D. Freisler-Mühlemann: Verdingkinder

Cover
Titel
Verdingkinder – ein Leben auf der Suche nach Normalität.


Autor(en)
Freisler-Mühlemann, Daniela
Erschienen
Bern 2011: hep Verlag ag
Anzahl Seiten
202 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kevin Heiniger

Seit rund 20 Jahren beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft mit dem Verdingkinderwesen als spezifisch schweizerischem Phänomen. Eine breitere Auseinandersetzung mit dem Thema fand im vergangenen Jahrzehnt u.a. im Rahmen eines SNF-Projekts statt. Die dabei entstandene Datenbank umfasst rund 300 Oral-History-Interviews mit ehemaligen Verdingkindern; ausserdem gibt die Publikation von Marco Leuenberger und Loretta Seglias mit einer Auswahl von 40 exemplarischen Schicksalen einen Überblick über das Themengebiet. Die aus dieser Datensammlung hervorgegangene Wanderausstellung «Verdingkinder reden / Enfances volées» sowie der im vergangenen Jahr vorgestellte Kinofilm «Der Verdingbub» machten eine breitere Öffentlichkeit auf diese jahrzehntelang unbeachtet gebliebenen Missstände im schweizerischen Fürsorgewesen aufmerksam. Weitere Studien sind in Arbeit, um die noch immer zahlreichen Forschungslücken zu schliessen. Mit Daniela Freisler-Mühlemann nimmt sich nun eine Erziehungswissenschaftlerin des Themas an und ermöglicht damit einen anderen Blick auf das Schicksal Betroffener.

Freisler-Mühlemann geht von der These aus, dass die Erfahrung von «Verdingung» ein kritisches Lebensereignis darstellt, das sich nachhaltig auf die individuelle Biografiegestaltung auswirkt, und versucht dies anhand der persönlichen Entwicklung ehemaliger Verdingkinder vergleichend darzustellen. Als Quellen dienen ihr Oral-History-Interviews mit drei Männern und zwei Frauen, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend als Verdingkinder fremdplatziert und als solche zu oftmals harter Arbeit hinzugezogen worden sind. Zur Definition kritischer Lebensereignisse werden Konzepte aus den Bereichen der Psychologie sowie der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung zu Hilfe genommen: Das transaktionale Stress- und Copingkonzept nach Lazarus/Folkmann ist laut Autorin für die vorliegende Studie deshalb bedeutsam, weil es die Verarbeitung kritischer Lebensereignisse nicht von dispositionellen Faktoren abhängig macht, sondern diese als einen wechselseitigen Prozess zwischen personen- und situationsbezogenen Merkmalen, emotionalen Zuständen und Bewältigungsversuchen sieht. Die erfolgreiche Bewältigung hängt massgeblich von Ressourcen personaler (Resilienz, Religiosität, Hoffnung und Zuversicht, Humor, Selbstwirksamkeit) und sozialer Art (soziales Netzwerk) ab. Die erziehungswissenschaftliche Biografieforschung nach Schulze versteht die Biografie als sich selbst organisierenden Lern- und Bildungsprozess; sie verweist sowohl auf die «lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung» als auch auf die gegenwärtige Haltung des biografischen Akteurs gegenüber seiner eigenen Vergangenheit. Dieses Selbst- und Weltbild, dieses autobiografische Konstrukt der Interviewten ist für die Autorin von Interesse, wenn sie eine Typisierung der jeweiligen biografischen Werdegänge vornimmt. Das Analyseraster von Rosenthal spricht in diesem Zusammenhang von «totaler Wandlung», wenn der Mensch seine Vergangenheit reinterpretiert und eine neue Plausibilitätsstruktur entwirft, von «partieller Wandlung», wenn dem Menschen eine vollständige Identifizierung mit der Gegenwart fehlt und die Lösung von seiner Vergangenheit nicht stattgefunden hat, und schliesslich von «latenter Wandlung» bei Menschen, die keine bewusste Veränderung ihrer Selbstwahrnehmung vorgenommen haben und diese folglich nicht thematisieren können.

An einer Biografie führt die Autorin exemplarisch die verschiedenen Analyseschritte vor: Die sequenzielle Analyse dient dabei der Untersuchung der biografischen Eckdaten aus entwicklungspsychologischer Perspektive (Herr Müller lebt während dreier Jahre bei seinem Onkel als Verdingkind, was sich u.a. aufgrund wiederholter Entwurzelung weiter destabilisierend auf seine Identitätsent wicklung ausgewirkt haben mag), während die sequenzielle Text- und thematische Feldanalyse zum Ziel hat, eine Regel für die Genese der zum Zeitpunkt des Interviews präsentierten biografischen Erzählung herauszuarbeiten (Herr Müller schildert unzumutbare Zustände in der Pflegefamilie; seine Selbstpositionierung als Opfer seines sozialen Umfeldes wird dadurch verstärkt). Die aus den ersten beiden Analyseschritten resultierenden Hypothesen werden in der sequenziellen Fein analyse mittels objektiver Hermeneutik überprüft und erweitert (Herrn Müller wurde immer wieder gesagt, dass er «nur ein Verdingkind» sei. Diese gesellschaftliche Zuschreibung hat sein Handeln insofern geprägt, als dieses die tiefen gesellschaftlichen Erwartungen reproduzierte, und er sich von der Norm abweichend verhielt). Die Rekonstruktion der analysierten Fallgeschichte und deren Kontrastierung mit den objektiven biografischen Daten bilden den Abschluss der Auswertung, bevor die oben erwähnte Typisierung der Lebensgeschichte stattfindet (Herr Müller durch lief eine partielle Wandlung, indem er sich später sozial integrierte; die traumatischen Erfahrungen verhinderten bisher eine gänzliche Lösung von seiner Vergangenheit). Die Autorin führt in der Folge an vier weiteren Schicksalen eine auf die wesent lichen Punkte reduzierte Analyse durch, die sich auf eine Kontrastierung von latentem Sinn und subjektiv-intentionaler Repräsentanz konzentriert.

Die Studie von Freisler-Mühlemann erprobt mit diesem theoretischen Instrumentarium eine neue Herangehensweise im Umgang mit mündlich überlieferten Zeugnissen ehemaliger Verdingkinder. Es gelingt ihr dabei, die sinngebende Struktur der Lebenserinnerungen offenzulegen, den wissenschaftlichen Blick auf die individuellen Bewältigungsstrategien der Betroffenen sowie die damit verbundenen Lernprozesse zu richten. Inwiefern sich sowohl Methode als auch Forschungsergebnisse von den Geschichtswissenschaften adaptieren lassen, wird sich zeigen müssen. Jedenfalls trägt der respektvolle Umgang der Autorin mit den anvertrauten Lebensgeschichten nicht zuletzt dazu bei, dass die tragischen Schicksale dieser Menschen nicht vergessen werden.

Zitierweise:
Kevin Heiniger: Rezension zu: Daniela Freisler-Mühlemann: Verdingkinder – ein Leben auf der Suche nach Normalität. Bern, hep verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 1, 2012, S. 182-184

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 1, 2012, S. 182-184

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