G. Audrey: La Suisse romande

Cover
Titel
La Suisse romande. Une histoire à nulle autre pareille


Autor(en)
Audrey, Georges
Erschienen
Pontarlier 2012: Editions du Belvédère
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sandro Guzzi-Heeb, Histoire Moderne, Lausanne

«Swissness sells»: Offenbar verkauft sich die Schweizer Geschichte im Moment gut. Von allen Seiten schiessen Geschichten der Eidgenossenschaft aus dem Boden, die auf eine breite Nachfrage stossen. Und die Medien mischen eifrig mit; das Schweizer Fernsehen liess ja kürzlich seine umstrittene historische Reihe Die Schweizer über die Bildschirme flimmern. Georges Andrey war schon vor ein paar Jahren auf dieser Welle geritten und hatte mit der Schweizer Geschichte für Dummies (deutsch: 2009) einen Erfolg gelandet. Ist nun seine neue Geschichte der Westschweiz eine Fortsetzung der ersten, vom Publikum geschätzten Folge?

Spätestens an diesem Punkt ist eine wichtige Bemerkung vorauszuschicken. Populäre Geschichtsbücher dieser Art haben durchaus eine wichtige Funktion, obwohl sich spitzfindige Berufshistoriker und -historikerinnen oft damit schwertun. Es ist grundsätzlich zu begrüssen, dass die Geschichte nicht im Elfenbeinturm eingeschlossen bleibt und dass sie breit in den Medien und in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Nun kommt es immer darauf an, was für eine Geschichte betrieben und popularisiert wird, zumal der Grat zwischen Populärwissenschaft und Populismus oft äusserst schmal ist.

In Georges Andreys aktuellem Fall ist das Resultat nicht ganz auf der Höhe der Erwartungen. Der Versuch, endlich eine zusammenhängende Geschichte der Westschweiz zu schreiben, die über die Grenzen der einzelnen Kantone hinausgeht, ist durchaus interessant; umso mehr, als in den allgemeinen Geschichten der Schweiz die französisch- und italienischsprachigen Gebiete immer etwas im Schatten der Deutschschweiz geblieben sind – um von den romanisch sprechenden Tälern gar nicht zu sprechen.

Das Buch ist leicht und verständlich geschrieben; interessante Zusatzinformationen sind oft in redaktionellen Fenstern untergebracht, die den Haupttext entlasten. Nützlich ist auch die Chronologie am Ende des Bandes. Die Bibliografie präsentiert zahlreiche Lektüren zur Vertiefung des Stoffs; bei näherem Hinsehen erweist sie sich jedoch als sehr selektiv. Doch der Versuch, diese Geschichte als eine neue Variante des schweizerischen Sonderfalls zu verkaufen – «une histoire à nulle autre pareille» – ist weder besonders innovativ noch überzeugend.

Worin besteht diese vermeintliche Originalität der «Romandie»? Ein wesentliches Element in Andreys Argumentation sind die zahlreichen Burgrechtsverträge («Combourgeoisies») zwischen Städten, die schon im Mittelalter eine Art Nationsbildung zwischen Sarine, Jura und Genfersee vorausahnen liessen. Wie in anderen Fällen tendiert der Autor dazu, die Schweizer Nation als Endziel der Geschichte zu betrachten und sie auf frühere Epochen zurückzuprojizieren; in dieser Perspektive erscheinen dann alle wesentlichen Entwicklungen als Vorstufen der Sonderfalls-Nation. Damit wird aber die Rolle der freiwilligen Verträge idealisiert, während die Bedeutung der Machtpolitik Berns, Freiburgs und auch des Oberwallis bei der Eroberung der heutigen Westschweizer Gebiete weitgehend ausgeklammert wird.

In einem späteren Kapitel glaubt Andrey, die Herausbildung einer Westschweizer Originalität darin zu erkennen, dass sich die Westschweiz im beginnenden 20. Jahrhundert klar als Teil der Schweiz profilierte und gleichzeitig ihre Eigenart bewahrte. Schöner Satz, aber: Für welche Schweizer Region gilt das nicht? Ist dies nicht auch für das Tessin, für die Innerschweiz oder für den Thurgau der Fall?

In Wirklichkeit betreibt Andrey viel Aufwand, um zu beweisen, dass eine «Suisse romande» überhaupt existiert, ohne jedoch wirklich zu überzeugen. Ein weiteres Argument: Es gibt, v.a. seit dem 19. Jahrhundert, zahlreiche Westschweizer Organisationen und Vereine («Associations romandes»). Also gibt es auch die «Romandie». Doch: Was sind die Gemeinsamkeiten zwischen dem katholischen, alpinen Wallis und dem reformierten, schon früh industrialisierten Neuenburg? Und was gehört genau zu dieser «Suisse romande»? Ist die Sprache der entscheidende historische und identitätsbildende Faktor? Faktisch identifiziert der Autor die «Romandie» weitgehend mit den fünf Kantonen Freiburg, Genf, Neuenburg, Waadt und Wallis, zu denen sich erst seit 1979 der Kanton Jura gesellt («La Suisse romande aux cinq cantons», S. 193 – 266). Demnach wären sowohl die Oberwalliser wie auch die Einwohner und Einwohnerinnen des Freiburger Sensebezirks «romands», während die französischsprachigen Distrikte des Kantons Bern in einem historiografischen Niemandsland verharren.

Schliesslich erschöpft sich die Beweisführung, dass die «Suisse romande» als historische Einheit überhaupt existiert, in eine rhetorische Übung: Die «Romandie» sei eben die Tochter Helvetiens, so die Synthese des Autors. «Die Tochter entspricht dem Bild der Mutter: eins und verschieden in jeder Hinsicht, oder fast.» (S. 389) Eine Schlussfolgerung, die uns nicht viel weiter bringt.

Ein weiteres Problem des Buchs besteht darin, dass Andrey sich oft in den politischdiplomatischen Details der verschiedenen kantonalen Geschichten verheddert und es damit verpasst, die langfristigen Kontinuitäten und die eigentlichen spezifischen Merkmale der untersuchten Regionen ins Licht zu rücken. Damit bleibt der Autor – mehr als in seinen früheren Werken – einem traditionellen Geschichtsbild verpflichtet, in dem Politik und Diplomatie die entscheidende Rolle spielen. So erfährt man leider sehr wenig über wirtschaftliche und soziale Entwicklungen der Westschweizer Gebiete, über die Andrey durchaus viel zu sagen hätte.

Um sein Buch ansprechend zu gestalten, versucht der Autor auf der anderen Seite, komplexe Entwicklungen an einzelnen Persönlichkeiten aufzuhängen. Meistens sind es selbstverständlich Männer, welche Macht und Ruhm auf sich vereinigt haben. Für die Helvetische Republik sind es z.B. F. C. de Laharpe und Henri Monod, für die Zeit der Entstehung des Bundesstaates (1848) in erster Linie Henri Dufour. Daraus ergibt sich aber meist ein einseitiges Bild der nationalen Geschichte, in dem einflussreiche Männer die Geschicke des Staates leiten. Die Bauern, die Handwerker, die Arbeiter sind weitgehend abwesend. Und die Frauen? Sie kommen sporadisch vor, aber v. a. als Anekdoten. Wie im Fall von Marie-Thérèse Rengger, der feurigen Anführerin der republikanischen Partei im Jura der 1790er-Jahre. Statt sich in die äusserst interessante Biografie dieser Frau zu vertiefen, bemüht Andrey den jurassischen Historiker Paul-Otto Bessire, nach dessen Schlussfolgerung die Pruntruterinnen sich nur deshalb als Patriotinnen erklärten, weil «die Revolution, mit ihren Prinzipien von Freiheit und Gleichheit es ihnen erlaubte, wie die Hofdamen Seidenkleider und Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen ». (S. 95) Süffig, vielleicht, aber schliesslich nicht wirklich auf dem neuesten Stand der Gender-Forschung.

In der Tat hat man das Gefühl, dass die Leichtigkeit des Stils oft dem Inhalt schadet. So werden in vielen Fällen grundlegende Veränderungen der (West-)Schweizer Geschichte durch Anekdoten erzählt, wobei deren tiefere Bedeutung im Dunkeln bleibt. Dies ist z.B. bei der Behandlung des Niedergangs der alten Eidgenossenschaft und der Errichtung der Helvetischen Republik der Fall. Und wieder einmal tut sich ein Schweizer Historiker schwer, die Schlüsselrolle Napoleons für die Erneuerung der Schweiz – und insbesondere der Westschweiz – kritisch zu würdigen. Geschichte für ein breites Publikum zu schreiben, ist und bleibt eine schwierige Kunst. Bei der Geschichte der Schweiz für Dummies war es Andrey gelungen, auch neue Ansätze und Ergebnisse verständlich zu präsentieren; beim hier besprochenen Band wird verstärkt auf veraltete Methoden und Ansätze zurückgegriffen, insbesondere auf die altbewährte politische und diplomatische Geschichte, ohne dass daraus eine überzeugende und wirklich spannende Erzählung resultiert.

Zitierweise:
Sandro Guzzi-Heeb: Rezension zu: Andrey, Georges: La Suisse romande. Une histoire à nulle autre pareille. Pontarlier: Editions du Belvédère 2012. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 1, 2014, S. 44-46.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 1, 2014, S. 44-46.

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