H. Z. Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart

Titel
Unsere breite Gegenwart.


Autor(en)
Gumbrecht, Hans Ulrich
Erschienen
Berlin 2010: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
143 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Guido Koller, Sektion Auswertung / Information, Schweizerisches Bundesarchiv

Was bedeutet es für das Schreiben von Geschichte, wenn Unterlagen auf dem Bildschirm sofort, mit einem Klick, präsent, also im Grunde ständig vorhanden sind? Wolfgang Schmale hat sich diese Frage gestellt. Ein anderer, den die Dimension «Präsenz» schon seit längerem beschäftigt, ist Hans Ulrich Gumbrecht. Er schreibt, schon lange darauf hingewiesen zu haben, dass «die Dinge der Welt eine Dimension der Präsenz» haben. Präsenz, das heisst räumliche Nähe und Substanz. Gumbrecht hat diese Idee in seinem Buch In 1926: Living at the Edge of Time entfaltet, dem Versuch, mit einem Geflecht von kurzen, aufeinander verweisenden Texten zu Alltagsphänomenen das Gefühl zu vermitteln, im Jahr 1926 zu sein.

Gumbrecht verfolgt seine Idee in der Tradition der Kulturkritik, die «den Verlust von Dinglichkeit» bedauert. Seine These lautet: seit 50 Jahren löst eine neue «Zeitkonfiguration» das im 19. Jahrhundert entstandene «historische Denken» ab. Gumbrecht beschreibt diesen (veralteten) Chronotop in folgenden Perspektiven: a) Im «historischen Denken» bewegt sich der Mensch auf einer linearen Zeitachse, in der die Zeit das «absolute Agens der Veränderung» ist. b) Auf seinem Weg durch die Zeithorizonte hinterlässt er ständig Vergangenheit hinter sich. So erscheint die Zukunft als ein offener Horizont von Möglichkeiten. c) Zwischen Vergangenheit und Zukunft ist die Gegenwart ein Moment des Übergangs. Dieser kurze Übergang war das «epistemologische Habitat» des modernen Menschen: Er handelte, in dem er aufgrund seiner Erfahrung aus den Möglichkeiten der Zukunft auswählte.

Dieser Chronotop ist gemäss Gumbrecht also passé: Die Zukunft sei kein offener Horizont von Möglichkeiten mehr, die Vergangenheit wolle nicht (mehr) vergehen und die Gegenwart mit ihren Gleichzeitigkeiten werde immer breiter. Eine der Grundbedingungen für diese Entwicklung: die Globalisierung. In ihr ist der Austausch von Informationen von physischen Orten abgekoppelt. Eine neue Vorstellung von Zeit als Grundbedingung für die Bildung von Erfahrung scheint sich also, gemäss Gumbrecht, festzusetzen. Wir würden nun von Erinnerungen aus der Vergangenheit überflutet. Gleichzeitig bewegen wir uns in immer mehr Alltagswelten und Netzwerken. Wir sind von einem Repertoire aus Zeichen und Strukturen umgeben, die der technologischen Kommunikation entstammen. Diese «Hyperkommunikation» zerfresse die Gestalt, die wir bislang unserem Alltag gegeben haben. Die Struktur und Spannung, die vom existentiellen Gegensatz zwischen Gegenwart und Abwesenheit gelebt hat, werde aufgelöst. Gumbrecht bestreitet, dass virtuelle Debatten in sozialen Medien neue gute Ideen hervorbringen. Der Grund: Erst die physische Anwesenheit ermögliche wirklichen argumentativen Widerstand, der in wechselseitige Inspiration umschlagen könne.

Ist Hans Ulrich Gumbrechts Kritik am Verschwinden der Zukunft einfach nur melancholisch? Nein, nicht nur. Die Diagnose von der «Verbreiterung der Gegenwart » scheint plausibel: Die Gegenwart ist nicht mehr das Messer, das ein Stück Zukunft abschneidet und der Vergangenheit zuweist. Gumbrechts Essay verweist luzide auf aktuelle Fragen, die sich besonders auch der Geschichtswissenschaft stellen. Die ständige Verfügbarkeit von Informationen wird das «historische Denken» und damit auch das Handwerk der Historiker massiv verändern.

Zugespitzt lautet die «Anamnese» zum Schreiben von Geschichte in Anlehnung an Gumbrecht wie folgt: Informationen werden nicht mehr über Intermediäre vermittelt, sondern direkt von den Produzenten an die Konsumenten kommuniziert. Die Kontextualisierung für die interessierte Fachöffentlichkeit übernehmen zeitnah Journalisten und die Inszenierung für die Kulturöffentlichkeit zeitversetzt Kuratoren. Für historisches Arbeiten nach alter Schule bleibt in diesem Modell kaum noch Raum.

Aber es gibt Gegenbeispiele: Eines davon stammt von Gumbrecht selber und ist das schon erwähnte Text-Experiment «In 1926». Ein anderes stammt von Andreas Wirsching, dem Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, der schon jetzt «ein Standardwerk zur Geschichte Europas seit 1989» vorgelegt habe. Die Neue Zürcher Zeitung untermauert diese ihre Bewertung mit der Einschätzung, dass Wirsching «keine Angst vor der Aktualität» und mit seinem Wagnis deshalb viel gewonnen habe: «ein Meisterstück europäischer Zeitgeschichtsschreibung » nämlich. Und wie hat er das geschafft? Wirsching hat nicht vornehm das Ablaufen von Sperrfristen abgewartet, sondern aus «scheinbar grenzenlosen Mengen» von öffentlichen amtlichen Dokumenten, Presseartikeln und wissenschaftlichen Analysen geschöpft.

Es gibt also Hoffnung für das Schreiben von Geschichte. Die Historiker werden ihr Geschäftsmodell aber wohl ändern müssen. Insofern könnte Digital History, wie sie Wolfgang Schmale beschrieben hat, ein Teil der Lösung vom Problem sein, das wir uns selber geschaffen haben.

Zitierweise:
Guido Koller: Rezension zu: Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. Berlin, Suhrkamp, 2010. Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 1, 2013, S. 164-165.

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