Das Historische Buch 2004
Julia Angster | Prof. Dr. Birthe KundrusWissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung Ausbildunggeb. 1963 in Hamburg, aufgewachsen in Reinbek, Schulabschluss am dortigen Sachsenwald-Gymnasium 1983-1989 Studium der Mittleren und Neueren Geschichte im Hauptfach, der Politischen Wissenschaften sowie der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Hamburg 1990-1993 Stipendiatin des von der Volkswagenstiftung geförderten Graduiertenkollegs "Sozialgeschichte von Klassen, Eliten, Schichten und Gruppen" an der Universität Bielefeld 1993 Promotion mit der Dissertation: Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg (Hamburg: Christians Verlag, 1995) 1994-Februar 2003 wissenschaftliche Assistentin/Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 1998-2000 Habilitationsstipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG 2002 Habilitation an der Universität Oldenburg mit der Studie Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien (Köln: Böhlau Verlag, 2003); Privatdozentin an der Universität Oldenburg seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung im Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Gewalt im Sommersemester 2005 Maria-Goeppert-Mayer-Gastprofessorin für internationale Frauen- und Genderforschung an der Universität Hannover ForschungsschwerpunkteSozial- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Geschlechtergeschichte; Theorie und Geschichte der Gewalt Colonial/Postcolonial Studies; Erinnerungskulturen Jüngste Veröffentlichungen
Fragen zur historischen Forschungslandschaft und zu aktuellen Debatten2. a) Wie kamen Sie zur Geschichtswissenschaft? Was hat Sie motiviert, Geschichte zu Ihrem Beruf zu machen? Erfolge im Studium, Neugier auf und Interesse an menschlichen Lebens-, Denk- und Handlungsweisen, schließlich: Förderung durch meine Dozenten 2. b) Die Geschichtswissenschaften haben in den zurückliegenden Jahrzehnten zahlreiche Erweiterungen und Neuorientierungen der Frageansätze und Forschungsperspektiven erfahren. Welche halten Sie für die interessanteste und folgenreichste? Die Hinwendung zu mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen – und ihre Verschränkung mit sozial-, politik-, wirtschafts- und geschlechtergeschichtlichen Ansätzen. 2. c) Sehen Sie Forschungsfelder, denen man künftig mehr Aufmerksamkeit widmen sollte? Die Transnationale Geschichte erfährt ja im Augenblick schon eine erhöhte Aufmerksamkeit. Ansonsten sehe ich in der Vielfalt der Ansätze im Moment das größte Potential. 2. d) Mit der im Juni 1999 in Bologna verabschiedeten "Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister" wurde ein Reformprozess initiiert, der die Hochschulreformdebatten und -planungen nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten europäischen Ländern bestimmt. Im Rahmen von "Bologna" werden seither Harmonisierungs- und Koordinierungsstrategien vor allem hinsichtlich eines koordinierten Systems vergleichbarer und transparenter Abschlüsse, der Qualitätssicherung bzgl. der Studienabschlüsse und -organisation, aber auch eine Förderung der "europäischen Dimension" in inhaltlicher Hinsicht (Hochschulcurricula und Forschungskooperationen) verfolgt. Sechs Jahre nach "Bologna" entfalten die Reformen an den Universitäten und in den Studiengängen ihre eigene Dynamik und Wirkungsmächtigkeit. Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen diesen Reformprozess und welche Folgen erwarten Sie für die historische Ausbildung an Ihrer Universität? Diese Frage ist so komplex, dass eine kurze Antwort darauf schwer fällt, zumal ja nicht nur europäische Zielsetzungen, sondern auch das bundesdeutsche Setting der Hochschulen, also die föderale Struktur, die Probleme der chronischen Unterfinanzierung, der Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften gegenüber den „life sciences“, die Defizite in der schulischen Vorbildung der Studierenden, der Generationenwechsel uvm. anzusprechen wären. Im Moment scheint es, als ob die positiven Momente, die in der Reform stecken, u.a. ein stärkerer Praxisbezug, eine intensivere Leistungsspiegelung für die Studierenden, die Nachteile nicht wettmachen: inhaltliche Beschränkungen statt thematischer Vielfalt und Tiefe in der Lehre, demzufolge eher ein Schmalspurwissen und Schmalspurkompetenzen auf Seiten der Studierenden, damit auch düsterere Berufsaussichten von BA-Geschichtsabsolventen, eine immer weitere Erhöhung der Belastung der Lehrenden bei immer geringerem Personalbestand und schlechterer Bezahlung durch die Besoldungsreform. 3. Stellen Sie bitte Ihren persönlichen Favoriten unter den historischen Büchern des Jahres 2004 kurz vor und erläutern Sie Ihre Wahl. (15-20 Zeilen.) Mein persönlicher Favorit ist eine Quellenedition, nämlich Wilm Hosenfeld, „Ich versuche jeden zu retten“. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern, hg. von Jakob Vogel im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, München 2004. Zwar gehören Quelleneditionen „eigentlich“ nicht zu den auszulobenden Fachbüchern. Aber 1. kann auch eine Edition eine intellektuelle Leistung sein (nicht alle Editionen sind es, wie wir wissen), 2. sind derartige Bände gerade für die Lehre unabdingbar, und 3. ist dieser Band einfach ebenso bewegend wie erkenntnisfördernd. Hosenfeld, der durch die Rettung des Pianisten Wladyslaw Szpilmans im zerstörten Warschau 1944 und die Verfilmung dessen Schicksals durch Roman Polanski bekannt geworden ist, war sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg in Polen stationiert. In seinen Tagebüchern und Briefen schildert er, ein gläubiger Katholik und NSDAP-Mitglied, seine Erlebnisse und Einsichten in den Unrechtscharakter der deutschen Besatzungspolitik in Polen im Zweiten Weltkrieg. Allen Mahnungen zum Trotz geht er private Kontakte zu jüdischen und nichtjüdischen Polen ein. Insofern ist das Buch in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Nicht nur zeigt es erneut die Handlungsmöglichkeiten auf, die auch in der NS-Diktatur hätten ergriffen werden können, nicht nur präsentiert es erneut in einer Biographie die ganze Widersprüchlichkeit von Anziehung und Abstoßung, die vom NS-Regime ausging. Es belegt v.a., welche Bedeutung das Schreiben, der Austausch mit der Familie und das Zwiegespräch mit sich selbst, für diesen vielleicht außergewöhnlichen Mann hatte. |