L. Märki: Mit Vollgas ins 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Mit Vollgas ins 20. Jahrhundert. Eine Geschichte über die Auto-Mobilmachung im Schweizer Mittelland


Herausgeber
Märki, Lukas
Erschienen
Büren 2010: Vereinigung für Heimatpflege Büren
Anzahl Seiten
159 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Marcel Müller, Boswil

Manch (lokal-)historische Gesellschaft berichtet in ihrer Jahresgabe noch immer von Vögten, Pflugscharen und schmucken Brunnentrögen. Bei den jüngsten Hornerblättern der gemäss Vereins-Homepage rund 500 Mitglieder starken Vereinigung für Heimatpflege Büren ist indes von derlei Behäbigkeit nichts zu spüren. Das vom Grafiker Lukas Märki konzipierte und gestaltete Werk führt vielmehr bis in die jüngste Gegenwart, verfolgt einen interdisziplinären Zugang und ist alles andere als eine schwarzweiss bebilderte Bleiwüste, welche man ungelesen bei den Vorjahresbänden einreiht.

Den vier thematischen Sektionen gehen zwei Vorworte voraus. Das erste stammt von Benedikt Loderer, dem Gründer der Architektur- und Designzeitschrift Hochparterre, und setzt den Grundtenor des Bandes: Über die Ambivalenzen des Fortschritts lässt sich sprechen, ohne werten zu müssen. Wenn das Werk eine These vertritt, dann vielleicht Loderers Bezeichnung von Biel als «der Autohauptstadt der Schweiz». Insofern eröffnet Märki in seinem Vorwort die Argumentationskette. Zwar war die helvetische Autoindustrie in ihren Anfängen im In- und Ausland erfolgreich, 1934 musste jedoch die Firma Martini als letztes eigenständiges Automobilwerk schliessen. Zur selben Zeit – so Märki – sei Biel mit seinen Fahrradfabriken COSMOS und ZESAR als Metropole der Fahrradindustrie bezeichnet worden. Ausschlaggebend für die Bieler Renaissance waren indes jene zwei Millionen Franken, mit denen Biel 1935 auf eigene Kosten ein Fabrikgebäude nach den Plänen beziehungsweise Wünschen der General Motors baute.

Das Engagement von GM inmitten der Weltwirtschaftskrise verdankte sich auch der zunehmenden «Auto-Mobilmachung». Diese wiederum wurde nur möglich, indem Mineralölkonzerne bis an Orte wie Büren vorstiessen. Der durchgehend reich bebilderte Band dokumentiert diese Entwicklung anhand von diversen, einander kontrastierend gegenübergestellten Ortsansichten. Für Wirtsleute und (Fahrrad-)Mechaniker avancierte die Zapfsäule schnell zum willkommenen Nebenerwerb; eine knapp gehaltene Schweizer Mineralöl-Chronologie gibt einen Überblick über den Markteintritt der verschiedenen Importeure. Der ebenfalls notwendige Aufbau einer Reparatur- und Bezugsinfrastruktur wird mit den Firmengeschichten dreier Garagenbetriebe aus Büren, Dotzigen und Biel exemplarisch dargestellt.

Der folgende Themenblock nimmt sich der lokalen Automobil-Pioniere und der Autoproduktion an. Die erst freundschaftlich und schliesslich auch geschäftlich verbundenen Bieler Familien Baehni und Henriod konstruierten bereits 1893 den ersten Henriod-Baehni. Die erst noch von der Spiralfeder-Fabrik Baehni subventionierte Liebhaberei führte schliesslich bis zur millionenschweren Société Automobiles Henriod SA. Wegen Bruderzwistigkeiten kam es allerdings bald zur Firmenteilung. Die Ansiedlung des Bieler Montagewerks der General Motors Suisse SA verdankte sich schliesslich dem geschickten Standortmarketing des Bieler Sozialdemokraten und Stadtpräsidenten Dr. Guido Müller. 1936 rollte der erste in Biel montierte Wagen vom damals kurze 170 Meter messenden Fliessband. 1975 verliess der letzte von rund 330 000 Wagen die später unter Denkmalschutz gestellte Montagehalle. Dazwischen liegen wechselreiche und im vorliegenden Band spannend erzählte Jahrzehnte. Auf lokales Automobil-Know how konnte GM zu Beginn nicht zurückgreifen, wohl aber auf eine grosse Anzahl arbeitsuchender und gelernter Arbeiter aus der Uhrenindustrie. Die Fabrik beschäftigte zwar vergleichsweise wenige Arbeiter, dafür profitierte das beachtliche Lieferantennetz umso mehr. Dank Burgdorfer Lötzinn, Melchnauer Teppichen, Luganeser Felgen oder Waadtländer Autobatterien waren die Fahrzeuge zum überwiegenden Teil «Made in Switzerland». Immerhin die Automobilabteilung des einstigen Technikums, der ebenfalls ein kurzes Kapitel gewidmet ist, trug den automobilen Spirit of Biel-Bienne in Form eines innovativen Solarmobils bis ins 21. Jahrhundert.

Im dritten Teil begegnet man nochmals GM, diesmal unter dem Aspekt der Architektur. In vier Foto-Essays mit Entwurfskizzen und Grundrissen werden neben den Bieler Montagehallen drei weitere Baudenkmäler vorgestellt: die Grand Garage du Jura mit ihrem elegant-geschwungenen Flachdachbau, die Autobahnraststätte Deitingen-Süd mit ihren zwei markanten Betonschalen sowie das Bieler Touringhaus. Letzteres, 1930 an einer Ausfall¬strasse gebaut, war bereits multifunktional ausgelegt worden und vereinte unter demselben Dach eine Werkstatt, einen Coiffeur-Salon und ein Restaurant mit Tanzterrasse. Das Buch beschliessen – als Sektion «Traum und Trauma» – eine vom Architekten Markus Rebmann zusammengestellte, städtebauliche Bilddokumentation zur Region Seeland mit der N5/A5 sowie die in gewohnter Eloquenz daherkommende Rede des damaligen Ver-kehrsministers Moritz Leuenberger zur Eröffnung der A5-Teilstrecke Biel–Solothurn.

Automobiltechnisch gesehen müsste man das Werk als Hybriden bezeichnen, denn es ist Geschichtsbuch, Baudokumentation und Bildband in einem. Die Beiträge verfassten unter anderen ein ehemaliger GM-Mitarbeiter, die Gattin eines Garagengründers, ein Enkel des Automobil-Pioniers Jean-Félix Baehni, zwei Architekten und zwei Petromobilia-Sammler. Auf den Beizug von Fachhistorikern wurde dabei ebenso verzichtet wie auf das Zitieren von Sekundärliteratur und die Verwendung von Archivalien aus Staats- oder Kommunalarchiven. Die von aufschlussreichen Legenden begleiteten Bildquellen stammen somit ausschliesslich aus dem Archiv der Vereinigung für Heimatpflege Büren und den Privatarchiven der Beiträger. Inhaltlich muss ein solches Vorhaben Stückwerk bleiben, aber es spannt einen thematisch konsistenten Bogen, den – zumindest nach Kenntnis des Rezensenten – bislang kaum eine akademische Monographie gemacht hat. Das Automobil umfasst neben Technik, Umwelt und Innovation eben auch Themen wie Logistik, Architektur, Mentalität, Marketing oder die diversen Gewerbezweige. Lokalgeschichten, die derart virtuos und ansprechend gestaltet über den eigenen Tellerrand in die Region und gar die Welt hinausblicken, könnten so manchem historischen Verein als Frischzellenkur dienen.

Zitierweise:
Marcel Müller: Rezension zu: Lukas Märki (Hg.): Mit Vollgas ins 20. Jahrhundert. Eine Geschichte über die Auto-Mobilmachung im Schweizer Mittelland. Büren, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 1, 2012, S. 173-174

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 1, 2012, S. 173-174

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