B. Bailer-Galanda u.a.: Vermögensentzug – Rückstellung – Entschädigung

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Titel
Vermögensentzug – Rückstellung – Entschädigung. Österreich 1938/1945–2005


Autor(en)
Bailer-Galanda, Brigitte; Eva Blimlinger
Erschienen
Innsbruck 2005: StudienVerlag
Anzahl Seiten
94 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gregor Spuhler

Im Oktober 1998 beschloss der Ministerrat der Republik Österreich als Reaktion auf die Beschlagnahmung von vier Kunstwerken in den USA und im Kontext der damaligen internationalen Diskussion über die ungenügende Restitution der von den Nationalsozialisten enteigneten Vermögenswerte die Einsetzung einer Historikerkommission. Sie hatte den Auftrag, den gesamten Komplex der auf dem Gebiet der Republik Österreich zur Zeit des Nationalsozialismus entzogenen und nach dem Krieg zurückerstatteten Vermögenswerte zu untersuchen. Im Januar 2003 legte die Kommission unter dem Vorsitz von Clemens Jabloner ihren 520seitigen Schlussbericht vor. Die Dimensionen der Kommissionsarbeit gleichen jenen der schweizerischen Unabhängigen Expertenkommission (UEK): 160 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verfassten 53 Berichte von insgesamt etwa 15 000 Druckseiten. Allerdings stand der österreichischen Kommission mit 6,5 Mio. Euro nicht einmal die Hälfte des schweizerischen Budgets zur Verfügung. Ihre wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren im Gegensatz zur UEK nicht fest angestellt, sondern wurden für einzelne, von der Kommission definierte und international ausgeschriebene Projekte verpflichtet. Ausserdem hatte die österreichische Kommission keinen rechtlich privilegierten Zugang zu den privaten Unternehmensarchiven.

Im Rahmen der so genannten Wiener Vorlesungen, eines von der Stadt Wien eingerichteten Dialogforums zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, unternahmen Brigitte Bailer-Galanda, ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Historikerkommission, und Eva Blimlinger, die damalige Forschungskoordinatorin, im Jahr 2005 den Versuch, die Ergebnisse zusammenzufassen und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Dieser Versuch ist mit dem allgemein verständlich geschriebenen und mit Literaturhinweisen und Zeittafel versehenen schmalen Band durchaus gelungen. Die Einleitung skizziert Entstehung, Auftrag und Arbeitsweise der Historikerkommission. Im zweiten Kapitel werden die Dimensionen des nationalsozialistischen Raubzugs auf knappstem Raum aufgezeigt. Im Zentrum standen die Juden. Von den etwas mehr als 200 000 Menschen, die ab März 1938 in Österreich als Juden verfolgt wurden, kamen rund ein Drittel zu Tode. Mehr als die Hälfte überlebten in der Emigration. Das als jüdisch geltende Ver mögen wird für jenen Zeitpunkt auf 1,8 bis 2,9 Mia. Reichsmark geschätzt. Zwischen 25 000 und 36 000 jüdische Betriebe wurden «arisiert»; genauer gesagt wurden drei Viertel dieser Betriebe liquidiert. Allein in Wien wurden bis 1945 59 000 Mietwohnungen «judenfrei» gemacht und das Mobiliar versteigert. Die Untersuchungen erstreckten sich aber auch auf andere Opfergruppen. Von den etwa 11000 Roma und Sinti wurden um die 9000 ermordet. Der Wert des ihnen entzogenen Vermögens ist kaum mehr zu rekonstruieren. Immerhin werden allein die Pferde und Wagen, die das Reich einzog, auf 360 000 Reichsmark veranschlagt. Auch die vermögensrechtliche Stellung der slowenischen, tschechischen und anderer nationaler Minderheiten wird behandelt. Wenig beachtet wurde in der Diskussion der letzten Jahre, dass auch die Kirchen zu den massiv Geschädigten gehörten, allen voran die römisch-katholische Kirche: 26 grosse Stifte mit umfangreichen landwirtschaftlichen Besitzungen, Gewerbebetrieben und Kunstschätzen sowie 188 kleinere Klöster und Ordensniederlassungen wurden enteignet. 1960 schloss die Republik mit dem Vatikan einen Vertrag, der sie verpflichtete, fortan jährlich 50 Mio. Schilling an die katholische Kirche zu zahlen und die Kosten von 1250 Kirchenbediensteten zu tragen. Analoge Vereinbarungen – allerdings in viel geringerem Umfang – wurden damals auch mit der evangelischen und der altkatholischen Kirche sowie mit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien geschlossen.

Die Restitution bzw. Rückstellung entzogener Vermögenswerte wird in den beiden folgenden Kapiteln behandelt, die die Materie chronologisch in die Nachkriegszeit und die Massnahmen seit den 1970er Jahren gliedern. Dass es in diesen beiden Kapiteln schwer fällt, die Übersicht zu bewahren, liegt an der österreichischen Rückstellungspolitik, die sich als eine Vielzahl von Einzelmassnahmen präsentiert. Diese verteilten sich auf die verschiedensten Bereiche, erstreckten sich über grosse Zeiträume und erfolgten in den meisten Fällen erst auf Druck von aussen, wobei die USA und jüdische Opferverbände eine entscheidende Rolle spielten. In der Anfangsphase, die von sieben (!) zwischen 1946 und 1949 erlassenen Rückstellungsgesetzen geprägt war, lehnte Österreich, das sich als erstes Opfer Hitlers verstand, Entschädigungszahlungen rundweg ab. Einzig die Rückstellung noch real vorhandener Vermögenswerte war möglich. Deshalb spielte die Rückgabe von Immobilien eine wichtige Rolle. Diejenigen, deren Firmeneigentum liquidiert worden oder deren Kunstsammlungen nicht mehr auffindbar waren, gingen dagegen leer aus. Erst als Folge der Verhandlungen über den Staatsvertrag kam es ab Ende der 1950er Jahre zu Entschädigungsleistungen, die über Naturalrestitution hinausgingen. Ein weiteres Charakteristikum war die weitgehende Gleichbehandlung der NS-Opfer und der Verfolgten des Ständestaats (1934–1938). Dies wird zum Teil mit der Klientelpolitik der 2. Republik erklärt, die den politisch verfolgten Sozialdemokraten ein grosses Gewicht beimass. Dabei kam es auch zu eigenartigen Ergebnissen, waren im Ständestaat doch auch die NSDAP verboten und Nazis verfolgt worden.

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre folgte eine markante Ausweitung der Entschädigungspolitik. Mit dem bereits 1995 erlassenen Nationalfondsgesetz erhielten erstmals alle NS-Opfer unabhängig von Staatsbürgerschaft oder sozialer Lage eine Pauschalleistung von 5000 Euro. Bis ins Jahr 2005 profitierten um die 30000 Personen davon. Im Rahmen des Bundesgesetzes zur Entschädigung von Sklaven- und Zwangsarbeit von Ende 2000 wurden 430 Mio. Euro bereitgestellt. Ein Entschädigungsfonds, der 2001 «zur Lösung noch offener Fragen» (u.a. Sammelklagen in den USA) mit weiteren 210 Mio. Dollar dotiert wurde, konnte seine Zahlungen angesichts rechtlicher und verfahrensmässiger Probleme bis Ende 2005 noch nicht aufnehmen. Die Politik stellte bei der Begründung dieser jüngsten Entschädigungsleistungen im übrigen öfters auf die Berichte der Historikerkommission ab.

In ihrem Schlusswort diskutieren die Autorinnen die Grenzen einer quantifizierenden Untersuchung. Die ursprünglich angestrebte Gegenüberstellung des entzogenen und des zurückerstatteten Vermögens ist aufgrund der lückenhaften Aktenlage und der historischen Wertveränderungen der entzogenen Vermögen (man denke etwa an Gemälde oder Grundstücke) schlicht nicht möglich. Doch auch wenn eine Quantifizierung gelänge, so wäre sie nur von geringer Aussagekraft. Vernichtet wurden nämlich nicht bloss Vermögenswerte, sondern Menschenleben und Lebenschancen. In den Worten der Autorinnen: Auch wer überlebt hatte und nach 1945 beispielsweise seinen Betrieb zurückerhielt, konnte nicht dort weiter machen, wo er 1938 aufgehört hatte. Damit verweist das lesenswerte Buch über die methodischen Probleme einer quantifizierenden historischen Untersuchung hinaus auf die Grenzen einer jeden finanziellen Wiedergutmachung.

Zitierweise:
Gregor Spuhler: Rezension zu: Brigitte Bailer-Galanda, Eva Blimlinger: Vermögensentzug – Rückstellung – Entschädigung. Österreich 1938/1945–2005. Innsbruck, Studienverlag, 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 501-503.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 501-503.

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