Das Historische Buch 2008
Alte Geschichte Mittelalterliche Geschichte Geschichte der Frühen Neuzeit Neuere Geschichte (langes 19. Jh.) Neueste Geschichte Zeitgeschichte Europäische Geschichte Außereuropäische Geschichte Lehrbücher / Überblicksdarstellungen Offene Kategorie Political History in Cultural Perspective / Kulturgeschichte des Politischen / neue Politikgeschichte Thematischer Schwerpunkt 2009 Publikumspreis | PublikumspreisEssay von Rüdiger Hohls für H-Soz-Kult 1. RangWildt, Michael: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007. In dieser Perspektive untersucht Michael Wildt in einer scharfsinnig argumentierenden Darstellung das Phänomen der "Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz" zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Wie konstituierte sich die Volksgemeinschaft im unmittelbaren Vollzug der Ausgrenzung anderer, in der Gewalt gegen Juden, die bisher Nachbarn in Dorf und Kleinstadt waren? Das ist die Leitfrage eines wichtigen und anregenden Buches von Michael Wildt.
Wildt ist in den letzten Jahren zu einem der renommiertesten NS-Forscher, ja Zeithistoriker überhaupt geworden, nicht zuletzt mit seiner generationellen Kollektivbiografie einer entscheidenden Tätergruppe des Holocaust, des Führungskorps im Reichssicherheitshauptamt: der "Generation des Unbedingten". In dessen Fortsetzung steht unverkennbar die Studie über die Volksgemeinschaft; intellektuelle Verbindungsfäden sind Carl Schmitts Rechtfertigung der homogenen Volksdiktatur und - Wildts Antipode zu Schmitt - Ernst Fraenkels Konzept des nationalsozialistischen "Doppelstaates" mit dem Janusgesicht von Normen und Maßnahmen. Aber jetzt richtet sich der Blick nicht auf eine schmale Elite, sondern auf die ganz normalen Deutschen und ihre Rolle bei der zunehmenden Ausgrenzung ihrer jüdischen Nachbarn bis an die Schwelle des Krieges und der damit beginnenden systematisierten Vernichtung. 2. RangAssmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007. Aleida Assmann misst in ihrem jüngsten Buch den kollektiven Puls unserer Zeit, indem sie den Verschiebungen im deutschen Geschichtsbewusstsein seit der Wende nachspürt. Ob sich mit der deutschen Geschichte wieder Staat oder Nation machen lässt, ist eine Frage, die die Autorin in Auseinandersetzung mit kulturkonservativen Kritikern wie Karl-Heinz Bohrer und prozessorientierten Philosophen wie Hermann Lübbe diskutiert. Mit gewohnter Souveränität beleuchtet Assmann ihr Thema in zwei großen thematischen Blöcken. […]Die Nation, so ihr Schlusswort, muss sich in mehreren Geschichten wiederfinden. Mit diesem Plädoyer für eine pluralisierte Geschichtsauffassung beendet Assmann eine Studie, die ein weiterer wichtiger Baustein ihrer andauernden Arbeit am deutschen Gedächtnis ist. 3. RangPyta, Wolfram: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. München 2007. Wolfram Pyta übernimmt demgegenüber den ambitionierten Versuch, Hindenburg als eine aktive politische Herrschergestalt zu zeigen, und er tut dies erstaunlicherweise genau auf der Ebene, die gemeinhin für die mangelnde politische Gestaltungskraft des Feldmarschalls und Reichspräsidenten spricht: seinem Mythos. […] Trotzdem bleibt der Arbeit – neben dem wichtigen Hinweis auf Hindenburg als charismatischem Bindeglied zwischen Bismarck und Hitler – vor allem das große Verdienst, den nationalen Mythos Hindenburg nachhaltig destruiert und Hindenburgs aktive Rolle bei der Zerstörung der Weimarer Republik in aller Deutlichkeit herausgearbeitet zu haben. Hindenburg war persönlich tatsächlich wenig mehr als ein eitler und selbstgefälliger, vor allem aber seine eigene Bedeutung weit überschätzender Egomane, dem es im Grunde immer mehr um seinen eigenen Mythos als um die vielbeschworene Nation ging. Wolfgang Kruse für H-Soz-Kult Diese voluminöse Biografie des zweiten Reichspräsidenten der Weimarer Republik ist ein wichtiges und durchweg flott zu lesendes, wenngleich gelegentlich detaillastiges Buch. Auch wenn man nicht mit seinem Zuschnitt und allen Thesen übereinstimmen mag und das Buch letztlich kaum darüber Auskunft gibt, inwieweit Hindenburg als parteiübergreifende Figur in der pluralistischen Gesellschaft, die Weimar eben auch war, überhaupt wahrgenommen wurde: Jeder, der sich mit der politischen Geschichte der ersten deutschen Demokratie und den Anfängen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beschäftigt, wird es künftig zur Hand nehmen müssen. Denn Wolfram Pyta räumt nicht nur mit einigen alt vertrauten Grundannahmen auf, sondern er weist Hindenburg auch den ihm gebührenden verantwortlichen Platz in der jüngeren deutschen Geschichte zu. Pytas Buch räumt mit vielen liebgewordenen Anschauungen über den Offizier und Politiker Hindenburg auf. Er zeigt den kalten Machtmenschen, als der sich dieser spätestens mit dem Sturz des Kriegskanzlers Bethmann Hollweg erwiesen hatte, in einer Fülle von Dokumenten und scharfsinnigen Analysen. Ein grosser Wurf, trotz mancher Wiederholung und gelegentlichen wissenschaftssprachlichen Verirrungen. Dem selbstformulierten Anspruch, Politik- und Kulturgeschichte fruchtbar zu verbinden, ist Pyta merklich besser gerecht geworden als kulturalistische Brauseköpfe vor ihm. Mit seiner höchst lesenswerten Studie trägt Pyta dazu bei, neues Interesse auf die nach wie vor "bohrende Frage" nach dem Ende der ersten deutschen Demokratie zu lenken und das alte Desiderat einer großen, quellengestützten Hindenburg-Biographie zu füllen. 4. RangBachmann-Medick, Doris: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006. Doris Bachmann-Medicks Buch gibt eine hervorragende Einführung in die kulturwissenschaftlichen Debatten der letzten dreißig Jahre. Sie zeigt insbesondere, wie die "cultural turns" die Entwicklung vorantrieben. […] In Deutschland sehen die Verhältnisse anders aus. Der Integrationswillen ist auf beiden Seiten geringer. Eine einflußreiche Schicht von Intellektuellen mit Migrationshintergrund hat sich nicht herausgebildet. Solange dies nicht der Fall ist, wird bei uns an den "Cultural Studies" angelsächsischer Prägung kein Bedarf bestehen. Die von ihnen ausgehenden Anregungen sind in den bestehenden Kulturwissenschaften bestens aufgehoben. Auch das zeigt Bachmann-Medick durch ihre überzeugende Studie. 5. RangKaelble, Hartmut: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart. München 2007. With this volume Kaelble documents his established reputation and position as the leading social historian of Europe. One of the many strengths of the book is the fact that it puts Europe in a global context. Kaelble goes beyond Europe as the EU and thereby discerns other patterns than those which concentrate on the political crisis of today’s European Union. In doing so he also puts the EU in perspective. However, in Kaelble’s understanding of Europe, both Russia and Turkey are obviously excluded. Bo Stråth für H-Soz-Kult Hartmut Kaelble kommt das Verdienst zu, Aspekte und Phänomene der europäischen Entwicklung aus einem transnationalen, europäischen Blickwinkel zu betrachten. […] Das Buch stellt für Nichthistoriker zweifelsohne eine spannende Entdeckungsreise durch Europa dar, bei der einerseits die Gemeinsamkeiten verblüffend, andererseits die Unterschiede lehrreich wirken können. Viele der behandelten Themen enthalten aktuelle Fragen der politischen und öffentlichen Debatte: nach sozialen Grundkonstellationen wie Familie, Arbeit und Werten etwa, nach sozialen Hierarchien im Sinne von sozialen Ungleichheiten oder Migration und schließlich nach dem Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Staat. |