B. Studer: 1968 und die Formung des feministischen Subjekts

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Titel
1968 und die Formung des feministischen Subjekts.


Autor(en)
Studer, Brigitte
Reihe
Wiener Vorlesungen im Rathaus 153
Erschienen
Wien 2011: (0)
Anzahl Seiten
56 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Dominique Grisard, Zentrum Gender Studies, Universität Basel

Der hier besprochene Essay der Berner Historikerin Brigitte Studer basiert auf einer Vorlesung, die sie am 28. Mai 2010 im Wiener Rathaus auf Einladung der Kulturabteilung der Stadt Wien hielt. Er setzt mit einem Zitat der feministischen Historikerin Sally Alexander ein: «I learned who I was through the women’s liberation movement.» Dieses Zitat fasst Studers Erkenntnisinteresse vortrefflich zusammen, die Frage nach der Konstitution des feministischen Subjekts zwischen 1968er Bewegung und Neuer Frauenbewegung.

Studer benennt erstens die Einflüsse, welche die 1968er Bewegung und die Neue Frauenbewegung teilen. Dabei erkundet die Autorin feministische Aneignungen, aber auch Zuspitzungen der politischen Prinzipien und Praktiken linksradikaler Zusammenhänge der 1960er Jahre. Sie thematisiert aber auch die Notwendigkeit der Frauenbewegung, sich von den patriarchalen Mustern der 1968er abzugrenzen. Vor diesem Hintergrund stellt Studer zweitens die Frage, wie sich Frauen von den «fremdbestimmten» bürgerlichen Vergesellschaftungsprozessen, aber auch von den Vorstellungen und Erwartungen der Neuen Linken, die den Interessen von Frauen häufig entgegenliefen, zu lösen vermochten. In einem dritten Schritt fokussiert Studer, die analytischen Perspektiven und politischen Praktiken, die die von Frauen aufgrund ihrer geteilten Unterdrückungs- und Ausgrenzungserfahrung entwickelt wurden (S. 16). Studer beschreibt einen komplex verflochtenen Konstitutionsprozess, der es gewissen Personen ermöglichte, sich als autonome weibliche Subjekte in den dominanten Geschlechterdiskurs einzubringen und diesen anzufechten.

Wie Brigitte Studer anhand von Aussagen damaliger Feministinnen belegt, war es für viele Frauen nicht selbstverständlich, eigene Vorstellungen zu entwickeln und diese auch öffentlich kundzutun (S. 19). In diesem Zusammenhang hebt Studer die Bedeutung einer neuen «Technik des Selbst», der Selbsterfahrungsgruppe, hervor (S. 41). Diese diente dem Austausch – Frauen lernten, ihre Erfahrungen öffentlich, wenn auch in einem geschützten Rahmen kundzutun –, der gemeinsamen Analyse dieser Erfahrungen und schliesslich der Entwicklung politischer Ziele. Die ersten Selbsterfahrungsgruppen wurden in den USA gegründet, doch schon bald schossen weitere weltweit aus dem Boden. Für viele Frauen boten sie den Raum, sich ein erstes Mal als agierendes Subjekt zu erleben. Gleichzeitig förderten sie das Sprechen und Handeln im Kollektiv. Die Bedeutung dieser meist informell organisierten, im Privaten stattfindenden Selbsterfahrungsgruppen ist nach Studer nicht zu unterschätzen. Sie waren entscheidend für die Konsolidierung und das Wachstum der Bewegung, sowohl für die Konstitution eines feministischen «Ich» als auch für die eines kollektiven «Wir» (S. 20).

Es ist Studers Anliegen, den regen Austausch, die beachtliche Vernetzung und gegenseitige Beeinflussung der Studierenden- und der Frauenbewegung – via Standardtexte, Bücher, Zeitschriften und Personen – hervorzuheben, so dass sich in den frühen 1970er Jahren, an verschiedenen geographischen Orten quasi gleichzeitig ein feministisches Subjekt formierte. So ist ihre Untersuchung notgedrungen transnational. Wenn sich Studer dennoch auf den westeuropäisch und US-amerikanischen Raum konzentriert, und hier wiederum auf Länder mit parlamentarisch-demokratischen Systemen wie Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich und die Schweiz, dann mag dies dem Umstand geschuldet sein, dass genau über diese Landesgrenzen hinweg besonders intensiv politische Ideen und Praktiken ausgetauscht wurden. Laut Studer zeigt sich daran die transnationale Orientierung der 1968er- und der neuen Frauenbewegung (S. 20).

Wie Studer selbst anmerkt, bedingt ihre Fragestellung eine gewisse Offenheit, biographisch-individuelle, strukturelle und symbolische Aspekte in ihre Analyse einzubeziehen. Dementsprechend liegt dem Essay ein überaus heterogener Quellenkorpus zugrunde, darunter zeitgenössische Dokumente, Autobiographien, Erinnerungsschriften, Theoretisierungen und Kritiken des Feminismus und der neuen Frauenbewegungen (S. 20). Die Autorin erwähnt auch den Beizug von visuellem Material.

Studers Essay geht weit über eine einfache Beschreibung der Studierendenund der Frauenbewegungen hinaus, dies einerseits, indem sie das werdende feministische Subjekt als zentrale Agentin in der Studierendenbewegung, der Civil Rights-Bewegung und in Guerilla-Gruppierungen verortet, andererseits indem sie plausibel darlegt, inwiefern das Selbstverhältnis als Feministin auch ein Effekt dieser sozialen Bewegungen zu betrachten ist. Studer schliesst daraus: Die Konstitution des feministischen Subjekts, das sich von dominanten (Geschlechter-) Normen zu befreien und seine gesellschaftliche und individuelle Wirkkraft erkennen lernte (S. 17), kann nur verstanden werden, wenn die individuell-biographische Ebene von Bewegung und Mobilisierung in die Analyse miteinbezogen wird.

Studers Erkenntnis über die Konstitution des bewegten Selbst verweist auf zentrale blinde Flecken herkömmlicher Sozialbewegungsforschung. Wie es zu einem kollektiven «Wir» komme, kritisiert die Autorin, würde meist unbefriedigend rekonstruiert. Auch moniert sie, dass psychologische Faktoren nicht systematisch in die Analyse der Konstitution des Eigenen und des Kollektiven einbezogen würden. Darüber hinaus werde der Frage, wie sich die individuellbiographische Ebene mit der kollektiv-politischen Ebene verbindet, kaum Beachtung geschenkt (S. 19). Das Verhältnis von Subjektivierung und kollektiver Mobilisierung bleibe deshalb unterbelichtet (S. 20). Studer übt jedoch nicht nur Kritik an bisherigen Forschungsperspektiven (S. 18). Vielmehr leistet sie eine methodologisch- heoretisch fundierte Perspektivenverschiebung und -erweiterung, indem sie den Fokus auf die zahlreichen Verbindungen des sogenannt Privaten, Irrationalen und Unsichtbaren und des Öffentlichen, Rationalen und Offenen legt. Für die Analyse dieser Verschränkungen greift Studer auf die Konzepte des Sozialanthropologen James C. Scott zurück. Seine Unterscheidung in «public transcripts» und «hidden transcripts» (S. 17) erlaubt es, die vielschichtige Einbindung von Frauen in hegemonialen und gegen-hegemoniale Machtstrukturen zu thematisieren, und gleichzeitig auf die Vergesellschaftungsprozesse zu fokussieren, die aus dem Widerstand hervorgingen und wiederum in Widerstand mündeten. Doch Studer benennt auch die Grenzen der Analyseinstrumente James Scotts. Für viele Frauen war ein bewusst widerständiges Agieren lange undenkbar, derart ‘natürlich’ gegeben und somit unveränderbar erschien ihnen die Geschlechterasymmetrie.

Studers Kritik am Geschlechterbias der Bewegungsforschung hätte noch gründlicher ausfallen können, wenn sie den Gegensatz zwischen «rational» und «emotional» (S. 19) explizit in Frage gestellt hätte. Ist dieser Gegensatz doch selbst ein vergeschlechtlichtes Konstrukt, das mit verantwortlich ist dafür, dass individuell-psychologische Aspekte von Bewegungen noch weitgehend unerforscht sind, und auch dafür, dass die emotionale Kraft von Protestbewegungen häufig als irrational und feminin abgewertet wird. Die Sozialwissenschaftlerin Deborah Gould betont in ihrem kürzlich erschienen Buch «Moving Politics», dass Emotionen zwar einen zentralen Kohäsionsfaktor in der Konstitution eines kollektiven «Wir» darstellen, dass diese jedoch nicht zwingend irrational im Sinne von unbewusst, unlogisch und unfundiert seien, oder gar – wie ihnen häufig unterstellt werde – unkontrolliert, sinnlos und verrückt.

Insgesamt legt Studer eine erhellende Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der 1968er und der Frauenbewegung vor. Besonders aufschlussreich sind ihre Ausführungen zur Selbsterfahrungsgruppe, einer Technik des Selbst, die für Frauen in unterschiedlichsten Kontexten anschlussfähig war und dominante Verständnisse von Politik und Privatem aufzubrechen vermochte. Eine gründliche Untersuchung dieser Technik und ihrer Bedeutung für die Frauenbewegung stellt laut Studer ein Forschungsdesiderat dar (S. 48), zumal ähnliche Techniken in der aktuellen Occupy-Bewegung wieder aufzuleben scheinen.

Zitierweise:
Dominique Grisard: Rezension zu: Brigitte Studer: 1968 und die Formung des feministischen Subjekts. Wien, Picus, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.328-331.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.328-331.

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