Das Historische Buch 2003
Thomas Angerer | Dr. phil. habil. Dieter GosewinkelUniversität zu Köln Lebenslaufgeb. 1956 in Fürth /Odenwald aufgewachsen und Schulausbildung in Hamm/Westfalen Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte in Freiburg/Breisgau und Genf (1976 - 84) Studienabschlüsse: 1. Juristisches Staatsexamen (1982) M.A., in Neuerer Geschichte (1984) Dr. phil., Universität Freiburg /Brsg.(1990) Habilitation im Fach Neuere Geschichte, Freie Universität Berlin (2000) Thema der Promotion: Adolf Arndt. Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie (1945 - 1961) Thema der Habilitation: Einbürgern und ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland Tätigkeiten an Hochschulen oder Forschungseinrichtungen: Tätigkeit am Institut für öffentliches Recht der Universität Freiburg, 1982 - 1990 Wissenschaftlicher Assistent am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, 1991 - 1997 Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt a.M., 2000-2001 Vertreter einer Professur für die Geschichte Westeuropas an der Freien Universität Berlin, 2001/02 Wissenschaftler am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin, Leiter der Arbeitsgruppe "Zivilgesellschaft: Historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven" (gemeinsam mit Jürgen Kocka), seit 2002 Vertreter einer Professur für europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität zu Köln (Wintersemester 2003/04) Zurückliegende Forschungsschwerpunkte: Politische Zeitgeschichte, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Rechtsgeschichte, Staatsrecht Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, europäische Geschichte, Zeitgeschichte Frankreichs, Geschichte der Staatsbürgerschaft in Europa, Rechtsgeschichte Wichtige Monographien und HerausgeberschaftenAutorAdolf Arndt. Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie (1945 - 1961), Bonn 1991 Einbürgern und ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd.150), 1.Aufl. Göttingen 2001/ 2.Auflage 2004 Herausgeber(gemeinsam mit Dieter Rucht, Wolfgang van den Daele, Jürgen Kocka): Zivilgesellschaft - national und transnational, Berlin 2004 Fragen zur historischen Forschungslandschaft und zu aktuellen Debatten2. a) Wie kamen Sie zur Geschichtswissenschaft? Was hat Sie motiviert, Geschichte zu Ihrem Beruf zu machen? sehr unterschiedliche Gründe:
2. b) Die Geschichtswissenschaften haben in den zurückliegenden Jahrzehnten zahlreiche Erweiterungen und Neuorientierungen der Frageansätze und Forschungsperspektiven erfahren. Welche halten Sie für die interessanteste und folgenreichste? die konstruktivistische Wende, die nicht nur die Kulturgeschichte erneuert und gestärkt hat, sondern alle Bereiche der Geschichtswissenschaft einschließlich der politischen Geschichte prägt 2. c) Sehen Sie Forschungsfelder, denen man künftig mehr Aufmerksamkeit widmen sollte? methodisch: der Geschichte von transnationalen Beziehungen und Transfer in vergleichender geschichtswissenschaftlicher Forschung;
2. d) In den Medien werden seit längerem unterschiedliche Zukunftsdiskurse geführt, die Lösungen und Wege zur Bewältigung der gegenwärtigen Krisen- und Umbruchserfahrungen (Umbau des Sozial- und Leistungsstaates, Krise der europäischen Verfassungsentwicklung, Terrorismus und Terrorismusbekämpfung, Auflösung überkommener Lebensformen und Werte u.a.m.) aufzeigen sollen.Historiker sind an diesen Debatten kaum beteiligt. Lassen sich aus historischen Krisen- und Umbruchsphasen keine Lehren ziehen, Erfahrungen und Einsichten vermitteln? Müssen wir Historiker die öffentliche Diskussion Juristen und Verwaltungsexperten, Wirtschaftswissenschaftlern und Militärs überlassen? Zunächst: Historiker sind fast immer an öffentlichen Debatten beteiligt, wie die Stellungnahmen von Wehler, Winkler, Kocka, Eckert etc. zum Thema EU-Erweiterung und Tükei zeigen. Wem diese "Interventionen" kritikwürdig erscheinen, möe sich als Historiker selbst einmischen und öffentlich widersprechen, denn die meisten verfügen über entsprechende publizististische Mittel. Zum zweiten: Historia non est magistra vitae - jedenfalls nicht in dem flachen Sinn eines historischen Lehrstücks und einer Handlungsanweisung. Historiker können aber sachlich informierend, aufkärend, vergleichend zwischen historischen und gegenwärtigen Konstellationen, kritisch und im besten Sinn ideologiekritisch Stellung nehmen in öffentlichen Debatten, in denen historische Argumente immer wieder - und dies allzu häufig uninformiert, parteiisch, unkritisch, schlimmstenfalls systematisch desinformierend benutzt werden. In dieser Hinsicht können Historiker nicht nur Stellung zu öffentlichen Angelegenheiten nehmen - sie müssen es aus einem Verständnis von Geschichtswissenschaft heraus, das die weitgehend öffentliche Finanzierung der Geschichtswissenschaft mit öffentlicher Verantwortung verbindet. Niemand in unserem Fach wird beanspruchen wollen, als praeceptor Germaniae aufzutreten und ein entsprechendes Selbstbewußtsein schnell selbstkritisch historisierend der Hybris des 19. Jahrhundert zuschreiben. Aber niemand, der Geschichte wissenschaftlich erforscht, publiziert oder lehrt, kann annehmen, damit nicht (auch jedenfalls) in öffentliche Debatten hineinzuwirken. Kurzum: Historiker sind von jeher an öffentlichen Debatten beteiligt, dürfen und sollten dies auch meines Erachtens sein. Entscheidend ist die Pluralität der Stellungnahmen und Veröffentlichungsmöglichkeiten, die Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit gewährleistet. Unter diesen Bedingungen haben Historiker neben Juristen, Wirtschaftswissenschaftlern etc. viel zu sagen - aber auch nicht mehr als diese. 2. e) Elite oder Eliten? Das Vertrauen in die Rolle und Prämierungsmodelle der Eliten moderner Gesellschaften scheint zu schwinden. Ist die Aufspaltung unsere Gesellschaft in funktional spezialisierte, oft aber unverbundene Hochleistungsbereiche (Wirtschaft, Politik-Verwaltung, Technik-Medizin-Wissenschaft) unvermeidlich? Oder bieten die gegenwärtigen Umbruchsszenarien die Chance zu einer Neudefinition auch dessen, was Bildung sein soll und wie Elitenrekrutierung und Bildung zusammenkommen? Eine Gesellschaft, die den Anspruch aufgibt, in der Vermittlung von Bildung einen gewissen Zusammenhang der Wissensbereiche herzustellen, gibt den Anspruch auf ihren Zusammenhalt auf. Dieser - an sich banalen - These steht der Befund rasch zunehmender Differenzierung und Spezialisierung der Wissensbereiche gegenüber. Manches spricht dafür, da߸ wir angesichts dieser Wissensexplosion höher, besser, umfassender ausgebildete Eliten benötigen, denen vermehrte Verantwortung in der Synthese und politischen Umsetzung dieses Wissens zukommt. Aber ist die These von einer spezifisch neuen, wachsenden Kluft zwischen verfügbarem Wissen und Wissensbewältigungskapazität zutreffend ? Hier könnte historische Bildungs- und Wissenschaftsforschung tatsächlich nach Vergleichen forschen: Phasen der Wissensexplosion in der Renaissance, der technisch-industriellen Revolution z.B.. War die Heranbildung neuer Eliten (und welcher Art?) die adäquate Antwort, um Wissen zu bündeln, wissenschaftlichen Fortschritt zu gewährleisten, Bildung für möglichst viele zugänglich zu machen und die Stabilit#t eines politischen Gemeinwesens zu gewährleisten ? Denn letztlich scheint mir die politische Frage entscheidend: Können politische Entscheidungen von allen getroffen werden, wenn das nötige Mindestma߸ an Überblickswissen nur noch von wenigen beherrscht wird. Bildungseliten in einer Demokratie müssen also in allererster Linie die Fähigkeit entwickeln, ihre besonderes Überblickswissen möglichst weitgehend anderen zu vermitteln und diese zur Entscheidung zu befähigen. Ist dieser Prozess der Vermittlung gew#hrleistet - und es ist schwer, ihn zu gewährleisten - verdienen Eliten jede Förderung. 2. f) Deutschland begibt sich auf die Suche nach Spitzen-Universitäten. Verträgt sich Geschichtswissenschaft über die bloße fachliche Professionalität hinaus überhaupt mit dem Elitegedanken? Mir ist der Gegensatz zwischen Geschichtswissenschaft - wie jeder anderen Wissenschaft - und dem Elitegedanken unerfindlich. Wenn Eliten strikter Professionalität, meritokratischen Auswahlkriterien und dem Auftrag der Vermittlung (s.o.2.e) ihres - mit öffentlicher Förderung erworbenen - Bildungswissens unterliegen, sind sie unerläßlich. Eine andere Frage ist, ob "Spitzen-Universitäten" die richtige Antwort sind, ob nicht - dezentralisierte - Netzwerke fachspezifischer Exzellenz tauglicher wären ? 3. Stellen Sie bitte Ihren persönlichen Favoriten unter den historischen Büchern des Jahres 2003 kurz vor und erläutern Sie Ihre Wahl. (15-20 Zeilen.) Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München - Wien 2003 Die Wiederentdeckung des Raums als Paradigma der Historiographie ist nichts Brandneues, und sie ging nicht von der deutschen Geschichtsschreibung aus. Doch nirgends ist sie in deutscher Sprache so grundsätzlich, programmatisch, phantasievoll und inspirierend formuliert worden wie bei dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel in seinem Buch "Im Raume lesen wir die Zeit" (ein Zitat des Geographen Friedrich Ratzel). Einmal mehr überwindet Schlögel die räumlichen Grenzen Osteuropas zwischen Ost und West, 'Alter' und 'Neuer' Welt, um die verdrängte, vergessene, schließlich tabuisierte Bedeutung des Raums für geschichtliches Denken und Geschichtsschreibung in das - räumlich sehende - Auge des historischen Betrachters zurückzuholen. Schlögel wendet die scheinbar banale Feststellung vom historischen Prozeß in 'Zeit und Raum' zur These, indem er gegen die spezifisch deutsche Verdrängung des Räumlichen nach dessen Kontamination und Ethnisierung im Großraumdenken des Nationalsozialismus die langen, älteren Entwicklungslinien und die gegenwärtige Aktualität des Raums in der Geschichte neu entdeckt. Es ist eine Entdeckungsfahrt in Räume des Denkens, die bekannt schienen, aber überraschende Seitentreppen zu versteckten Brücken enthüllen. In eleganter, suggestiver, mitunter schwelgerischer Sprache wirbt Schlögel für den spatial turn, der jenseits der Texte an die Materialität der Welt erinnert.
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