G. Stourzh: Der Umfang der österreichischen Geschichte

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Titel
Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010


Autor(en)
Stourzh, Gerald
Reihe
Studien zu Politik und Verwaltung 99
Erschienen
Wien 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Carlo Moos, Historisches Seminar, Abt. Neuzeit, Universität Zürich

Der Band exemplifiziert die Komplexität der österreichischen Geschichte anhand von vierzehn ausgewählten Studien aus den zwei letzten Jahrzehnten, die alle in der einen oder anderen Weise deren «Umfang» (so der Titel des ersten Aufsatzes) zu ergründen versuchen und in ihrer Gesamtheit einen faszinierenden Einblick in ein schwieriges Themenfeld gewähren. Der Autor, Emeritus der Universität Wien, ist wie wenige berufen, sich mit dem Facettenreichtum der untergegangenen Habsburgermonarchie zu befassen, der sich in mancher Hinsicht im österreichischen Nachfolgestaat fortsetzte.

Die präsentierten Aufsätze bewegen sich vornehmlich in der Struktur- und Verfassungsgeschichte der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und 1918. Eher für sich stehen die Studien über den «Grenzgänger» Jean Rudolf von Salis, der kurz nach Ende des 2. Weltkriegs in Wien als Gastprofessor wirkte und dem der Autor mit deutlicher Sympathie gegenübersteht, sowie über den zu früh verstorbenen Angelo Ara, der sich an verschiedenen italienischen Universitäten und Zuletzt in Pavia engagiert mit österreichischer Geschichte und insbesondere mit dem Trentino, Istrien und Triest (der Stadt seiner Vorfahren) befasste. Eine besondere Rolle spielen auch die beiden letzten Texte des Buches. Während der kürzere vom markant auf Johann Gottlieb Fichte zurückgeführten Postulat der «Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt» handelt (eine Formel, die bis in die Weimarer Republik oft eingesetzt wurde und seither weitgehend vergessen ist), sticht der umfangreiche englisch geschriebene und als einziger bisher ungedruckte Aufsatz zur Ethnisierung der Politik in der ausgehenden Habsburgermonarchie um so mehr heraus, als er dieses Grundproblem der späten Monarchie mit stupender Klarheit nicht zuletzt vor der Folie einer kritischen Auseinandersetzung mit Werken dreier amerikanischer Historiker (Pieter Judson, Jeremy King, Tara Zahra) analysiert. Im Gegensatz zu den drei Kollegen, die als Analysekategorie der ausgehenden Monarchie statt ethnischer Zielsetzungen die nationale Indifferenz präferieren, hält der Autor mit einer Reihe von Beispielen und schwergewichtig unter Verweis auf den mährischen Ausgleich von 1905/06 daran fest, dass es gerade die Ethnisierung der Politik mit dem Ziel nationaler Autonomie war, die der Monarchie ihr Ende bereitete. Eines der Beispiele ist die eindrückliche Karriere von Stourzh’ Urgrossvater als Justizbeamter in Mähren, dem im vorliegenden Band unter dem Stifter’schen Titel «Aus der Mappe meines Urgrossvaters» ein eigener Erinnerungstext gewidmet ist.

Die ersten zehn Aufsätze des Bandes handeln dagegen zum grösseren Teil allgemein von der Komplexität Altösterreichs und dessen schwieriger Verfassungswirklichkeit, zum kleineren führen sie diese Problematik in die erste und zweite Republik fort. Im Rahmen einer Rezension kann nicht detailliert auf alle Inhalte eingegangen, sondern sollen lediglich einige Punkte herausgegriffen werden. So scheint die Habsburgermonarchie in ihrer ganzen Paradoxie beispielsweise in der gelungenen Formel vom zentralistisch-autonomistischen Dualismus auf (S. 61), während die Revolution vom Herbst 1918 der Länderautonomie mit den Voten von Karl Renner und Jodok Fink in der Provisorischen Nationalversammlung einen «ganz grossen posthumen Sieg» verschaffte (S. 64). Von Bedeutung ist auch die Kontinuität in der Frage der Grundrechte von 1848 über 1867 letztlich bis heute, weil nach den beiden Weltkriegen in Österreich kein neuer Grundrechtskatalog zustande kam (S. 83), dagegen eine – wie der Aufsatz zum Verfassungsbruch im Königreich Böhmen zeigt – erstaunliche Koda in den Verfassungskrisen von 1913 und 1933, als in Situationen konstitutioneller Funktionsunfähigkeit seitens der Staatsgewalt zu «verfassungswidrigen, mit Notzuständen gerechtfertigten Normsetzungen» gegriffen wurde (S. 155). Gleicherweise interessant sind die Ausführungen zur nach dem «Ausgleich» erlassenen Dezemberverfassung von 1867, die in Wahrheit ein «Bündel» von Gesetzen (S. 97) und ein komplexes verfassungsrechtliches Konstrukt war, das dem seinerseits komplizierten staatlichen Konstrukt auf dem Weg zum Verfassungsstaat Chancen eröffnete, die nur bedingt genutzt wurden, weil die konstitutionelle Monarchie 1848–1918 in Österreich nicht nur «unter dem Schatten eines zeitweise offenen Absolutismus », sondern auch unter dem Primat ungelöster Nationalitätenkonflikte stand (S. 102). Interesse verdient u.a. auch die in der Studie zur Aussenpolitik gegenüber der NS-Bedrohung gestellte Frage, ob nach Hitlers Machtergreifung und insbesondere 1938 eine «Verschweizerung» (S. 186), d.h. eine Neutralisierung, Österreichs möglich gewesen wäre, was schon deshalb nicht der Fall sein konnte, weil eine Garantie durch das Deutsche Reich unerlässlich gewesen wäre, die aus naheliegenden Gründen fehlte. Von da erhält die 1938 von Giuseppe Motta explizit angestrebte (und erhaltene) Anerkennung der integralen Neutralität der Schweiz seitens NS-Deutschlands und Mussolini-Italiens eine grössere Relevanz, als man im Rückblick auf ihre Handhabung während des 2. Weltkriegs anzunehmen versucht ist.

Gerald Stourzh ist im besten Sinne des Wortes ein Altmeister seines Fachs, wie sich auf jeder Seite dieses neuesten Buches zeigt. Sein Prozedere ist stets systematisch, indem er immer klar sagt, was er (und wie) zu tun gedenkt und dadurch nachvollziehbar macht, dass er seine Argumente jeweils zählt. Darin wie in der sprachlichen Form ist er äusserst präzis. Ein schönes Beispiel ist, wie er sogar zu Musils weltberühmtem «Kakanien» noch Präzisierungen anzubringen versteht (vgl. S. 119). – Wer sich dem hochkomplexen Thema des «Umfangs» der österreichischen Geschichte anvertrauen will, ist bei diesem Autor aufs Beste aufgehoben.

Zitierweise:
Carlo Moos: Rezension zu: Gerald Stourzh: Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010. Wien/Köln/Graz, Böhlau, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 529-531

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 529-531

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