M. Schmitz: Westdeutschland und die Schweiz nach dem Krieg

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Titel
Westdeutschland und die Schweiz nach dem Krieg. Die Neuformierung der bilateralen Beziehungen 1945–1952


Autor(en)
Schmitz, Markus
Erschienen
Zürich 2003: Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Anzahl Seiten
586 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz

Markus Schmitz beleuchtet in seiner breit angelegten Dissertation das Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz bzw. die Neuformierung dieser Beziehungen in den Jahren 1945 bis 1952. Die Studie beginnt mit der Kapitulation des Deutschen Reiches und der Auflösung der diplomatischen Beziehungen und reicht bis zur Akkreditierung des ersten Gesandten der Bundesrepublik 1952 in Bern.

Zu Recht weist Schmitz darauf hin, dass die Erforschung der deutsch-schweizerischen Beziehungen der unmittelbaren Nachkriegszeit lange vernachlässigt worden sei, und fragt nach den Gründen dieses Desinteresses. Was aus schweizerischer Innenschau oft als bedeutsam erscheint, ist es aus der Aussensicht weniger. Hier führt der Blickwinkel des deutschen Autors zu neuen Erkenntnissen, indem er deutsche und schweizerische Sichtweisen verknüpft. Offensichtlich wird, welche bedeutsame Rolle die Schweiz für Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit bewusst spielte. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der doppelten Staatsgründung strebte die Bundesrepublik nach Stabilität, Souveränität und einer konsequenten Westbindung. Hier übernahm die Schweiz wichtige Türöffnerfunktionen und ermöglichte deutschen Nachkriegspolitikern die ersten Gehversuche auf internationalem Parkett. Diese Politik der Schweiz fand im Kontext einer klaren westlichen Ausrichtung statt. Das Land teilte die nordatlantische Bedrohungswahrnehmung und befürchtete eine «Balkanisierung» und «Sowjetisierung» des nördlichen Nachbarn. Entsprechend gestalteten sich auch die Beziehungen zum andern Deutschland, zur Deutschen Demokratischen Republik. Dabei war die Schweiz stets auf einer neutralitätspolitischen Gratwanderung, wie der Autor zeigt: Mit der Zusage zur Aufnahme konsularischer Beziehungen 1950 bekannte sich die Schweiz offiziell und öffentlich zu einer zweigeteilten, zwischen Ost und West differenzierenden Deutschlandpolitik. Aus neutralitätspolitischen Gründen erkannte die Schweiz jedoch 1951 lediglich die Bundesregierung an, nicht aber die Bundesrepublik Deutschland als Staat und alleinige Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches.

Während Adenauer die junge Bundesrepublik Deutschland konsequent Richtung «Europa» führte, blieb die Schweiz in ihrer abseitigen Rolle. Damit nahm das Desinteresse zu: In dem Masse, wie sich die Bundesrepublik in Europa engagierte, schwand das Interesse am ehemals umschwärmten südlichen Nachbarn. Für die Schweiz, die auf die Kriegszeit fixiert war, blieb die Nachkriegsgeschichte lange ausgespart.

Die Studie stützt sich auf ein breites Quellenmaterial, das grösstenteils unveröffentlicht ist. Ein Hinweis auf die unterschiedliche Gewichtung ergibt sich auch bei der Quellenerschliessung: Während die Herausgeber der «Documents Diplomatiques Suisses» einen Schwerpunkt bei den Beziehungen Schweiz-Deutschland setzen, finden sich bei den «Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland» nur wenige Hinweise zur Schweiz. Ergänzend kommen Zeitzeugengespräche hinzu, die zusammen mit der Analyse von Medien ein Abbild der öffentlichen Meinung ergeben. Während wirtschaftliche Aspekte schon besser und auch früher erfasst worden sind, klaffen Lücken im politischen, diplomatischen, gesellschaftlichen, kulturellen und humanitären Bereich. Diesen Aspekten widmet sich die Studie, was in den jeweiligen Kapiteln zum Zuge kommt.

Das erste einleitende Kapitel geht der Frage nach, warum die Schweiz ihre Beziehungen zu Deutschland zu einem Zeitpunkt löste, als das Reich ohnehin unterging. Markus Schmitz kommt zum Schluss, dass sich damit die Schweiz auf das alliierte Interregnum und das drohende Machtvakuum vorbereitete und sich so Handlungsspielraum verschaffte. Da man in der Schweiz jedoch von der Kontinuität der Reichseinheit und dem Fortbestand der bilateralen Vertragswerke ausging, habe diese Politik auch im Interesse Deutschlands gelegen.

In den Kapiteln zwei und drei beleuchtet der Autor, mit welchen Mitteln und mit welchen Zielen es seitens der Schweiz zu einer Wiederannäherung an den besetzten Nachbarn gekommen ist. Er unterscheidet dabei zwischen einer humanitären Deutschlandhilfe – der «Schweizer Spende» und einer «kulturellen Deutschlandhilfe». In detaillierter Ausführung leitet der Autor zu den Motiven und der Wirkung dieser humanitären Deutschlandhilfe über, bei der sich Gedanken der Solidarität mit politischem Kalkül verbanden. Dabei zeigt Schmitz beiderseits, wie die Aufnahme in der Öffentlichkeit vonstatten ging. In einer Zeit, wo offizielle diplomatische Kontakte zwischen den beiden Nachbarn nicht möglich waren, ergab sich hier ein inoffizielles Forum für erste bilaterale Gespräche. Der zweite Pfeiler der schweizerischen Nachkriegshilfe betraf die «Schweizer Bücherhilfe» und den «Schweizerischen Vortragsdienst». Frühzeitig kam es auch zu Kontakten und Austauschprogrammen im universitären und bildungspolitischen Bereich. Bedeutsam waren auch die sportlichen Begegnungen, die eine grosse Breitenwirkung zeitigten. Die Schweiz brach das gegen Deutschland verhängte Sportembargo und erleichterte damit der Bundesrepublik, so die Beurteilung des Autors, die Rückkehr in die internationale Sportgemeinschaft.

Das vierte und fünfte Kapitel haben einen diplomatiegeschichtlichen Schwerpunkt. Der Autor befasst sich mit der «Deutschen Interessenvertretung» in der Schweiz sowie der Neuausrichtung der schweizerischen Deutschlandpolitik. Im Zentrum stehen die westdeutsch-schweizerischen Beziehungen zwischen Kriegsende und der Gründung der Bundesrepublik. Der Autor zeigt mit Bezug auf die verschiedenen Akteure detailliert auf, wie sich diese entwickelten. Es brach hier die grosse Stunde der Konsuln an. Schmitz beleuchtet neben der Rolle des Gesandten Fröhlichers jene weiterer schweizerischer Diplomaten und hebt die Freundschaft zwischen dem schweizerischen Generalkonsul in Köln, Franz-Rudolf Weiss, und dem späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer hervor. Wie Markus Schmitz aufzeigt, rügte Bern in ungewohnter Weise den zwischen der französischen Besatzungsmacht und Adenauer vermittelnden Diplomaten. Weiss trug, wie Schmitz aufführt, Mitverantwortung an der politisch-motivierten Entlassung Adenauers als Kölner Stadtoberhaupt. Offensichtlich wurde aber auch, so Schmitz, dass Adenauer und sein Westkurs in der Schweiz durch die Kontakte früh ins Blickfeld kamen und die Zweiteilung schon 1947 als unabwendbar erschien. In der Folge des Kalten Krieges bezog die Schweiz dann immer klarere Position.

Das sechste Kapitel leitet über zur Normalisierung der bilateralen Beziehungen beider Staaten. Obwohl die Bundesrepublik die Aufnahmen diplomatischer Beziehungen als Prestigegewinn verbuchen konnte, zögerte sie die Berufung ihres ersten Gesandten ungewöhnlich lange hinaus, was von der Schweiz als Affront bewertet werden musste.

Der Autor erfasst mit seiner umfassenden und gut abgestützten Studie ein bis anhin nur wenig und punktuell behandeltes Kapitel der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte. Augenscheinlich wird dabei die Bedeutung des südlichen Nachbarn, der eine Türöffnerfunktion für die Westintegration der Bundesrepublik übernahm. Die Studie überzeugt durch ihren breiten, feingefächerten und vernetzenden Zugang. Dank einer stringenten Führung und einem chronologischen Aufbau werden die Entwicklungsschritte und Prozesse sichtbar. Ein Personenregister am Schluss erleichtert die Arbeit mit dem Werk.

Zitierweise:
Markus Furrer: Rezension zu: Markus Schmitz: Westdeutschland und die Schweiz nach dem Krieg. Die Neuformierung der bilateralen Beziehungen 1945–1952, Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 98-100.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 98-100.

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