M. Niehuss: Familie, Frau und Gesellschaft

Cover
Titel
Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945-1960


Autor(en)
Niehuss, Merith
Reihe
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 65
Erschienen
Göttingen 2001: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
425 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uta C. Schmidt

Mit „Familie, Frau und Gesellschaft“ legt Merith Niehuss eine detailreiche Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland für die wichtige gesellschaftliche Formierungsphase zwischen 1945 und 1960 vor. Es handelt sich bei dieser Arbeit um ihre 1993 von der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommene Habilitationsschrift. In der Einleitung skizziert die Autorin den allgemeinen Forschungsstand, ihren strukturgeschichtlichen Ansatz und Grundprobleme der demographischen Analyse.

Die Forschung zur Familie erhielt seit der vielbeachteten Klage aus dem Jahre 1977, dass „bis vor kurzem [...] es selbst die Sozialhistoriker nicht beunruhigt [habe], dass man über die geschichtlichen Erscheinungsformen von Familie und Haushalt so gut wie nichts wusste“ (S. 8), vor allem durch die sich auch in Deutschland entfaltende Frauen- und Geschlechterforschung wichtige Impulse, so dass, nach Niehuss, mittlerweile ein sehr differenziertes Bild zum Strukturwandel der Familie in den Industrienationen vorliegt. Merith Niehuss schließt mit ihrem strukturbezogenen Ansatz nun die Lücken, die sich zwischen den zahlreichen Einzelstudien auftun.

Ansatzpunkt ihres Interesses ist die Einsicht, dass die Familie, als Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und Privatheit angesiedelt, nahezu jeden denkbaren gesellschaftlichen Bereich berührt und somit als wichtige Grundeinheit in den historischen Blick zu nehmen ist (S. 16). Diesen umfassenden Anspruch beschränkt die Autorin in einer, sich von zeitgeistgetriebenem Profilierungsgebahren wohltuend absetzenden (und deshalb schon fast irritierenden) Argumentation: Zum einen legitimiert sie gegen sozial- und alltagsgeschichtliche Trends ihr strukturgeschichtliches Interesse an „Verhältnissen, Zuständen und überindividuellen Entwicklungen und Prozessen“; zum anderen ihren relativ kurzen Untersuchungszeitraum von 15 Jahren, der ihr jedoch gerade deshalb einen um so differenzierteren Blick auf die Binnenstrukturierungen und –entwicklungen ermöglicht.

Niehuss’ Ausführungen zu den Grundproblemen der demographischen Analyse machen die politischen Interessenskonstellationen sichtbar, die jeweils zu spezifischen Erhebungsverfahren führten. Sie liefert damit einen erneuten Beweis für die Bedeutung empirischer Sozialforschung als historische Überlieferung. Allerdings muß sie als Historikerin auch „geschlagen“ zur Kenntnis nehmen, dass der politisch erfolgreiche „Volkszählungs-Boykott“ Mitte der 80er Jahre, an dem sie als Akteurin beteiligt war, unter historiographischen Gesichtspunkten zur Verhinderung von historischem Analysematerial geführt hat: Der Aussagewert der „bis zum Skelett abgemagerten Volkszählung“ (Niehuss) für sozialgeschichtliche Fragestellungen geht seitdem gegen Null. Die seit den 80er Jahren „teilweise hysterische Diskussion um den Datenschutz“ macht Niehuss denn auch für die Reduzierung ihres Quellenmaterials – der amtlichen Statistik insgesamt – und dessen geringe Verfügbarkeit für sozialgeschichtliche Fragestellungen verantwortlich.

Der Analyseteil des Buches gliedert sich in drei Hauptkapitel. Unter der Überschrift „Familien zwischen Kapitulation und Währungsreform“ liefert Niehuss zunächst eine detaillierte Bestandsaufnahme der demographischen Strukturen nach 1945 im Kontext von Wanderungsbewegungen und Kriegsverlusten. Sie umreißt die Strukturbedingungen familiären Lebens vor der Währungsreform zwischen Wohnungsnot, weiblicher Subsistenzwirtschaft und außerhäuslicher Erwerbsarbeit, und sie beschreibt anhand detailreichen quantitativen Umfragematerials typische Nachkriegsschicksale. Nie wieder waren die Lebensbedingungen für Kinder, Frauen und Männer so ungleich wie in dieser unmittelbaren Nachkriegszeit. Einer intakten Familie kam neben Gesundheit, Lebenstüchtigkeit, Intelligenz und Glück – als Startbedingung in die Aufbauphase der Bundesrepublik – eine Schlüsselstellung zu.

Unter der Überschrift „Familien zwischen kollektiver Not und individuellem Aufstieg in den 50er Jahren“ analysiert Niehuss dann die strukturellen Rahmenbedingungen, die durch die Wohnungs-, Familien- und Arbeitsmarktpolitik für die soziale Lage der Familien gesetzt wurden. Hier liegt m.E. eines der Hauptverdienste des Buches: Mit ihrem Datenmaterial zeichnet die Autorin ein dichtes gesellschaftliches Panorama, vor dem sich die Relevanz und Brisanz der geradezu ubiquitär geführten zeitgenössischen Diskurse zur Positionierung der Familie als „Keimzelle des Staates“ nach allen Seiten hin in ihren realitätsformierenden Dimensionen bestimmen lassen.

Im dritten analytischen Kapitel skizziert die Autorin Entwicklungsprozesse von Familiengründung und Familienplanung zwischen 1939 und 1960. Herauszuheben ist hier der einführende Teil mit methodischen Vorüberlegungen, in denen die Autorin die Vor- und Nachteile des „Familienlebenszyklus“ diskutiert, eines Normkonzepts des amerikanischen Familiendemographen Paul C. Glick. Dem Laien in Bevölkerungswissenschaft erschließen sich hier kritisch die Aussagefähigkeiten und Interpretationsmöglichkeiten von statistischem Datenmaterial. Und so kann diese Einführung zwischen den Zeilen auch als Appell gelesen werden, sich von der Evidenz des „harten“ Materials nicht blenden zu lassen und nicht zu meinen, es belege eindeutig, wie es eigentlich gewesen ist. Stattdessen gilt es, die Ein- und Ausschlusskriterien empirischer Erhebungs- und Analyseverfahren ebenso mit zu reflektieren wie die Interessenslagen, die zu den Untersuchungen führten. Dies schmälert nicht ihren Aussagewert für eine Rekonstruktion vergangener Erfahrungs- und Lebenswelten, sondern präzisiert ihn.

Niehuss veranschaulicht mit einem treffenden Beispiel, dass quantitative Daten nur in einer Kombination mit qualitativen Materialien historische Erkenntnis erweitern: „... die Familiengründung ist mit dem Datum der Hochzeit ein empirisches Faktum, für die Betroffenen jedoch ist die Heirat ein gesellschaftliches Ereignis, das wiederum die Mentalität der Menschen in ihren Schichten wiederspiegelt“ (S. 301). So führt die Verfasserin ihr letztes Analysekapitel nach den methodischen Vorüberlegungen mit Ausführungen über die zeiten- und schichtenspezifischen Umstände der Heirat als individuelles wie kollektives Ereignis ein. Die gesellschaftlichen Normen und Zwänge um die Eheschließung werden untersucht, ehe sie sich den demographischen Langzeittrends in der „familiären Bevölkerungsweise“ zuwendet.

In einem kurzen und knappen Ausblick fasst die Autorin ihre wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammen. Hervorhebenswert erscheint mir an dieser Stelle ein Anfang der 50er Jahre einsetzender und für die Familienentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts völlig neuer Trend: „Nunmehr genügte auch vielen Ehefrauen aus Arbeiterfamilien und Familien unterer Angestellter die Nur-Hausfrauentätigkeit nicht mehr [...]. Nicht mehr allein der Not gehorchend gingen Frauen dieser Erwerbsarbeit nach und legten sie nieder, wie die älteren Generationen, wenn das familiäre Gesamteinkommen es erlaubte, sondern es wandelten sich die anfänglichen Notmotive des Haushaltsaufbaues Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre in Motive einer Steigerung der Lebenshaltung, hin zu einer geänderten Rollenauffassung verheirateter Frauen insgesamt“ (S. 382). Und in ihrem letzten Satz gewährt uns die Autorin auch noch einen Einblick in die beginnenden „dynamischen Zeiten“ der 60er Jahre, in denen zunehmend auch Frauen und Kinder Rücksicht auf ihre individuellen Belange einforderten und die Beziehungen zwischen Vater, Mutter und Kind schwieriger wurden.

Dem Quellen- und Literaturverzeichnis dieser Arbeit kommt eine besondere Bedeutung zu. Es verzeichnet in einer umfassenden, bisher so nicht vorliegenden Form zeitgenössische Materialien quantitativer wie qualitativer Art zur Rolle der Familie in der Formierungsphase der Bundesrepublik. Es liefert damit einen unschätzbaren Fundus für weitere sozial-, alltags-, politik-, geschlechter- oder mentalitätsgeschichtliche Forschungen zu Familien in den deutschen Nachkriegsgesellschaften. Das Buch schließt mit einem umfangreichen Verzeichnis der Tabellen, Graphiken und Abbildungen und einem sorgfältigen Sachregister, die eigene Analysen des Datenmaterials sowie die zielgerichtete Suche nach Informationen erheblich vereinfachen.

Das Format des Buches erschließt sich in Gänze erst dann, wenn man mit ihm arbeitet, d.h. sich mit ihm im Kontext eigener Fragestellungen auseinandersetzt. Niehuss gelingt es in ihrer wissenschaftlichen Erzählung, die aufwendig und sorgfältig zusammengetragenen und ausgewerteten Strukturdaten mit Leben zu füllen und Interpretationsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dabei ist ihr Stil präzise und unprätentiös. Ihr erzielter Erkenntnisgewinn liegt in der bereits angesprochenen interpretatorischen wie narrativen Verbindung von quantitativen und qualitativen Materialien. Das Buch wird zum Referenzwerk für alle werden, die sich – mit unterschiedlichen Perspektiven – der deutschen Zeitgeschichte widmen. Es setzt den Rahmen für eine noch ausstehende Parallelstudie zur Strukturgeschichte der Familie in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1965. Darüber hinaus liefert es das Basismaterial für eine sich möglicherweise dann anschließende beziehungsgeschichtliche Darstellung zeitgleicher Entwicklungen in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften.

Eine Bemerkung zum Schluß: Vor dem Hintergrund der in Abgrenzung zu Konzepten von „Frauengeschichte“ theoretisch auf hohem Niveau geführten Diskussion um „gender“ als historische Struktur- und Bewegungskategorie wirkt Niehuss’ Konzentration auf die „Frau“ überholt. Der Titel ihres Buches scheint die bereits vielfach historisch zurückgewiesene Festschreibung von „Frau“ auf „Familie“ geradezu erneut zu bestätigen. Das Buch zeigt hingegen, dass und wie ein pragmatisch gewählter Focus auf die Lebensrealitäten von Frauen differenzierte Einsichten in die geschlechtliche Arbeitsorganisation der Gesellschaft ermöglicht. Niehuss schreibt mit ihrer „Frauengeschichte“ eine Allgemeingeschichte der Familie in der frühen Bundesrepublik.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension