungenen Ausführungen zur Institution der Volksschule und zum Blick auf die sowjetische Schule ein eigenes Kapitel verdient. Ritzer beleuchtet hier unter anderem die Reaktion auf den Sputnik-Schock. Dieser führte auch Pädagoginnen und Pädagogen in der Schweiz dazu, die Bedeutung der Bildung als Kampfmittel im Kalten Krieg zu betonen, einen Bildungsnotstand zu konstatieren und – mit durchaus anerkennendem Blick auf die UdSSR – insbesondere für technisch-naturwissenschaftliche Fächer eine Bildungsoffensive zu fordern.

Im zweiten Teil analysiert Ritzer die gesellschaftlichen Aufgaben, welche der Schule im Kontext des Kalten Krieges zugeschrieben wurden. Überzeugend arbeitet sie heraus, dass die Schule hauptsächlich als Wertevermittlerin fungieren sollte. So wurde in Schulgesetzen, aber auch in Curricula und Lehrmitteln bis in die 1960er-Jahre die Forderung aufgestellt, im schulischen Unterricht sei die Geistige Landesverteidigung zu propagieren, um die heranwachsende Generation psychologisch für den Abwehrkampf gegen den kommunistischen Feind zu rüsten. Die Schule sollte auch dem scheinbaren Niedergang der Volkskultur entgegenwirken und den Schülerinnen und Schülern Heimatliebe und schweizerische Werte vermitteln. Der Geschichtsunterricht bestand bis in die 1970er-Jahre praktisch ausschließlich aus Schweizergeschichte, wobei die Geschichte der Eidgenossenschaft als ewiger Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit dargestellt wurde. Diese nationale Meistererzählung sollte nicht nur die patriotische Gesinnung der Jugendlichen fördern, sondern diente auch als Deutungsmuster für die wahrgenommene Bedrohungslage des Kalten Krieges. Zu letzterer gehörte die Vorstellung, der atheistische Kommunismus gefährde die Kultur des christlichen Abendlandes. Die Schule sollte deshalb dazu beitragen, die abendländische Kulturgemeinschaft zu stärken. Anschaulich zeigt Ritzer auf, wie diese Wertevermittlung immer wieder durch Kritik herausgefordert wurde. So bemängelte die in den 1950er-Jahren eingesetzte schweizerische UNESCO-Kommission insbesondere die Schweizer Geschichtslehrmittel. Diese seien nationalistisch, methodisch konventionell und teilweise veraltet und würden damit dem international anerkannten Postulat der Friedens- und Demokratieerziehung nicht genügen. Gefordert wurde eine Neukonzeption des Geschichtsunterrichts mit Fokus auf die Weltgeschichte, später auch die Demokratisierung der Schule als Institution. Ab Ende der 1960er-Jahre machten es die zunehmenden Pluralisierungstendenzen immer schwieriger, typisch schweizerische Werte zu definieren. Im Zuge der 68er-Bewegung geriet bei den Lehrpersonen und den Jugendlichen auch die Landesverteidigung vermehrt in die Kritik. So scheiterte das in den 1970er-Jahren von der Zentralstelle für Gesamtverteidigung verfolgte Projekt, einen Lehrplan für Landesverteidigung zu entwerfen.

Der dritte Teil der Arbeit widmet sich den an die Lehrpersonen gestellten gesellschaftlichen Erwartungen. Ritzer argumentiert einleuchtend, dass den Lehrpersonen eine Doppelfunktion zugeschrieben wurde, indem ihr Unterricht sowohl zum Erhalt als auch zur Veränderung der Gesellschaft beitragen sollte. Die Lehrkräfte hatten das richtige Maß zu finden zwischen Staatstreue und -loyalität einerseits und der Beteiligung an einem konstruktiven Gesellschaftswandel andererseits. Den Möglichkeiten der Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler zu kritischem Denken anzuregen, waren durch die dichotomen Wahrnehmungsmuster des Kalten Krieges indessen enge Grenzen gesetzt. So zeigt Ritzer sehr plastisch auf, was passieren konnte, wenn Lehrpersonen den dominanten Wertvorstellungen nicht genügten. Wer in Verdacht geriet, die Schweizer Gesellschaftsordnung in Frage zu stellen, lief Gefahr, nicht wiedergewählt bzw. gar nicht erst angestellt zu werden. Die Gründe für eine Nichtwiederwahl respektive eine Nichteinstellung waren vielfältig und konnten neben pädagogischen Argumenten (fehlende Disziplin, ‚falsche‘ Unterrichtsmethoden, Unterricht außerhalb des Lehrplans usw.) auch einen nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechenden Lebensstil (z.B. Leben im Konkubinat), eine als fragwürdig betrachtete sexuelle (Homosexualität) oder politische Orientierung (z.B. Mitgliedschaft in der Partei der Arbeit oder den Progressiven Organisationen der Schweiz) betreffen. Aber auch politisch nicht genehme Äußerungen vor der Klasse, die Behandlung umstrittener Themen im Unterricht oder ein als unpassend taxiertes Aussehen konnten dem Beruf als Lehrperson im Weg stehen. Ein Nicht(wieder)anstellungsgrund stellte auch das Verweigern des Militärdienstes dar. In den 1970er-Jahren akzentuierte sich die Tendenz, bestimmte Lehrpersonen aus politischen Gründen nicht (wieder) einzustellen. Die mediale Berichterstattung über linksextreme Gruppierungen wie die Rote Armee Fraktion und die Roten Brigaden schürten Ängste vor einer Unterwanderung staatlicher Institutionen. Gleichzeitig führte die Wirtschaftskrise zu einem Überschuss an Lehrkräften, was den Druck auf nonkonforme Lehrpersonen erhöhte. Mehrere Kantone, darunter Zürich und Zug, formulierten Grundsätze oder Richtlinien, um gewisse Lehrkräfte bei Neu- oder Wiederwahlen aus dem Schuldienst ausschließen zu können. Darüber hinaus bedienten sich verschiedene Erziehungsbehörden – so etwa diejenige des Kantons Zürich – staatlicher und privater Staatsschutzquellen, um Informationen über Lehrpersonen zu beschaffen. Ritzer macht hier deutlich, wie der antikommunistische Basiskonsens in der Schweiz Biographien massiv prägen konnte. Eine quantitative Erhebung bleibt dabei ein Desiderat. So ist, wie Ritzer zu Recht festhält, bis heute unbekannt, wie viele Lehrkräfte wissentlich oder unwissentlich in ihrer Karriere behindert wurden, weil sie (angeblich) eine ‚linke‘ Gesinnung hatten. Die Machenschaften von Erziehungs- und Schulbehörden lösten bisweilen auch öffentliche Kritik aus. Im Kanton Zürich formierte sich 1976 eine Protestbewegung, der unter anderem Adolf Muschg, Max Frisch, Niklaus Meienberg sowie verschiedene sozialdemokratische Nationalräte angehörten. Diese unterzeichneten das sogenannte ‚Demokratische Manifest‘, mit dem sie die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Schule, Presse und Gewerkschaften anprangerten. Auch bei Entlassungen von Lehrpersonen kam es bisweilen zu Protesten. Diese waren jedoch, wie Ritzer ausführt, nur selten erfolgreich.

Im vierten Teil stellt Ritzer anhand exemplarischer Fallstudien dar, wie der Kalte Krieg in Lehrerzeitschriften und Lehrmitteln repräsentiert war. Bis Ende der 1960er-Jahre diente die Russische Revolution als Hintergrundfolie, vor der die aktuelle Politik der UdSSR während des Kalten Krieges gedeutet wurde. Verschiedene Ereignisse des Kalten Krieges – der Ungarnaufstand und der Prager Frühling, aber auch der Korea- und der Vietnamkrieg – mobilisierten Lernende, Lehrpersonen und die Schweizer Lehrerverbände. Hauptsächlich über den Vietnamkrieg fand in den 1970er-Jahren die Zeitgeschichte Eingang ins Schulzimmer. Ritzer stellt plausibel dar, dass bei der Interpretation des Prager Frühlings und des Vietnamkrieges der Ost-West-Dualismus als einziges welterklärendes Schema an Erklärungskraft verlor. Die Differenzsemantiken des Kalten Krieges und mit ihnen ein rigider Antikommunismus büßten Ende der 1960er-Jahre an Plausibilität ein; ‚Gut‘ und ‚Böse‘ waren zunehmend schwieriger zuzuordnen. Auch die Thematisierung der Dekolonisierung und der Nord-Süd-Konflikt erfuhren in jener Zeit eine Differenzierung. Zuvor hatte der Konsens bestanden, dass der ‚Westen‘ – und damit auch die Schweiz – die sogenannten Dritte-Welt-Länder nicht nur aus humanitären oder ökonomischen Gründen unterstützen sollte, sondern insbesondere auch, um den Einflussbereich der kommunistischen Staaten zu begrenzen und denjenigen der westlich-abendländischen Kultur auszudehnen.

Nadine Ritzer hat mit ihrer Dissertation eine sorgfältig verfasste, sprachlich präzise und empirisch fundierte Studie vorgelegt. Am Beispiel der Institution Volksschule leistet sie einen wesentlichen Beitrag zu zwei Forschungsfeldern: Zur Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des schweizerischen Kalten Krieges auf der einen sowie zur historischen Bildungsforschung und hier vor allem zur Entwicklung der Geschichtsdidaktik auf der anderen Seite. Durch den langen Untersuchungszeitraum, welcher die gesamte Zeitdauer vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch des Ostblocks umfasst, gelingt es Ritzer überzeugend, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den von ihr untersuchten Themenfeldern herauszuarbeiten. Dabei kristallisieren sich – im Einklang mit den Ergebnissen aktueller zeitgeschichtlicher Forschungen – die 1970er-Jahre als das Jahrzehnt des (durchaus ambivalenten, bisweilen gar widersprüchlichen) Umbruchs heraus.2 Die Pluralisierung der Lebensformen, das Auftreten der Neuen Sozialen Bewegungen und die einsetzende Kritik am militärzentrierten Staatsverständnis ließen den Kalte-Kriegs-Konsens in der Schweiz zunehmend brüchig werden, um ihn in den 1980er-Jahren mehrheitlich erodieren zu lassen. Aber nicht nur aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, sondern auch aus der Sicht der Schul- und Unterrichtsentwicklung setzte in dieser Dekade ein grundlegender Wandel ein. So zeigt Ritzer, dass sich in den 1970er-Jahren ein didaktischer Wandel hin zu einer konstruktivistischen Lernperspektive anbahnte. Im Geschichtsunterricht wurden nun vermehrt Quellen einbezogen und die Sinnkonstruktion damit zunehmend den Schülerinnen und Schülern selbst überlassen.

Der starke Fokus auf die Inhalte und Diskurse in den Lehrerzeitschriften ermöglicht es Ritzer, die in der Lehrerschaft präsenten Themen sowie Diskussionen um das schweizerische Bildungswesen und den Schulunterricht gehaltvoll nachzuzeichnen. Allerdings wird dabei die Relevanz der genannten Autoren und der erwähnten Akteure nicht immer klar. So publizierten nicht nur Lehrerinnen und Lehrer oder Bildungsforschende, sondern auch Politiker in den untersuchten Zeitschriften. Eine stärkere Reflexion über deren unterschiedliche Diskurspositionen wäre hier fruchtbar gewesen. Wer kam in den Lehrerzeitschriften zu Wort? Und wer nicht? Wer bestimmte, welche Artikel abgedruckt werden durften? Gab es Aushandlungskonflikte um die inhaltliche Ausrichtung der Lehrerzeitschriften? Diese und andere Machtfragen werden in den diskursanalytischen Teilen der Arbeit weniger expliziert als dort, wo Ritzer Fälle von Lehrpersonen analysiert, die die Grenzen des Sagbaren überschritten und deshalb unter Druck gerieten.

Ritzers kulturgeschichtliche Analyse zur Schweizer Schule im Kalten Krieg stellt dennoch über weite Strecken eine Pionierarbeit dar, welche die Entwicklung des schweizerischen Bildungswesens mit Erkenntnissen zur Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges in der Schweiz verknüpft. Mit dieser Verbindung liefert die Studie einen innovativen Beitrag zur schweizerischen Schulgeschichte und zu den Swiss Cold War Studies.

Anmerkungen:
1 Dazu exemplarisch schon früh: Mary Kaldor, Der imaginäre Krieg. Eine Geschichte des Ost-West-Konflikts. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe, Hamburg 1992 [1990]. Jüngst siehe: Patrick Bernhard / Holger Nehring (Hrsg.), Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte nach 1945, Essen 2014; David Eugster / Sibylle Marti (Hrsg.), Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa, Essen 2015.
2 Vgl. bspw.: Die 1970er-Jahre – Inventur einer Umbruchzeit (Themenheft), Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), H. 3, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2006> (7.3.2016).

Redaktion
Veröffentlicht am
04.04.2016
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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