K. Gfeller u.a. (Hersg.): Niederscherli

Titel
Niederscherli – Begegnungen mit einem Dorf.


Herausgeber
Gfeller, Kurt; Koshy, Verena; Frey-Aebersold, Ruth
Erschienen
Köniz 2012: Ackermanndruck AG
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sarah Pfister

Niederscherli, einer der zwölf Ortsteile der politischen Gemeinde Köniz, «hat kein Schloss, keinen See, nichts Monumentales, das Besucherströme anlocken würde», hält das Redaktionsteam einleitend fest. Das Dorf, das seit über 200 Jahren als Zentrum des oberen Gemeindegebiets gilt, ist aus quellengeschichtlicher Sicht ein spärlich beschriebenes Blatt. Dennoch hat es sich ein Team von ehrenamtlichen Autorinnen und Autoren zur Aufgabe gemacht, die Geschichte Niederscherlis nachzuzeichnen. Niederscherli – Begegnungen mit einem Dorf ist jedoch keine Ortsgeschichte, die sich einer universitär geprägten Geschichtsschreibung verpflichtet sieht. Vielmehr handelt es sich um eine Sammlung oftmals persönlich gezeichneter Erlebnisse und Informationen, die sich mehr als Erinnerungs- denn als Geschichtsbuch präsentiert.

Der Band gliedert sich in zwölf Themenkreise: Der Ortsname und seine Deutung, Niederscherli als Lebensraum, Niederscherli im Wandel der Zeit, Die Entwicklung der Infrastruktur, Die Schule, Die Entwicklung der Landwirtschaft, Die Entwicklung von Gewerbe, Handel und Dienstleistung, Gesundheit und medizinische Versorgung, Ordnung und Sicherheit, Kultur und Religion, Politik sowie Bewegende Ereignisse. Diesen Themen sind jeweils ein bis 14 Aufsätze zugeordnet. Der Anhang besteht aus einem Glossar, einigen Dorfansichten sowie Landkarten. Eine Gesamtbibliografie sucht man vergeblich; bibliografische Hinweise auf den einzelnen Beiträgen zugrunde liegende Quellen finden sich teilweise an den Beitragsenden. Lediglich direkt den Quellen entnommene Textstellen werden zitiert.

Optisch ist der Band zurückhaltend gestaltet. Für Farbtupfer sorgen in erster Linie das oftmals von Privatpersonen stammende Bildmaterial sowie einige Grafiken. Die Orientierung innerhalb des Bandes ist visuell wie inhaltlich tendenziell schwierig. Der Verzicht auf den Themenkreisen vorangestellte Inhaltsverzeichnisse, farbliche Akzentuierungen der Handmarken sowie die Vielzahl der Beiträge zu den teilweise ineinander übergreifenden zwölf Themenkreisen schmälern Übersichtlichkeit und Leserfreundlichkeit.

Der zeitliche Schwerpunkt der Beiträge liegt auf dem 20. Jahrhundert. Dies ist als Folge der Quellenlage zu verstehen: In der Einleitung stellen die Autoren fest, dass es an «direkt den Ort betreffende Schriften» fehle. Das Projektteam hat sich in der Folge zu einem «Rückblick» auf eine Ära entschlossen, als «Niederscherli noch ein weitgehend eigenständig funktionierendes Dorf» gewesen sei. In Erzählcafés und Interviews zusammengetragene mündliche Überlieferungen und Erinnerungen sind die Hauptquellen des Bandes. Im Übrigen stützen sich mehrere Beiträge auf bestehende Publikationen,1 ohne dass neue Erkenntnisse hinzugekommen wären.

Die gut fünfzig Seiten zu Niederscherli im Wandel der Zeit führen so unterschiedliche Themen zusammen wie eine geologische Wanderung durch die Umgebung, die Besiedlungsgeschichte, die Beschreibung einzelner historischer Gebäude, die Herrschaftsund Gemeindegeschichte sowie Porträts von Freiweibel Durs Gysiger oder von Sophie Charlotte Zeerleder-von Haller, der einstigen Herrin des Gutes Farnern. Ein Gebäude, das durchaus zu einem Ausflug nach Niederscherli anregen könnte, ist der denkmalgeschützte Herrenstock. Der 1748 erbaute Wohnstock weist ein reiches Bildprogramm an der Fassade auf und hat eine bewegte Besitzer- und Nutzungsgeschichte. Im Beitrag zur Bern-Schwarzenburg-Bahn wird aufgezeigt, wie wichtig der seit 1907 verkehrende «Schwarzenburger» für Niederscherli war: Wie vielerorts hat die Bahnverbindung auch in Niederscherli zur wirtschaftlichen Entwicklung beigetragen und das Dorf näher an die Stadt gerückt. Einen markanten Anstieg der Bevölkerungszahlen brachte aber erst die zunehmende Bautätigkeit insbesondere ab den 1960-er Jahren – auch hier sind in Niederscherli dieselben Verhältnisse wie andernorts anzutreffen. Allerdings blieb der Ort vom Schicksal einer Schlafgemeinde verschont. Viele Vereine sind aktiv, und auf über sechzig Seiten wird das lokal seit mehreren Generationen ansässige Gewerbe vorgestellt, dessen frühste Vertreter Mühle, Gerbe, Sägerei und Schmiede waren. Im Themenkreis zur Entwicklung der Landwirtschaft sind insbesondere die von verschiedenen Landwirten erinnerten Beiträge von Interesse, da sie den Strukturwandel beispielhaft und lebensnah zu schildern wissen. Eine ganz besondere Persönlichkeit wird unter dem Themenkreis Kultur und Religion vorgestellt: Susanne Looser, die 1916 in Niederscherli geborene Doyenne des Flamenco. Unter ihrem Künstlernamen Susana wurde sie international bekannt.

Der Band tritt punkto inhaltlichem Programm und Zielsetzung als Ortsgeschichte auf, vermag jedoch die Anforderungen einer universitär geprägten Geschichtsschreibung, wie sie etwa Christian Lüthi für die Ortsgeschichtsschreibung empfiehlt, 2 nicht zu erfüllen: Sowohl der Umgang mit den Quellen wie auch die Einordnung und Interpretation der lokalen Befunde überzeugen nicht vollständig. Das Autorenteam bemühte sich darum, in Erzählcafés und Interviews ortsgeschichtlich bedeutsame Informationen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu gewinnen. Die Schilderungen bleiben jedoch allzu oft unkommentiert und unreflektiert stehen; es fehlen Interpretation wie auch die Einordnung in den grösseren Zusammenhang. Der Band erscheint dadurch als buntes Potpourri von – teilweise in Mundart abgedruckten – Erlebnisberichten, von Informationssammlungen rund um historische Begebenheiten und Zusammenfassungen von bereits anderweitig publizierten Erkenntnissen. Den uneinheitlichen Gesamteindruck fördert die Tatsache, dass die Beiträge in unterschiedlichsten Schreibstilen verfasst wurden. Hier hätte sich eine entschiedene redaktionelle Bearbeitung positiv ausgewirkt.

Nichtsdestotrotz darf das Werk als Erinnerungsbuch gelten, das zwar eher zum Schmökern als zum Lesen einlädt, aber dennoch viele interessante und unterhaltsame Einblicke in das einstige Dorfleben Niederscherlis gewährt.

1 So etwa Lerch, Christian: Beiträge zur Geschichte der Gemeinden Köniz und Oberbalm. Verlag der Lehrerkonferenz Köniz und Oberbalm, 1927. Oder Mosimann, Peter: Auf historischen Wegen – Köniz und Umgebung. Stämpfli Verlag, Bern 2009. Oder Hurni, Frieda: Von den Schulen in den Dörfferen. Die Entwicklung der bernischen Landschulen von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts: Dargestellt am Beispiel der Gemeinde Köniz. Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, Bd. 70, 1986.
2 Lüthi, Christian: Ortsgeschichtsschreibung im Kanton Bern. Bestandesaufnahme und Trends der letzten Jahrzehnte. In: BZGH 67, 1 (2005), 1 – 36, hier 15 f.

Zitierweise:
Sarah Pfister: Rezension zu: Gfeller, Kurt F.; Koshy, Verena; Frey-Aebersold, Ruth (Hrsg.): Niederscherli – Begegnungen mit einem Dorf. Köniz: Ackermanndruck AG 2012. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 1, 2014, S. 54-56.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 1, 2014, S. 54-56.

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