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Titel
Heimkinder. Eine Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt


Autor(en)
Hafner, Urs
Erschienen
Baden 2011: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Arlette Schnyder

Das Thema des Aufwachsens ausserhalb der eigenen Familie findet in der Schweiz seit der Aufarbeitung der Geschichte fremdplatzierter und verdingter Kinder breitere Aufmerksamkeit. In den Untersuchungen standen oft die Unterbringung in Ersatzfamilien sowie die umstrittenen gesetzlichen Regelungen des Pflegekinderwesens im Fokus. Daneben rückte die Heimplatzierung in den Hintergrund. Eine umfassende Geschichte des Kinderheims der Schweiz war bis 2011 ein Forschungsdesiderat. Nun liegt erstmals ein Gesamtüberblick über die Schweizerische Heimgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart vor. Urs Hafner merkt einleitend an, dass eine Geschichte der Kinderheime und Jugendanstalten ein grosses Defizit in Kauf nehmen müsse; die überlieferten Quellen geben fast ausschliesslich die Sicht jener Personen wieder, die ein Interesse hatten, ein positives Bild zu vermitteln: Anstaltsleiter, Heimerzieher, Vorstände. Quellen von Kindern oder von Eltern sind bis ins 20. Jahrhundert kaum überliefert. Sorgfältig umkreist Hafner sein Thema, indem er Heimordnungen, Gründungsstatuten, Insassenlisten, Aufzeichnungen des Heimleiters, Speise- und Unterrichtspläne als Quellen befragt und so den Alltag beleuchtet.

Die Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt ist chronologisch aufgebaut und setzt ein mit den mittelalterlichen Stiftungen einflussreicher Adliger, die sich durch die Gründung von Klöstern und Spitälern im Diesseits einen günstigen Platz im Jenseits sicherten. Hafner bettet die Entwicklung der Institution in die jeweiligen kulturhistorischen Vorstellungen davon ein, was ein Kind sei und welche Position es habe. Im Spital des Mittelalters befanden sich nicht nur Kranke und Sterbende, sondern sämtliche Randgruppen – auch Delinquente und Kinder, die ohne Obhut waren. Aufschlussreich ist der Hinweis Hafners, dass am Anfang aller Waisenhäuser und Kinderheime das Kloster steht. Der klösterliche Tagesablauf bleibt, vor allem in katholischen Kinderheimen, bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägender Teil des Anstaltslebens. Mit der Reformation beginnt ein Umdenken: Während die Kinder im Mittelalter zwar keine besondere Behandlung genossen, aber von der Norm abweichen durften und Bettel und Armut kein Fehl war, wird nun Arbeit zur Tugend. Wer arbeiten kann, der soll dem Gemeinwesen nicht zur Last fallen. So entsteht zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein neuer Typus von Anstalt, der zur Arbeit disziplinieren will. Wie auch in den anderen Kapiteln, zeigt sich hier der breite Vergleich zwischen den Kantonen der Schweiz als besonders gewinnbringend. So ist das Nebeneinander der Entwicklung der städtischen Waisenhäuser von Zürich, wo man auf Zucht und Arbeit drängte, Luzern, wo vor allem der wirtschaftliche Profit im Vordergrund stand, und Bern, wo erste pädagogische Reformideen entstanden, höchst spannend. Im Jahrhundert der Anstalten, wie das 19. Jahrhundert auch genannt wird, taucht eine neue Form des Erziehungsheims auf, in welchem die Kinder «gerettet» und «gebessert» werden. Interessant sind die konfessionellen Zusammenhänge innerhalb der im 19. Jahrhundert zweigeteilten Schweiz. In den reformierten Kantonen entstehen Neugründungen durch pietistisch inspirierte philanthropische Bürger, die oft regen Austausch über kantonale und nationale Grenzen hinweg pflegen, die katholischen Kantone gründen durch Schwestern geführte Arbeits- und Erziehungsanstalten. Hafner überzeugt durch die Verbindung ideengeschichtlicher Hintergründe und deren unterschiedlicher Auslegungen. So geht dem Kapitel zur Gründung von Reformanstalten ein Exkurs zu Pestalozzis Menschenbild voraus, der es dem Autor erlaubt, das Auseinanderklaffen von Alltag und utopischen Theoriekonzepten auf eindrückliche Weise sichtbar zu machen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird für die Unterbringung von Kindern in Heimen der Begriff der Verwahrlosung prägend, der durch die Einführung des Zivilgesetzbuches 1912 eine gesetzliche Grundlage erhält: Nun ist die Vormundschaftsbehörde per Gesetz befugt, «verwahrloste» oder «dauernd gefährdete» Kinder der Obhut der Eltern zu entziehen. Dies legitimiert die Wegnahme von Kindern sowie die lange geltende Praxis, möglichst keine Kontakte zur Herkunftsfamilie zu pflegen, als notwendige Massnahme. Zeitgleich mit einer vermehrten Versorgung von «verwahrlosten» Kindern in Heimen wird Kritik an Anstalten laut. Einer der ersten und strengsten Kritiker des Heimwesens war Carl Albert Loosli, der 1924 eine gänzliche Abschaffung von Heimen und Anstalten forderte. In der Westschweiz klagt in den 1930er-Jahren die kommunistische Partei die Kinderzuchthäuser an, in welchen die Kinder ausgebeutet würden. 1944 deckten der Journalist Peter Surava und der Fotograf Paul Senn Misshandlungen und brutale Strafen in der Erziehungsanstalt Sonnenberg oberhalb Kriens auf.

Hafner stellt nicht gänzlich neue Materialien vor. Vielmehr wird durch das Zusammenstellen von Publikationen und Quellen ein Überblick möglich, der Zusammenhänge erst sichtbar macht. So gelingt es dem Autor, die Entwicklung katholischer Heime differenziert zu untersuchen. Hinweise auf Schriften wichtiger katholischer Pädagogen wie Eduard Montalta oder Johanna Haups zeigen, wie eng das Verständnis des Begriffs «Verwahrlosung» mit der Religion verknüpft ist. Sorgfältige Textanalysen machen die Diskrepanz zwischen dem Weltbild der Ordensfrauen sichtbar, in welchem das System der Betreuung der Kinder durchaus richtig schien, und dem Weltbild der Kinder, für welche die Handlungen der Schwestern nicht nachvollziehbar waren und oft grausam und zynisch erscheinen mussten. Ein Hinweis darauf, dass auch bei den katholischen Schwestern mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nach 1965 Aufbrüche stattfanden, fehlt leider. Dennoch wird deutlich, wie sehr die 1970er-Jahre die grosse Wende in der Heimgeschichte darstellen. Hafner bespricht die Heimkampagne ausführlich und schildert anschaulich die Positionen zwischen den jugendlichen Heimkritikern mit ihren Forderungen und der Front von Heimleitern und Heimleiterinnen, Heimverwaltern und Direktionen, die sich in die Enge getrieben fühlten und doch reagieren mussten.

Interessant ist, dass der Autor seine eigenen Bilder, die er durch die Auswahl der Quellen hervorruft, stets reflektiert und infrage stellt. Mit zu diesem Anspruch einer Multiperspektivität gehört, dass Hafner Heimkinder in Selbstzeugnissen aus dem 20. Jahrhundert zu Wort kommen lässt. Es entsteht ein trauriges, düsteres Bild, das der pädagogischen Programmatik der Heime und Anstalten widerspricht. Auch der Bildteil in der Mitte des ruhig und schön gestalteten Buches gibt einen zusätzlichen Blick auf das Thema. Hier wäre ein etwas kritischerer Zugang zu den Bildmaterialien gewinnbringend gewesen. Sinnvoll und gut ist zum Schluss der Blick auf die heutige Heimlandschaft – ein leises Hinterfragen der allesheilenden Sonderpädagogik, die anstelle der Religion tritt.

Hafner ist mit seiner Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt ein über grosse Zeiträume und für die gesamte Schweiz gültiger Überblick gelungen. Insbesondere der vergleichende Blick auf Institutionen in der gesamten Schweiz und der Einbezug zeitgenössischer pädagogischer Theorien, die die Anstaltsgeschichte begleiten, zeichnen die Publikation aus. Eine angenehme, leichtfüssige Sprache und treffende Zwischentitel, die die Inhalte zusammenfassen, erhöhen den Lesegenuss.

Zitierweise:
Arlette Schnyder: Rezension zu: Hafner, Urs: Heimkinder. Eine Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt. Baden: Hier und Jetzt 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 65 -68.