Das Historische Buch 2003
Thomas Angerer | Dr. Achim LandwehrHeinrich-Heine-Universität Düsseldorf Kurzer LebenslaufGeburtsjahr und -ort; aufgewachsen / Schulabschluss in:geboren 1968 in Heilbronn; aufgewachsen in Heilbronn und in Bernau/Schwarzwald; Abitur 1988 am Kolleg St. Blasien Studienfächer und -dauer, Studienorte:Magisterstudium der Geschichte, Germanistik und Rechtswissenschaft an den Universitäten Augsburg, Freiburg, Basel und Dublin (1990-1995) Abschlüsse:Magister Artium 1995, Promotion 1999 in Freiburg i.Br. Thema der Promotion: Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg (erschienen Frankfurt a.M. 2000) Thema der Habilitation: derzeit Arbeit an einem (noch?!) als Habilitation geplanten Projekt mit dem Titel "Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570-1750" Tätigkeiten an Hochschulen oder Forschungseinrichtungen:1996-1998: Doktorand am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte in
Frankfurt a.M.; Zurückliegende Forschungsschwerpunkte:Geschichte der erzwungenen Assimilation; Geschichte Irlands; Policey in der Frühen Neuzeit Aktuelle Forschungsschwerpunkte:Geschichte der Wissens- und Wahrnehmungsformen; Theorien und Methoden der Kulturgeschichte; Kulturgeschichte des Politischen; Geschichte Venedigs Wichtige Monographien oder Herausgeberschaften
Fragen zur historischen Forschungslandschaft und zu aktuellen Debatten2. a) Wie kamen Sie zur Geschichtswissenschaft? Was hat Sie motiviert, Geschichte zu Ihrem Beruf zu machen? Entdeckt habe ich mein Interesse für die Geschichte bereits recht früh in der Schule. Allerdings habe ich sehr lange gezögert, Geschichtswissenschaft sowohl zu meinem Studienschwerpunkt als auch zu meinem Beruf zu machen. Ausschlaggebend für eine solche Entscheidung waren sicherlich meine schulischen und akademischen Lehrer, die zwar auch auf die (beruflichen) Schwierigkeiten hingewiesen haben, die sich mit einer solchen Entscheidung verbinden, die aber vor allem immer das Interesse und die Freude an wissenschaftlichen Inhalten gefördert haben. 2. b) Die Geschichtswissenschaften haben in den zurückliegenden Jahrzehnten zahlreiche Erweiterungen und Neuorientierungen der Frageansätze und Forschungsperspektiven erfahren. Welche halten Sie für die interessanteste und folgenreichste? Ohne Frage: die jüngste Diskussion um die Kulturgeschichte, die nicht nur in der Lage ist, einen lebhaften Streit zu initiieren, sondern auch an dem zentralen Paradigmenwechsel der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts anknüpfen kann, an der Annales-Historiographie. 2. c) Sehen Sie Forschungsfelder, denen man künftig mehr Aufmerksamkeit widmen sollte? Es sind wohl weniger dezidierte Forschungsfelder, die ich konkret vermisse, als vielmehr eine Neukartographierung der historischen Disziplinen insgesamt. Die üblichen chronologischen und geographischen Kategorisierungen - wie sie sich nicht nur in zahlreichen Lehrstuhlbezeichnungen finden, sondern auch in den Rubriken zum "Buch des Jahres"! - haben meines Erachtens Ihre Schuldigkeit getan. Für die Zukunft fände ich es interessanter, thematische Schwerpunkte auszuflaggen, wie sie beispielsweise schon für die Wissenschafts- oder Geschlechtergeschichte vereinzelt bestehen, aber auch für andere Bereiche in Angriff genommen werden könnten: für die Geschichte des Wissens, der Kommunikation, der Medien etc. 2. d) In den Medien werden seit längerem unterschiedliche Zukunftsdiskurse geführt, die Lösungen und Wege zur Bewältigung der gegenwärtigen Krisen- und Umbruchserfahrungen (Umbau des Sozial- und Leistungsstaates, Krise der europäischen Verfassungsentwicklung, Terrorismus und Terrorismusbekämpfung, Auflösung überkommener Lebensformen und Werte u.a.m.) aufzeigen sollen.Historiker sind an diesen Debatten kaum beteiligt. Lassen sich aus historischen Krisen- und Umbruchsphasen keine Lehren ziehen, Erfahrungen und Einsichten vermitteln? Müssen wir Historiker die öffentliche Diskussion Juristen und Verwaltungsexperten, Wirtschaftswissenschaftlern und Militärs überlassen? Sicherlich muesssen sich Historikerinnen und Historiker nicht vornehm zurueckhalten, wenn es um derartige aktuelle Diskussionen geht. Ich teile auch nicht unbedingt den Eindruck, sie seien nicht daran beteiligt, denke vielmehr, dass sie teilweise in den Medien recht gut vertreten sind. Aber vielleicht ist es auch nicht unbedingt empfehlenswert, jeder Sau hinterher zu laufen, die gerade durchs feuilletonistische Dorf getrieben wird. Moeglicherweise wird es einem Fach zuweilen auch als positiv angerechnet, wenn sie sich nicht jedem erstbesten Trend anschliesst, sondern sich auf grundlegende Fragen konzentriert. Wichtiger faende ich es demgegenueber, Ergebnisse der Forschung, die beispielsweise mit solchen aktuellen Diskussionen in Zusammenhang stehen, einem groesseren Publikum zu vermitteln (also beispielsweise die Ergebnisse der juengeren Militaergeschichte als Beitrag zu derzeitigen Formen der Kriegsfuehrung). 2. f) Deutschland begibt sich auf die Suche nach Spitzen-Universitäten. Verträgt sich Geschichtswissenschaft über die bloße fachliche Professionalität hinaus überhaupt mit dem Elitegedanken? Die Geschichtswissenschaft vertraegt sich prinzipiell recht gut mit einem Elitegedanken, solange damit impliziert ist, dass Gesellschaften einer Gruppe gut ausgebildeter Spezialisten beduerfen, die sich um ihre Vergangenheit kuemmert. 'Elite' wuerde sich in diesem Zusammenhang vor allem ueber den Grad der wissenschaftlichen Kompetenz bestimmen lassen. Etwas anderes sind die gegenwaertigen politischen Diskussionen um Eliteuniversitaeten etc. Hier geht es nach meinem Eindruck um die Bemaentelung eines Vorgangs, der vor allem eine grundlegende Umstrukturieriung der deutschen Universitaets- und Bildungslandschaft im Sinn hat. Ziel scheint mir dabei eine Konzentration auf kurzfristige (und moeglichst 'kostenneutrale') Erfolge zu sein, die laengerfristige Perspektiven, also die Bildung, und nicht nur die Ausbildung des Menschen, aussen vor laesst. In einem solchen System sehe ich die Geschichtswissenschaft und die Geisteswissenschaften insgesamt leider nicht verankert. Von daher wird sich in Zukunft noch erweisen, ob unser Fach ueberhaupt die Schwelle zur 'Elite' ueberschreiten darf. 3. Stellen Sie bitte Ihren persönlichen Favoriten unter den historischen Büchern des Jahres 2003 kurz vor und erläutern Sie Ihre Wahl. (15-20 Zeilen.) André Holenstein: Gute Policey und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Mein persoenlicher Favorit 2003 ist zugegebenermassen nicht gerade ein Leichtgewicht und daher zur abendlichen Lektuere im Bett nur bedingt zu empfehlen. Zwei Baende mit nahezu 1000 Seiten stellen ohne Zweifel eine Herausforderung dar - die allerdings in diesem Fall belohnt wird. Denn wer sich durch dieses beeindruckende Buch gearbeitet hat, bekommt nicht 'nur' eine Fallstudie zur fruehneuzeitlichen Policey in einem suedwestdeutschen Kleinstaat praesentiert, sondern einen Einblick in die Vielfalt furheneuzeitlichen Lebens. Dadurch, dass die Normenproduktion im Namen der 'guten Policey' keinen Lebensbereich ausser Acht liess, findet sich in Holensteins Buch ein ganzes Panorama an Themen aufgefaechert. Vor allem beeindruckt jedoch die Belegkette der zentralen These von Holenstein, die auf die vielfaeltigen Wechselwirkungen im Prozess der Normgebung und Normimplementation zielt. Wer wissen moechte, wie Obrigkeiten versuchten, ihre Untertanen zur Einhaltung von Normen zu bewegen, und wie diese Untertanen mit den jeweiligen Anforderungen umgingen, dem sei mehr als nur ein Blick in dieses Buch empfohlen. Homepage: http://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/kulturgeschichte/forschung_landwehr.php |