G. Aly: Hitlers Volksstaat

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Titel
Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus


Autor(en)
Aly, Götz
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: S. Fischer
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benedikt Hauser

Die Thematik der vom NS-Staat begangenen Verbrechen zählt mit Sicherheit zu den am gründlichsten bearbeiteten Fragen der neueren Geschichte. Dennoch gibt es auch bei diesem Forschungsfeld Bereiche von zentraler Relevanz, von welchen man nach wie vor nur wenig weiss. Alys Buch verdient schon deswegen besondere Beachtung, weil es auf solche Lücken hinweist und dabei auch Möglichkeiten zeigt, wie sie sich konkret beheben lassen.

Der Autor stützt sich dabei auf eine breite Basis in- und ausländischer Quellen ab: Während viele dieser Akten schon seit langem problemlos eingesehen werden können, waren andere noch vor kurzem unzugänglich, wobei bei umfangreichen wichtigen Beständen wie denjenigen des Reichsfinanzministeriums Findhilfsmittel fehlten. Der erste Band eines auf zehn Bände angelegten Repertoriums liegt hier erst seit zwei Jahren vor. Verwehrt blieb dem Verfasser die Benutzung der historischen Archive der Ungarischen Nationalbank, welche die Konsultation der angeforderten Akten verweigerte, und der Bank von Griechenland, die mehrfach an sie gerichtete Anfragen unbeantwortet liess.

Wie in seinen frühern Studien scheut Aly auch in seinem neusten Buch nicht davor zurück, schnörkellos wenig Schmeichelhaftes zu erwähnen, das wohl nicht alle gerne hören. Geschont wird dabei kaum jemand. So erfährt man unter anderem, dass noch unter Bundeskanzler Schmidt und Finanzminister Apel wichtige Geschäftsakten der Reichsbank vernichtet worden sind, dass 1943 der spätere Nobel preisträger Böll als junger Wehrmachtsangehöriger in der Ukraine über ein «koloniales Dasein hier im Osten nach einem gewonnenen Krieg» für sich nachdachte (S. 29f.) und dass ein Jahr zuvor der nachmalige Präsident der Bundesbank Karl Blessing als Vertreter der Reichsbank in Rumänien «die Juden» als Teilschuldige für den raschen Preisanstieg bezeichnete.

Alys Augenmerk gilt diesmal freilich nicht so sehr einzelnen Personen oder bestimmten Gruppen von Entscheidungsträgern. Im Zentrum seiner Untersuchung steht vielmehr das sogenannte Volk. Konkret geht der Autor von der Fragestellung aus, wie es die Nazi-Diktatur verstand, ein heute kaum vorstellbares Mass an «innenpolitischer Integration» zu erreichen. Die NS-Herrschaft wird dabei aus dem Blickwinkel der «Gefälligkeitsdiktatur» betrachtet (S. 36), die sich den öffentlichen Zuspruch oder wenigstens die Gleichgültigkeit täglich gleichsam neu erkauft habe und welche deshalb – im Vergleich zur DDR mit rund 190000 hauptamtlichen Stasi-Spitzeln – mit einem personell verhältnismässig kleinen Überwachungsapparat von 7000 Gestapo-Leuten und einer nochmals geringeren Anzahl von SD-Mitarbeitern ausgekommen sei. Verkürzt gesagt, sei dies primär dadurch gelungen, dass man «Otto Normalverbraucher» (S. 195ff.) konsumptiv zufrieden stellte, indem man ihm die Möglichkeit verlieh, sich trotz Rationierungen ausreichend zu ernähren, sich billig Güter von deportierten Juden zu erwerben und bei seinem Einsatz als Soldat besetzte Länder auszuplündern. Zudem habe man ihn steuerlich entlastet und ihm zahlreiche soziale Aufstiegsmöglichkeiten geboten.

In diesem Sinne wird zunächst die Politik beschrieben, «Steuermilde für die Massen» herzustellen (S. 66). Dann werden – gleichsam als Kontrast – die verschiedenen Beraubungs- und Enteignungstechniken des NS-Staates dargestellt. Stark präsent und prägend war in beiden Fällen die Vergangenheit: die traumatischen Erfahrungen des Mangels und des Hungers zur Zeit des Ersten Weltkriegs und die lange Tradition der gezielten Ausblutung des besiegten Feindes von der Französischen Revolution über den Sezessionskrieg in den USA bis zur Erfüllung des Vertrages von Versailles. Auffallend für den heutigen Betrachter sind dabei der Einfallsreichtum und die grosse Energie, mit welchen die Beteiligten nicht selten mit der Vorstellung der historisch einmaligen Chance die Ausbeutung geplant und vorangetrieben haben. Ein Mann wie Reichsbankevizepräsident Emil Puhl, der sich in der Schweiz als Antinazi ausgab und 1942 von einem Mitglied der Landesregierung für seine Kompetenz und seine Besonnenheit gepriesen wurde, tritt hier als nimmersatter Finanzraubritter in Erscheinung, der okkupierte Staaten skrupellos und wider jede volkswirtschaftliche Vernunft währungsmässig in die Zange nahm, um aus ihnen zusätzlich zur Überbürdung der Besatzungskosten ein Maximum an Waren und an Geld herauszupressen.

Das Plünderungsinstrumentarium war hoch perfektioniert. Als Beispiel sei der Reichskreditkassenschein erwähnt, dem in den Worten Puhls die Funktion «eines in Geld gekleideten» Requisitionsscheines zukam (S. 103). Das auf Reichsmark lautende Papier wurde den deutschen Truppen abgegeben und musste von den Sparkassen und Banken der eroberten Gebiete zu einem offiziell dekretierten Kurs angenommen und in die Landeswährung eingewechselt werden. Von dort gelangten die Scheine zunächst an das Noteninstitut und anschliessend ohne Zahlung eines Gegenwerts an den vor Ort errichteten Ableger der Reichsbank. Dadurch waren die Behörden des okkupierten Territoriums gezwungen, entweder die Notenpresse anzuwerfen, neue Steuern zu erheben oder sonst zusätzliche Gelder aufzutreiben. Dieses System bot den «Vorteil», dass die Verkäufer die Scheine leicht in «altvertrautes Geld» konvertieren konnten (S. 105) und dass es kein aufwändiges Ausstellen von unpopulären Requisitionsbestätigungen brauchte, wie es die Haager Landkriegsordnung in diesem Fall erfordert hätte. Zudem erhielten die Truppen so die willkommene Gelegenheit, Lebensmittel, Gebrauchs- und Luxusgüter, die in der Heimat kaum erhältlich waren, kostengünstig zu beschaffen, um dann die Ware päckchenweise mit der Feldpost oder selbst nach Hause zu verfrachten. Dass man dabei ganze Volkswirtschaften konsequent in den Ruin trieb, wurde bewusst in Kauf genommen und gefördert. Göring hielt dies bezüglich fest: «Der Franken soll nicht mehr wert sein als ein gewisses Papier für gewisse Zwecke. Dann erst ist Frankreich so getroffen, wie wir Frankreich treffen wollen» (S. 126).

Unter dem Begriff des Staatsraubs wird sodann der Themenkreis der Arisierung näher untersucht. Hier erweitert der Autor den Blickwinkel, indem er nicht nur schildert, wie sich private Profiteure oder «ausgebombte» Stadtbewohner aus dem Besitz deportierter Juden an Auktionen günstig Kleider, Möbel, Hausrat und sonst Gegenstände aller Art erwerben konnten. Zu Recht betrachtet er die systematische Beraubung der jüdischen Bevölkerung vor allem auch vor dem Hintergrund des chronisch defizitären Staatshaushalts und der Kriegsfinanzierung. Angewandt wurde das Modell ein erstes Mal 1938 in Deutschland selbst und danach in den Ländern des eroberten Europas. Fiskalpolitisch verfolgte man dabei das Ziel, die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates aufrechtzuerhalten und die Kriegskasse zu speisen, ohne die deutschen Steuerzahler, sofern sie «arisch» waren, stärker zu belasten oder die Staatsverschuldung weiter zu erhöhen.

Nutzniesser waren dabei nicht nur die Deutschen selbst, sondern vor allem auch die kollaborierenden Behörden der verbündeten und besetzten Staaten. So wurden z.B. in Rumänien von Oktober 1940 bis Mai 1941 der gesamte jüdische Grundbesitz, der jüdische Waldbesitz und die damit verbundenen Verarbeitungsbetriebe entschädigungslos verstaatlicht und danach an neue Eigentümer veräussert. Die dadurch gewonnenen Erlöse gingen grösstenteils an den Wehrmachtsintendanten in Rumänien. Von dort aus wurden diese Gelder für die Beschaffung von Lebensmitteln für die Truppe und ihre Besoldung und für private Aufkäufe verwendet. Nach Kriegseintritt des Landes Ende Juli 1941 wurde die jüdische Gemeinde in Bukarest gezwungen, Kriegsanleihen im Wert von 10 Milliarden Lei zu zeichnen1. Kurz darauf wurden sämtliche hypothekarischen Forderungen jüdischer Gläubiger für nichtig erklärt, in deren Rechte dann der Staat trat. Hinzu kamen später unter anderem eine Zwangsabgabe von Schmuck und Wertsachen, eine um das Vierfache des Normalbetrages erhöhte Sondersteuer und eine Kollektivkriegskontribution von vier Milliarden Lei. Letztere erlaubte es dem Regime Antonescu, wenn auch nur für einen Monat, die finanziellen Forderungen der Wehrmacht zu erfüllen, ohne dafür ungedecktes Geld zu drucken oder für die Mehrzahl der Rumänen die Steuern anheben zu müssen. Selbst Deportationen wurden in Rechnung gestellt. Im Satellitenstaat Kroatien wurde für jeden nach Auschwitz deportierten Juden auf dem Clearingkonto eine Gutschrift von 30 Reichsmark verlangt. – Ausgeklammert wird die Frage, wie sich die vorgenommenen Besitzumschichtungen auf die Zusammensetzung des Privatbesitzes auswirkten. Bei den späteren Ostblockstaaten ist dies sicher weniger relevant, bei allen anderen Ländern jedoch sehr wohl.

Aly versucht sodann, die Politik des Raubes und der Plünderung konkret mit Zahlen zu erfassen. Er kommt dabei zum Schluss, «dass der deutsche Anteil an den laufend zu bezahlenden Kriegskosten ein Drittel, der ausländische mindestens zwei Drittel ausmachte» (S. 325). Was dieser Begriff genau umfasst, wird sehr wahrscheinlich immer strittig bleiben, und dasselbe gilt wohl auch für die als «Kriegseinnahmen» ausgewiesenen Beträge. Eine buchhalterisch hieb- und stichfeste Bilanz wird man kaum erstellen können. Die vom Verfasser angeführten Beträge sind somit primär als Richtwerte zu betrachten, denen der Schluss entnommen werden kann, dass es dem NS-Staat gelungen ist, den von ihm entfachten Weltkrieg zu einem grossen Teil durch das Ausland finanzieren zu lassen. Aly hat mit seinem Buch einen fundierten und europaweit angelegten Überblick von beeindruckender Breite über die vom NS-Staat praktizierte Raubwirtschaft erstellt, der nicht nur zahlreiche wichtige neue Erkenntnisse enthält, sondern auch auf verhältnismässig knappem Raum ein komplexes Thema gut lesbar präsentiert. Vorbehalte drängen sich dabei vor allem dann auf, wenn der Autor dazu tendiert, komplexe Sachverhalte monokausal zu erklären. «Der Holocaust bleibt unverstanden», heisst es beispielsweise, «sofern er nicht als der konsequenteste Massenraub der Geschichte analysiert wird» (S. 318). Wird hier suggeriert, dass sich der Mord an den Juden Europas durch die Nazis und ihre Komplizen ökonomischrational abschliessend begründen lässt? Man weiss es nicht so recht und rätselt somit etwas irritiert, was solche Formulierungen konkret zum Ausdruck bringen sollen. Nicht vollumfänglich überzeugend ist sodann die Kernthese der Studie, dass die Machterhaltung Hitlers auf die vier Faktoren der Konsumptivvorteile bzw. der «materiell begründeten Loyalität» (S. 324), der Steuermilde für die Massen, der sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und der selektiven Repression zurückzuführen sei. Das gab es sicher alles, doch war da nicht noch mehr? War die über Jahre unter grösstem Aufwand und mit allen dirty tricks betriebene landesweite antijüdische und antibolschewistische Indoktrination, so fragt man sich, nur Schall und Rauch ohne jede Breitenwirkung? Und kann man es damit bewenden lassen, auf die nach der Winterkrise von 1941/42 gegen deutsche Zivilisten gefällten 15 000 Todesurteile und – im Sinne eines Beispiels – auf die in einer Infanteriedivision von 1943 bis 1945 vollzogenen 18 Hinrichtungen von Soldaten zu verweisen, um daraus das Fazit zu ziehen, dass der «gegen einzelne Volksgenossen» gerichtete «exemplarische Terror» nicht überzubewerten sei (S. 338)? Man sollte sich dabei die – vom Verfasser etwas beiläufig erwähnte – erschreckend hohe Zahl von insgesamt 20 000 an Soldaten vollstreckten Todesurteilen vor Augen halten, und dabei bedenken, dass Höchststrafen bekanntlich nur die Spitze des Eisbergs der durch einen Polizeistaat praktizierten Unterdrückung sind. Andere, vielleicht etwas subtilere, jedoch nicht minder abschreckende Formen der Ausübung von Terror gab es ebenfalls in grosser Zahl.

Man würde sich zudem auch wünschen, einige der zahlreich angeführten wertvollen Zitate, für welche man dem Autor dankbar ist, wären etwas ausführlicher kommentiert. So wird beispielsweise angegeben, dass die Banque de France nach dem Überfall auf Frankreich Teile ihrer Goldreserven in die Schweiz verfrachtet habe, um sie dem deutschen Zugriff zu entziehen, und dass die zuständigen Mitarbeiter Görings dem gelassen zugesehen hätten: «Im Notfall» könne auf die schweizerischen Bestände «für die Zwecke des Reiches verhältnismässig leicht zurückgegriffen werden», habe man dazu im September 1942 bemerkt (S. 166). Welcher Stellenwert kommt solchen Äusserungen zu und was genau war damit gemeint? Zu hoffen bleibt, dass sich solche Hinweise als Anreize auswirken, um die Forschung weiter zu vertiefen. Lohnen würde es sich sicher, wie es Alys Studie zeigt.

Zitierweise:
Benedikt Hauser: Rezension zu: Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt am Main, S. Fischer, 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 241-245.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 241-245.

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