T. Reitmaier: Vorindustrielle Lastsegelschiffe in der Schweiz

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Titel
Vorindustrielle Lastsegelschiffe in der Schweiz.


Autor(en)
Reitmaier, Thomas
Reihe
Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 35
Erschienen
Basel 2008: Schweizerischer Burgenverein
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Niffeler

Das dichte Gewässersystem in der Schweiz, aber auch in den angrenzenden Gebieten, war über Jahrtausende der wichtigste Verkehrsträger namentlich für Warentransporte. Erst mit dem Bau der Chausseen und Kommerzialstrassen des 18. resp. 19. Jh. und besonders der Eisenbahn im 19. Jh. sollten die Schiffe ihre Position als effizienteste Beförderungsmittel verlieren lassen.

Zu rechtlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen des spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Transportwesens geben zahlreiche Schriftquellen und Bilder Auskunft; sie sind auch gut aufgearbeitet. Hingegen fehlten bislang — zumindest was die Schweizer Gewässer angeht — Untersuchungen zu den Schiffen selbst. Diese Lücke zu füllen, ist das Kernanliegen des Autors. Darüber hinaus will er nach Massgabe der Möglichkeiten die gefundenen Relikte in Beziehung zu den vorgefundenen Infrastrukturen wie etwa Hafenanlagen sowie zu den schriftlichen und bildlichen Zeugnissen setzen, um weitere Fragen angehen zu können. Reitmaier listet die 42 «derzeit bekannten Wracks vorindustrieller Last(segel)schiffe in Schweizer Gewässern» in einer Tabelle auf (S. 18, Abb. 8). Deren zeitliche und räumliche Verteilung sowie der Platz, den sie im anzuzeigenden Buch erhalten, sind indessen sehr unterschiedlich. Die Mehrzahl der Schiffe lassen sich ins 19. Jh. datieren, manche mit Fragezeichen allerdings. Das Hauptgewicht der Untersuchung liegt auf Funden aus der Zentral- und (Nord)ostschweiz; Wracks aus den Berner und den Westschweizer Seen, die immerhin knapp mehr als die Hälfte der Objekte ausmachen, werden in einem gerade einmal gut 10 Seiten umfassenden Kapitel angesprochen.

Im ersten, mit «Einleitung» betitelten Teil (S. 13–40) beschäftigt sich der Autor mit den unterschiedlichsten Bereichen nach: Vom Forschungsstand über methodische Überlegungen bis zu einer kurzen Geschichte des Schiffbaus vor allem in Mitteleuropa und Infrastrukturen wie Häfen, Anlegestellen und Fischereieinrichtungen reicht die Palette. Dabei beschäftigt er sich auch mit den drei provinzialrömischen Schiffen von Bevaix NE und Yverdon-les-Bains VD (und nicht NE, wie S. 32f. behauptet); sie sind die ältesten im Band zumindest ansatzweise behandelten Schiffe aus Schweizer Gewässern.

Der darauf folgende Teil (S. 41–80) ist Zeugnissen der Fluss- und Seeschifffahrt aus Weesen SG gewidmet, die 2003 freigelegt wurden: Resten eines sekundär verbauten Flachbodenschiffes, in das eine Pfahlfundamentierte Mauer gestellt war, die wohl in der frühen Neuzeit als Ufermauer am damaligen Hafen von Weesen diente. Der Autor untersucht hier nicht nur das Schiff (Datierung, technologische und typologische Aspekte), sondern er bettet es auch in seine Umgebung ein: Er geht auf die Geschichte der Wasserstrasse von Walenstadt bis Zürich seit der Antike und bis ins 16. Jh. ein und beschäftigt sich sodann mit den Organisationsstrukturen — Stichwörter sind etwa die Zürcher Zunftordnung, die Zusammenschlüsse in eine «Niederwassergesellschaft» (zuständig für die Flussschifffahrt unterhalb Zürich) und eine «Oberwassergesellschaft» (Strecke Walensee–Zürich), obrigkeitliche Verfügungen betreffend Schifffahrt. Schliesslich geht er auf die archäologischen Untersuchungen und die mit dem Schiff zusammenhängenden Fragen ein.

Weitere Teile sind den Lastsegelschiffen auf dem Zürichsee (S. 81–103), jenen auf dem Bodensee (S. 104–134) und auf dem Vierwaldstätter- und Zugersee (135–179) gewidmet. Es schliesst sich das bereit erwähnte kurze Kapitel zu den Lastschiffen auf dem Genfersee und im Berner Oberland (faktisch auch auf dem Neuenburger- und dem Bielersee; S. 180–196). Dass gerade das Kapitel über die Schiffe auf dem Genfersee so kurz ausgefallen ist, ist durchaus verständlich, denn irgendwo muss sich jede/ Autor/in eine Grenze setzen. Man wird es aber bedauern, denn hier tritt neben die von den Lastseglern der Deutschschweiz her bereits bekannte Bauweise (Flachboden, Rahbesegelung) ein weiterer, gänzlich anderer Grundtyp, nämlich die Bauweise mit Kiel und Lateinbesegelung. Dass dieser zweite Typ ausschliesslich ganz im Westen der Schweiz auftritt, erinnert an den «Röstigraben», der mindestens seit dem Neolithikum in den unterschiedlichsten Ausprägungen und mit leicht schwankendem Verlauf nahezu durchgehend zu beobachten ist.

Die Teile VII und VIII sind mit «Epilog» und «Abgesang» überschrieben. Hier finden sich höchst lesenswerte Kapitel, die man aufgrund des Buchtitels nicht erwarten würde: Im «Epilog» schildert der Autor die Versuche, die hölzernen Schiffe zu motorisieren und damit gegenüber der Eisenbahn und dem Strassenverkehr konkurrenzfähig zu halten. Er skizziert die kurzlebige Episode der mit Petrol (!) betriebenen Schiffsmotoren der Firma Saurer Arbon (S. 205–207). Der «Abgesang» nimmt ein Thema wieder auf, dass der Autor im Verlauf des Buches bereits verschiedentlich angesprochen hat, das natürlich auch zum Thema Schifffahrt gehört, das man aber nicht unbedingt erwarten würde: das Scheitern von Schiffen, die Tragödie von Untergängen.

Der Band, der aus einer 2006 von der Universität Innsbruck angenommenen Dissertation hervorgegangen ist, überzeugt durch die Breite, in welcher der Autor das Thema behandelt. Schade, dass der nach Auffassung des Schreibenden viel zu eng gefasste Titel dem nicht gerecht wird; ein Beispiel wurde eben angesprochen, ein zweites sei nun genannt: die Geschichte der Episode der «Helvetischen Kriegsmarine auf dem Vierwaldstättersee» (S. 177). Jedenfalls ist es erfreulich, dass der Autor dem selbstgestellten Anspruch, nicht nur die Schiffe als solche, sondern auch deren Umfeld zu behandeln, voll und ganz gerecht wird. Erfreulich auch, dass er nicht auf grosse Vorkenntnisse der Leserschaft abstellt, sondern beispielsweise die Fachbegriffe in einem Glossar (S. 223) und in mehreren, in den Text eingestreuten Abbildungen erklärt. Dass er vereinzelt etwas gar weit geht (S. 35, Fussnote 132: die zweite und dritte Bedeutung des Wortes Zain haben mit dem Thema Schiffsbau nichts zu tun) mag man auf die Begeisterung des Autoren für das Gesamtthema oder einem pädagogischen Impetus zuschrieben — und allenfalls überlesen. Diese Freude am farbig Darstellen wirkt sich auch beim Thema «Abgesang» ausgesprochen positiv aus: Das Scheitern wird nicht allein in Listenform (z.B. S. 25 und 88) behandelt; vielmehr wird ein Schiffsuntergang von 1764 in Form der 19 Strophen umfassenden Moritat «Das Verunglückte Schiff» erlebbar gemacht, die nicht nur in gedruckter Form nachzulesen ist, sondern die in gesungener Form auf der beigelegten CD zu finden ist — eine ausgezeichnete Idee, zu welcher der Schreibende dem Autor und den Herausgebern gratuliert.

Zitierweise:
Urs Niffeler: Rezension zu: Thomas Reitmaier, Vorindustrielle Lastsegelschiffe in der Schweiz. Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 35. Basel 2008. 236 S., 277 Abb. Musik-CD. Zuerst erschienen in: Jahrbuch Archäologie Schweiz, Nr. 92, 2009, S. 353-354.

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Zuerst veröffentlicht in

Jahrbuch Archäologie Schweiz, Nr. 92, 2009, S. 353-354.

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