Kommission Ortsgeschichte (Hrsg.): Münsingen. Geschichte und Geschichten

Cover
Titel
Münsingen. Geschichte und Geschichten.


Herausgeber
Kommission Ortsgeschichte
Erschienen
Münsingen 2010: Fischer Print AG
Anzahl Seiten
495 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andrea Schüpbach

Der «Münsingen-Schotter» ist Geologen ein Begriff, Archäologen kennen die «Fibeln vom Typ Münsingen» und Historiker verbinden mit Münsingen vor allem die für die politische Geschichte des Kantons wegweisenden Volksversammlungen von 1831 und 1850. Ein Team von rund 50 grösstenteils ehrenamtlichen Mitarbeitern unter der Leitung von Albert Kündig hat während fünf Jahren auch die weniger bekannten Aspekte der Münsinger Geschichte erforscht und präsentiert seine Resultate nun in einer fast 500 Seiten starken Ortsgeschichte.

Der Band ist in die fünf Teile Siedlungsraum und Frühgeschichte, Die Menschen und ihre Gesellschaft, Religion, Bildung und Kultur, Herrschaft und Gemeinde sowie Wirtschaft und Infrastruktur gegliedert, denen jeweils ein Inhaltsverzeichnis, ein ganzseitiges Bild und eine zusammenfassende Einführung vorangestellt sind. Jeder Teil umfasst vier Aufsätze. Ein ausführlicher Anhang rundet das Werk ab.

Das Buch überzeugt optisch: Jeder Teil ist in einer anderen Farbe gestaltet, die für Verweise, Kästen, Tabellen und Handmarke verwendet wurde. Die Tabellen und Grafiken sind sehr gut lesbar, ohne überaus viel Platz zu beanspruchen. Die gelungene Bildauswahl verrät, dass mit grossem Aufwand nach Material mit Ortsbezug gesucht wurde. Dabei konnten die Verfasser u.a. auf die reiche Sammlung des Museums Schloss Münsingen zurückgreifen.

Die herausgebende Kommission hat den zeitlichen Schwerpunkt auf das 19. Und 20. Jahrhundert gelegt. Für die Erarbeitung der Geschichte des 19. Jahrhunderts stellte sich das Problem, dass beim Brand des Schulhauses 1901 ein grosser Teil des Gemeindearchivs zerstört worden war. Als Geschichtsquellen des 20. Jahrhunderts werteten die Autoren auch Gespräche aus, die sie mit Zeitzeugen geführt hatten.

Im Teil über die Ur- und Frühgeschichte erfährt der Leser, dass es sich beim «Münsingen-Schotter» um Ablagerungen des Aaregletschers während der letzten Vergletscherung handelt. Von einer ersten menschlichen Besiedlung zeugt das 1906 ausgegrabene latènezeitliche Flachgräberfeld in Münsingen-Rain mit über 220 Bestattungen und rund 1200 Beigaben. Die dort gefundenen Gewandnadeln wurden für einen bestimmten Fibelntyp namensgebend. Chronologisch geht es dann im dritten und vierten Teil mit der Kirchen- und Herrschaftsgeschichte weiter.

Die grosse thematische Klammer des Buchs bildet jedoch die Entwicklung Münsingens vom Bauerndorf zur Agglomerationsgemeinde vornehmlich im 20. Jahrhundert. Dabei unterschied sich Münsingen nicht wesentlich von anderen stadtnahen Gemeinden: Die Bevölkerungszahl stieg an und die Infrastrukturen (Eisenbahn und Strassen, Brücken, Wasser-, Strom- und Telefonleitungen, Läden, Spital, Altersheim, Schulen, Post, Kreditanstalt, Schwimmbad, Abwasserreinigungsanlage etc.) wurden (aus)gebaut. Das einst von der Landwirtschaft geprägte Dorf, das mit der Landwirtschafts- und Haushaltungsschule Schwand sogar über ein in den 1920er-Jahren international führendes Ausbildungszentrum verfügte, verstädterte.

Der Anschluss an die Bahnlinie Bern – Thun (1859) löste in Münsingen noch keinen Entwicklungsschub aus. Den Auftakt zu Münsingens Wachstum machte erst die Eröffnung der «Irrenanstalt» auf dem Areal des Schlossguts durch den Kanton Bern 1895. Damit nahm nicht nur die Bevölkerungszahl sprunghaft zu, sondern auch das Angebot an Arbeitsplätzen und die – nicht zuletzt durch ein neues Baurecht bzw. -reglement geförderte – Bautätigkeit. Dank der Ansiedlung verschiedener Unternehmen blieb Münsingen das Schicksal erspart, wie so manches einstige Bauerndorf zu einer reinen «Schlafgemeinde » (S. 416) zu werden. Während Betriebe wie die «Tubaki» (Tabakfabrik) oder die Tuchfabrik Schüpbach heute nicht mehr existieren, produzieren u.a. der 1885 von Ulrich Schärer als Schlosserei gegründete Möbelhersteller USM und die 1919 eröffnete mechanische Werkstatt Friedrich Bieri – bekannt unter dem Namen Biral – weiterhin in Münsingen.

Die Kritik, es fehle vielen Ortsgeschichten an Beiträgen über die Politik, 1hat man sich in Münsingen zu Herzen genommen: Zwei ausführliche Kapitel erzählen die politische Geschichte der Gemeinde. 1831 fand die Volksversammlung der Liberalen in Münsingen statt – obwohl Münsingen im Vorfeld der Petitionen nicht sehr liberal eingestellt war – und 1850 hielten hier die aufstrebenden Konservativen und die in Bedrängnis geratenen Radikalen gleichzeitig und nicht weit voneinander entfernt ihre Volksversammlungen ab. Im 20. Jahrhundert wurde die Parteienlandschaft vielfältiger: Neben der SP, BGB (später SVP) und FDP waren seit 1926 auch die Unabhängigen (später Freie Wähler) und seit 1969 die EVP im Gemeinderat vertreten. Das Projekt zur Schaffung eines Grossen Gemeinderats scheiterte dreimal, bevor es 2001 schliesslich angenommen wurde.

Ein Kapitel ist der Mediengeschichte gewidmet – ein Thema, das sich nicht in jeder Ortsgeschichte findet, im Fall von Münsingen, wo von 1889 bis 1978 die «Emmentaler Nachrichten» gedruckt wurden, aber sehr wohl seine Berechtigung hat. Weitere Schwerpunkte setzen die Geschichte des Gesundheits- und des Schulwesens. Johann Lory, der Vater des Loryspital-Stifters, führte ab 1840 in Münsingen eine private Nervenklinik und rief 1867 zur Gründung eines Sekundarschulvereins auf. Pionierarbeit im Schulwesen leistete auch die Primarlehrerin Marie von Greyerz, die in Münsingen von 1917 bis 1939 ein Kindergärtnerinnenseminar und den ersten modernen Kindergarten der Schweiz leitete.

Die meisten Autoren ordnen die Entwicklung Münsingens in die Geschichte des Kantons und/oder der Eidgenossenschaft ein. Dieses Vorgehen ist an sich begrüssenswert, hat aber auch seine Tücken. So bleiben beispielsweise die Kapitel über die Armut oder die Landwirtschaft über weite Strecken zu stark an der Berner und Schweizergeschichte haften, während die Münsinger Geschichte hinter diesen Ausführungen fast verschwindet oder in die Kästen ausgelagert wurde.

Die sprachliche Qualität und die Aufbaulogik der Texte sind unterschiedlich, was aber nicht weiter erstaunt, wenn man bedenkt, dass nicht alle Autoren professionelle Schreiber sind. Wechselnde Schreibstile treten insbesondere im vom Konzept her originellen Kapitel «Umgang mit dem Fremden» hervor, an dem sechs Autoren gearbeitet haben. Der in manchen Beiträgen hergestellte Bezug zu «heute» – eingeleitet etwa mit der Frage «Wo stehen wir heute?» im Kapitel über das Gesundheitswesen (S. 123, 125) – ist oft wenig aussagekräftig, weil Informationen zu den «heutigen» Verhältnissen in ein paar Jahren schon veraltet sind. Hin und wieder mischt sich eine gewisse Wehmut über den Verlust des Gewesenen in die Aufsätze, was wohl daran liegt, dass einige Autoren die von ihnen geschriebene Münsinger Geschichte selbst miterlebt haben. Man mag einigen Schreibern auch verzeihen, dass sie nicht den neusten Forschungsstand berücksichtigt haben – gerade zum Thema Armut sind in den letzten Jahren einige Berner Arbeiten erschienen. 2 Insgesamt liest sich das Buch leicht, was bestimmt auch dem Einsatz der Redaktoren zu verdanken ist. Die Münsinger Geschichte ist ein sowohl hinsichtlich der Texte als auch der Gestaltung qualitätsvolles Werk, das zu lesen nicht nur Münsingern Freude bereitet!

1 Lüthi, Christian: Ortsgeschichtsschreibung im Kanton Bern. Bestandesaufnahme und Trends der letzten Jahrzehnte, in: BZGH 67 (2005) 1, S. 1– 36, hier S. 19 f.
2 Etwa Baumer, Matthias: Private und nichtstaatliche Armenfürsorge in der Berner Landgemeinde Worb im 19. Jahrhundert. Nordhausen 2005; Schläpfer, Rafael: Kantonale Armenreform und kommunale Fürsorgepolitik. Eine Untersuchung über Armenfürsorge im Kanton Bern im 19. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt der Einwohnergemeinde Worb. Nordhausen 2004; Flückiger Strebel, Erika: Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie. Armenfürsorge auf der bernischen Landschaft im 18. Jahrhundert. Zürich 2002. Aber auch die ältere Arbeit von Ludi, Niklaus: Die Armen gesetzgebung des Kantons Bern im 19. Jahrhundert. Vom Armengesetz von 1847 zum Niederlassungsgesetz von 1897. Diss. Bern 1975, fehlt im Literaturverzeichnis.

Zitierweise:
Andrea Schüpbach: Rezension zu: Kommission Ortsgeschichte (Hrsg.): Münsingen. Geschichte und Geschichten. Münsingen: Fischer Print AG 2010. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 3, 2012, S. 63-65.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 3, 2012, S. 63-65.

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