Das Historische Buch 2009
Alte Geschichte Mittelalterliche Geschichte Geschichte der Frühen Neuzeit Neuere Geschichte (langes 19. Jh.) Neueste Geschichte Zeitgeschichte Europäische Geschichte Außereuropäische Geschichte Lehrbücher / Überblicksdarstellungen Offene Kategorie Geschichte der Öffentlichkeit / Medien- und Kommunikationsgeschichte Thematischer Schwerpunkt 2010 Publikumspreis | Europäische GeschichteEssay von Frank Hadler für H-Soz-Kult 1. RangSchlögel, Karl: Terror und Traum. Moskau 1937. München 2008.
Schlögel nutzt für sein Verfahren den Begriff des "Chronotopos", der in ebenjener Zeit vom Literaturtheoretiker Michail Bachtin geprägt wurde. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass immer ein ganzes Panorama an Geschehnissen präsent ist - was beim zwangsläufigen Nacheinander jeder Geschichte nur mit großer Kunst und hoher Sachkenntnis möglich ist. Schlögel ist das gelungen - mit dem Effekt, dass dem Leser die achthundert Seiten niemals lang werden. Es ist, als kopiere dieses Verfahren die sowjetische Welt selbst. Es hält Staunen und Schrecken in einem Werk zusammen, das mit Fug und Recht als herausragend unter allen neueren Werken der Geschichtsschreibung zu loben ist. Es ist in der Kunst seiner Darstellung ein hervorragender Beleg für die Verbindung von Literarizität und Wissenschaft. 2. RangSheehan, James J.: Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden. München 2008. Das für heutige Verhältnisse relativ schmale Buch des renommierten amerikanischen Historikers Sheehan ist keine Geschichte Europas im herkömmlichen Sinne. Dieser große, glänzend geschriebene Essay zeichnet vielmehr zwei signifikante Erfahrungen Europas im 20. Jahrhundert nach: in der ersten Hälfte ein Übermaß an Gewalt, aber nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Weg zur Absage an Gewalt und zum Frieden als „Normalzustand“. Damit unterscheidet sich Europa deutlich von den USA. Was Sheehan als Amerikaner und Kenner der deutschen und europäischen Geschichte interessiert, ist die spezifische Differenz Europas zu den USA. […] Sheehan will keine neuen Forschungsergebnisse präsentieren, sondern der Kriegsgeschichte als Ursache der „lautlosen Revolution“ nachgehen. Christoph Kleßmann für H-Soz-Kult Ich kenne kein anderes Buch, das zugleich so kenntnisreich mit historischer Differenzierung, auf breiter Belesenheit beruhend, Schneisen durch das 20. Jahrhundert in Europa schlägt und zugleich eine so freundliche Verlaufslinie zieht, wie dies Jim Sheehan tut. Dass diese Diagnose anschaulich und weitestgehend nachvollziehbar geschrieben wurde, sei hinzugefügt.
Glänzend versteht es James J. Sheehan, der Präsident der "American Historical Association", die Geschichte Europas als die Geschichte eines Kontinents zu erzählen, der, durch Schaden klug geworden, nun "zivil" leben und weiterexistieren kann - dank Amerikas, so liest man es unterschwellig, das sich solche politische Esoterik bis heute leider nicht leisten könne. 3. RangFiges, Orlando: The whisperers. Private life in Stalin's Russia. New York 2007.
Als Chruschtschow die Tore der Lager öffnete, Opfer rehabilitiert wurden, brachten manche ihr Schicksal auch öffentlich zur Sprache. Die meisten Opfer aber waren traumatisiert, sie fanden nicht wieder ins normale Leben zurück. Niemand wollte ihre Geschichten hören, aber nur wenige wollten sie auch erzählen, aus Selbstschutz und weil sie Angst hatten, der Terror könne jederzeit zurückkehren. Die Angst blieb ihr ständiger Begleiter. Sie blieben Flüsterer, und wenn sie später über ihre Erfahrungen sprachen, dann ordneten sie sie in die Erzählung vom Großen Vaterländischen Krieg ein. Das Leiden der Flüsterer sollte nicht sinnlos gewesen sein. Orlando Figes hat ihm mit seinem wunderbaren Buch ein Denkmal gesetzt.
Ein Hauptverdienst von Figes' Buch besteht darin, dass er viele vom Stalinismus Betroffene zum Reden brachte und das Gehörte festhielt, ehe es keine Zeugen mehr gibt. Das Buch wird, seit es vor einem Jahr auf englisch erschien, als Meisterwerk gepriesen. Und in der Tat ist hier etwas Besonderes gelungen: Der Leser gewinnt eine Innenansicht des Sowjetsystems: von den Kindern der Bolschewiken, die geglaubt hatten, auf alles verzichten zu können, was eine Familie ausmacht – Schutz, Intimität, Vertrauen und Liebe – bis zur quälend langsamen Überwindung des Schweigens. 4. RangFahrmeir, Andreas: Citizenship. The rise and fall of a modern concept. New Haven, Conn. [u.a.] 2007. 5. RangBerger, Stefan; Lorenz, Chris (Hg.): The contested nation. Ethnicity, class, religion and gender in national histories. Basingstoke [u.a.] 2008. Taken as a whole, The Contested Nation is a deconstructive effort to uncover the cover-ups in nineteenth-century nationalist historiography, including Europe’s internal equivalent of the subaltern, whether class, gender or religious minority. It does an excellent job of highlighting many tensions within the master-narrative of nationalist history. It thus contests and enriches, though it does not utterly subvert, our historiographic master narrative, according to which the nation and history were both invented in their modern forms in the nineteenth and early twentieth centuries. […] I know of no single book that has brought these contradictions to the fore quite like this. Daniel Woolf für H-Soz-Kult It should be said at once that this is a very valuable investigation of major themes and one that should be on the bookshelf of anyone seriously interested in the history of European historiography. The bibliography alone would make the venture worthwhile and there is no doubt that these essays will form a significant starting-point for further work. […] Good books provoke responsible criticism and the last word belongs not to disparagement but to achievement. The team marshalled by Lorenz and Berger have done excellent work and their conclusions offer a fundamental reference-point for the study of national and transnational historiographies across the European continent. Michael Bentley für H-Soz-Kult |