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H-Soz-Kult
 

Das Historische Buch 2007

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Entangled History: nationale und europäische Geschichte in globaler Perspektive
Thematischer Schwerpunkt 2008
Publikumspreis

Zeitgeschichte

Essay von Christoph Classen für H-Soz-Kult

1. Rang (72 Punkte, 16 Voten)

Ritter, Gerhard A.: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats. München: C.H. Beck Verlag 2006.

Für Leser mit zeithistorischen Kenntnissen, die über sozialpolitisches Grundlagenwissen verfügen, bietet das Buch von Gerhard Ritter hervorragende Informationen. Die verarbeiteten Quellen werden sehr gut lesbar und klar strukturiert aufbereitet. Gegenwärtige Probleme des Sozialstaates werden vor dem Hintergrund der Vereinigungs-Sozialpolitik in der Transferphase erklärbar, die Dilemmata der handelnden Personen werden verständlich, ebenso wie das Desiderat eines über Legislaturperioden hinausgehenden konsensualen sozialpolitischen Konzepts.
Friedhelm Wolski-Prenger (Das Parlament 20.11.2006)
http://webarchiv.bundestag.de/archive/2007/0206/dasparl...html


2. Rang (52 Punkte, 10 Voten)

Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.

Das oft betonte ‚unwahrscheinliche Gelingen’ der Bundesrepublik beruhte nicht nur auf Währungsreform und ‚Wirtschaftswunder’. Jens Hacke untersucht in seiner Dissertation die Entwürfe einer kaum vergangenen Gegenwart, die in der alten Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre einer vehementen Kritik verfielen, ohne die jenes ‚unwahrscheinliche Gelingen’ der Bundesrepublik aber nur unvollständig verstanden werden kann. Die Arbeit liefert wichtige neue Einsichten in die Ideengeschichte. Im Nachhinein zeigt sich der gemeinsame Beitrag zweier sich bekämpfender Positionen – der linksliberalen Diskurstheoretiker und der rechtsliberalen Common-Sense-Theoretiker – zur Entwicklung eines demokratischen Selbstverständnisses der alten Bundesrepublik. Die Linksliberalen taten dies besonders durch eine Öffnung der theoretischen Arbeiten zur angelsächsischen Philosophie. Die Liberalkonservativen suchten vor allem an deutsche Traditionen anzuschließen, überwanden jedoch die Fixierung auf Nation und Gemeinschaft. Es ist Hackes Leistung, die Bedeutung dieser Liberalkonservativen herausgearbeitet zu haben. Ulrich Bielefeld für H-Soz-Kult

Dass diese politischen Philosophen [Hermann Lübbe, Robert Spaemann und Odo Marquard] in Münster, am Collegium Philosophicum der Universität, eine Schule bildeten, die die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen einer breiteren liberalkonservativen Strömung vor allem in den siebziger und achtziger Jahren intellektuell nachhaltig prägte - diesen Zusammenhang und seine politisch-kulturelle Bedeutung aufzuzeigen ist ein zentrales Verdienst dieser Untersuchung. Sie konzentriert sich - aus der Warte der politischen Theorie - vorrangig auf intellektuelle Elitendiskurse, deren Wirkungsgeschichte und deren Verbindung mit der allgemeinen politischen Kultur historisch-empirisch freilich mehr noch zu konkretisieren und zu differenzieren wäre. Nichtsdestoweniger vermag Hacke eine stringente und sehr plausible Argumentation zu entfalten. Dass man dies heute lieber intellectual history nennt, ändert im Übrigen nichts daran, dass es sich um klassische Ideengeschichte in ihrem besten, reflektierten Sinne handelt, deren Erkenntnispotentiale Hacke in der praktischen Anwendung eindrücklich unter Beweis stellt - was wiederum ganz dem Denkstil der hier porträtierten Liberalkonservativen und überhaupt einem urkonservativen Habitus entspricht: sich auf das Gelingen der Praxis zu konzentrieren statt vorgängigen Theorien zu folgen. Das Ergebnis, im doppelten Sinne, kann sich sehen lassen.
Andreas Rödder (FAZ 29.01.2007)
http://www.faz.net/s/RubA330E54C3C12410780B68403A11F948...html


3. Rang (40 Punkte, 9 Voten)

Dietze, Carola: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner ; 1892 - 1985. Göttingen: Wallstein Verlag 2006.

Helmuth Plessner gibt ein Beispiel dafür ab, wie man im Laufe eines bewegten Lebens an wissenschaftlichen und politischen Überzeugungen festhalten kann, die grundlegend für den Liberalismus in der modernen Gesellschaft sind. Es ist das Verdienst von Carola Dietze, mit ihrer historisch fundierten, sehr lesenswerten Biografie zur erneuten und vertieften Beschäftigung mit diesem großen Philosophen des 20. Jahrhunderts anzuregen. Jens Hacke für H-Soz-Kult

Carola Dietzes Studie fußt auf einem breiten Quellenfundament: der Nachlass Plessners (in Groningen), die Universitätsarchive von Köln, Groningen, Hamburg und Göttingen, Nachlässe, Sammlungen und offizielles Schriftgut in über 30 Archiven, dazu Auskünfte von Zeitzeugen geben die Gewähr für umfassendes und wohl abschließendes Bild dieses Philosophen. Dabei verliert sich die Autorin nicht in unwichtigen Details und behält stets die wichtigen Fragestellungen im Blick. Und nicht zuletzt versteht sie es, durch einen flüssig geschriebenen Text das Interesse an Person, Schicksal und Werk Plessners wachzuhalten, sodass die Lektüre des knapp 540 Seiten umfassenden Textteils kein einziges Mal an Faszination verliert. Diese Arbeit erhielt 2006 den Preis des Deutschen Historikerverbandes. Nach der Lektüre kann man nur sagen: zu Recht.
Patrik von zur Mühlen (AfS 16.05.2007)
http://library.fes.de/fulltext/afs/htmrez/80834.htm


3. Rang (40 Punkte, 9 Voten)

Siegfried, Detlef: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen: Wallstein Verlag 2006.

Einen wirklichen Durchbruch stellt die monumentale, ganz aus den Quellen gearbeitete Studie des Kopenhagener Zeithistorikers Detlef Siegfried zu Konsum und Jugendkultur der 1960er-Jahre dar, die 1968 geradezu modellhaft kontextualisiert. Siegfried unterstreicht eindrucksvoll, dass die außerparlamentarische Revolte weniger der Katalysator einer umfassenden Liberalisierung, Demokratisierung oder gar Verwestlichung der bundesdeutschen Gesellschaft war als vielmehr ein durch den sozialen Wandel selbst geschaffenes, ja überhaupt erst ermöglichtes Phänomen. [...] Das enorme Verdienst von Siegfrieds Buch, das aus einer 2005 an der Universität Hamburg angenommenen Habilitationsschrift hervorgegangen ist, liegt darin, dass der Autor ohne übertriebene theoretische Ambitionen differenziert rekonstruiert, wie sich in den 1960er-Jahren Konsum und Politik vermischten. Fürchteten linke und rechte Kulturpessimisten stereotyp, in der Nachkriegszeit wachse eine entpolitisierte und hedonistische Jugend heran, so sei das genaue Gegenteil eingetreten: Wachsende Konsumorientierung und Politisierung verliefen parallel. Philipp Gassert für H-Soz-Kult

Gegründet auf imponierende Quellen- und Literaturkenntnis, vermittelt Siegfried ein komplexes und differenziertes Bild, das er souverän und mit scharfem Blick für symbolisch-kulturelle Verschiebungen erörtert; hier überzeugen Interpretationen und Urteile stets. Für die weitere Forschung besonders hervorzuheben sind die durchgängige Berücksichtigung der Geschlechterfrage, die die männliche Dominanz in den Popmusikszenen und ihrer Politisierung erhellt, und die innovative Analyse der Handlungsmöglichkeiten ethisch-politisch motivierter Unternehmer im Medienbereich. Hier liegt ein Standardwerk vor, allerdings eines zum akademischen Nachschlagen; eine deutliche Straffung des ausgebreiteten Materials wäre für die nicht professionelle Lektüre eindeutig ein Gewinn.
Kaspar Maase (AfS 12.03.2007)
http://library.fes.de/fulltext/afs/htmrez/80814.htm


5. Rang (37 Punkte, 9 Voten)

Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium: 1982 - 1990. [Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6; hrsg. von Karl Dietrich Bracher]. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2006.

Die analytische Stärke von Wirschings Studie zeigt sich vor allem in jenen Abschnitten, in denen er die Engpässe und Sachzwänge modernen Regierens in einem sehr pluralistischen politischen System wie dem der Bundesrepublik Deutschland verdeutlicht und sie mit dem Hinweis auf die zahlreichen institutionellen wie individuellen "Mitspieler" oder sogar "Vetospieler" in Politik und Gesellschaft erklärt. Zweifellos ist diese Analyse zutreffend und zudem höchst aktuell, weil die geschilderten Probleme bis heute gelten und sich die von Wirsching ebenfalls erwähnte "Medialisierung" der Politik sogar noch verstärkt hat. Ja, man müsste sie noch um den Hinweis auf die Beschneidung nationalstaatlicher Handlungsautonomie im Zeichen von "Europäisierung" und "Globalisierung" ergänzen. Reiner Marcowitz für H-Soz-Kult

Der Augsburger Historiker begnügt sich glücklicherweise nicht damit, das »System Kohl« zu beschreiben, sondern wendet sich auch dem Aufstieg sowie der Krise der Grünen zu und charakterisiert die SPD in der Opposition. Wirsching spart die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse nicht aus und schildert eindringlich die außenpolitischen Entwicklungen, die im Zeitraum von 1982 bis 1989 zwischen Eiszeit und neuer Dynamik oszillierten. Er entwirrt das Geflecht der Deutschlandpolitik mit dem so überraschenden Ausgang der Wiedervereinigung, indem er nach längerfristigen Ursachen und kurzfristigen Anstößen fragt. Packend wird der »deutschlandpolitische Showdown« erzählt, und den Abschluss des Werkes bildet die vertragliche Gestaltung der deutschen Einheit.
Edgar Wolfrum (Die Zeit 18.05.2006)
http://www.zeit.de/2006/21/P-Wirsching