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Bericht von: Vom 3. bis zum 5. November 2005 stand das Thema "Europa im Ostblock" am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam im Mittelpunkt des Interesses. Wissenschaftler aus Ost und West trugen ihre zum Teil sehr unterschiedlichen Auffassungen zum Thema Europa vor. Ein dichtes Programm führte alle Beteiligten zwei Tage lang durch die verschiedenen Wahrnehmungen des Begriffes "Europa", das als zusammenhängender Kommunikationsraum durch die Blockbildung im Kalten Krieg zerrissen worden war. Eingeladen zu dieser Konferenz hatte die von der Volkswagen Stiftung geförderte ZZF-Projektgruppe von José Maria Faraldo (Leitung), Paulina Gulińska-Jurgiel und Christian Domnitz.[1]
Am Freitag begann der Workshop im Vortragssaal des ZZF in Potsdam mit dem Panel "Europa-Zugänge". Die Organisatoren stellten ihre jeweiligen Forschungsansätze vor, wobei sich Christian Domnitz einer Typologie über die europäischen Vorstellungswelten in Mittelosteuropa zuwandte und sich dabei auf die östliche Sichtweise auf Europa unter Berücksichtigung eines national orientierten Freiheitsdenkens und "europäischen Traums" bezog, während Paulina Gulińska-Jurgiel die Stereotypisierung der Europa-Bilder anhand von Karikaturen der Fremdbilder und Selbstdarstellung in der polnischen Presse aufzeigte. Hagen Schulz-Forberg (Florenz) griff mithilfe von Ereignissen, Thesen und Forschungsansätzen zur Europa-Debatte in den mitteleuropäischen Staaten den jeweiligen Europa-Diskurs auf und erläuterte diese anhand eines laufenden Projektes EMEDIATE.[2] Der zweite Themenblock beschäftigte sich mit "Sowjetischen Aneignungen". Er wurde von Edouard Tarnawski (Murcia) mit einem Beitrag über Mythen und ihre Bedeutung in der Geschichte Russlands und Europas eingeleitet, wobei er von Mythen als Instrumenten der Macht sprach und dies am Beispiel der russischen Geschichte explizierte.
Den dritten Vortrag in diesem Panel hielt Kari Kaunismaa (Turku), der sowjetische und russische Geschichtsbücher untersucht hatte, um das Konzept Europa und die Entwicklungstendenzen im Laufe der Zeit herauszuarbeiten. Während des Kalten Krieges, so betonte er, sei zwischen "unserem Europa" und "ihrem Europa" unterschieden worden; in der russischen Vorstellung existiere eher die Vorstellung der "Nahen" und der "weiter Entfernten". Nach der Mittagspause sprach Siegfried Lokatis (Potsdam) über die von ihm und Simone Barck konzipierte Ausstellung "Europa im Kopf. Der Verlag Volk und Welt in der DDR". Die verschiedenen Europabilder, die durch die Veröffentlichung ausgewählter Werke der Weltliteratur entstanden, waren Lokatis zufolge von mehreren Faktoren abhängig. So gab es ein Europabild der Parteikader, eines der Emigranten, des Zweiten Weltkrieges, ein Europabild der Zensoren und eines der Lektoren. Diese deckten sich natürlich nicht immer, und sie hatten auch keine dauerhafte Gewichtung: Die editierten Europa-"Bilder" waren abhängig von Krisen und von systempolitischen Beschlüssen. Das dritte und letzte Panel an diesem Tag erörterte den Schwerpunkt "Ostmitteleuropa: Ambivalenzen". Spezifische Themen wie die Krakauer Presse als Sonderfall in Polen zwischen 1975 und 1995 von Joanna Bar (Krakau) kamen zur Sprache; Vladimir Goněc (Brno) griff am Beispiel des tschechischen Exilanten und Publizisten Hubert Ripka das Europadenken in den 1950er-Jahren im Sinne einer Föderation Mitteleuropas auf, Carlos Reijnen (Maastricht) skizzierte die tschechische Europawahrnehmung, in der der Begriff Europa fast verschwand, aber der Bezug auf europäische Werte weiterhin vorhanden war. Waren die Themenfelder bisher in Mittelosteuropa angesiedelt, kam man am nächsten Tag zum "Wahrnehmungsraum Südosteuropa". Jordanka Telbizova-Sack (Berlin) sprach die empfundene geographische und religiöse Zugehörigkeit der bosnischen Muslime zu Europa an, die ein vereintes Europa letztlich als den "wichtigsten Schutz zur Bewahrung ihrer eigenen Identität" begreifen. Dennis Dierks (Berlin) ging es in seinem Beitrag um die Selbstverortung der bosnisch-herzegowinischen Muslime, welche durch drei Konzepte – von Izetbegović, Zulfikarpašić und Balić – repräsentiert würde und deren Zugehörigkeit zu Europa in der breiten Masse, so Dierks, größtenteils außer Frage stünde. Cristina Petrescu (Bukarest) beschrieb zunächst die Rolle der Intellektuellen Rumäniens unter Ceauşescu, die – im Gegensatz zu Mittelosteuropa, d.h. Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei – nicht in Opposition zu ihrem Regime standen und eine "resistance through culture" verkörperten. Dragoş Petrescu (Bukarest) stellte in Ergänzung dazu die idealisierte Sicht auf bzw. die Begeisterung für die westlichen Wohlstandsgesellschaften dar, in erster Linie für die BRD, die in Form von westlichen Konsumprodukten, Modekatalogen oder der Ausstrahlung von "Radio Free Europe" von München aus nach Rumänien gelangten.
Im letzten Panel "A Dreamed Europe: Exiles" konnte man an verschiedenen Beispielen Blicken von Exilanten auf Osteuropa begegnen. Friederike Kind (Budapest/Potsdam) tat das anhand von westlichen Veröffentlichungen seit Anfang der 1970er-Jahre wie im "Lettre International", "New York Review of Books" oder "Le Monde", die Mittel- und Osteuropa ins Blickfeld nahmen. Dort wurden transnational Texte von Dissidenten veröffentlicht, um das "andere Europa" wieder dem gesamteuropäischen Literaturgeschehen anzunähern und die Trennung Europas abzubauen, in anderen Worten also: die Inhalte der Schlussakte von Helsinki auf literarischer Ebene durchzusetzen. Hier sah man, im Gegensatz zu den meisten anderen Beiträgen dieses Workshops, wie Osteuropa von westlichen Ländern aus verstanden wurde, und wie der "Westen" versuchte, zumindest auf literarischer Ebene, den Osten wieder miteinzubeziehen. Thomas Lane (Bradford) beschäftigte sich mit der Bedeutung Europas für osteuropäische Emigranten. Er ging davon aus, dass die Bedeutung Europas für die jeweiligen östlichen Länder in Publikationen und Äußerungen emigrierter Ost- und Mitteleuropäer nachgelesen werden konnte und dass diese Emigranten aus dem westlichen Ausland durchaus die Daheimgebliebenen in ihren Debatten und Anschauungen beeinflussten. Der Wunsch nach einer Rückkehr nach Europa wurde, so Lane, durch die Emigranten in Westeuropa vertreten, sodass die Meinung ihrer Landsleute, die sonst nicht die Möglichkeit hatten, im Westen gehört zu werden, repräsentiert wurde.
Bei fast allen Vorträgen wurde "Europa" meist nur als ein Konzept der zweiten Kategorie nach der jeweiligen nationalen Identität gehandelt. Daraus ergab sich einerseits die Möglichkeit, all die verschiedenen Herangehensweisen an Europa und die Herausbildung von Europabildern aufzuzeigen, andererseits allerdings auch die Schwierigkeit, sich auf einen Begriff "Europa" zu einigen. Daher entstanden bei den Teilnehmern teilweise Unschlüssigkeiten, welcher spezifische Europa-Begriff wann angebracht gewesen sei und in welchen Zusammenhängen er früher gestanden hatte. Stefan Troebst (Leipzig) brachte in seiner Einführung zur Abschlussdiskussion noch einmal die geschichtsregionale Untergliederung Europas von Halecki und Szücs in Erinnerung. Thomas Lindenberger (Potsdam) lenkte das Gespräch auf das Thema der Europäischen Gemeinschaft als Anziehungspunkt bzw. darauf, dass die Entwicklung bis hin zur Europäischen Union mitgedacht werden müsse. Wolfgang Schmale (Wien) plädierte in seinem Schlusswort, im Umgang mit dem Begriff "Europa" den Fokus schärfer zu ziehen bzw. Kategorien etwas enger anzusetzen. Hilfreich dabei sollten zeitliche Zusammenhänge sein. Włodzimierz Borodziej (Warschau) legte Wert auf den spezifischen Charakter des kommunistischen Europadiskurses und betonte, dass die Neuentdeckung Europas in den 1980er Jahren bei Kommunisten und Dissidenten gleichzeitig erfolgte. Ein Merkmal dieses Diskurses stellte die "Sicherheit" dar, die als ein griffiger Begriff in der Auseinandersetzung um "Europa" im sowjetischen Block angewendet wurde. Ein anderer Hinweis von Borodziej betraf die Periodisierung für verschiedene Länder des Ostblocks, die unter anderem aus dem wirtschaftlichen Kontext heraus jeweils anders ausgesehen hatte. Letztlich war wohl weniger von einer abschließenden Diskussion zu sprechen als von einer nochmaligen Erweiterung des Diskussionsfeldes. Das spiegelte auch die Lage der Tagung wieder: In den Beiträgen wurde "Europa" aus spezifischen Perspektiven betrachtet, die zwar im konkreten Fall nachzuvollziehen, allerdings meist der nationalen Thematik nachgeordnet waren. Demzufolge tat sich ein großes Puzzle von "Europa"-Vorstellungen am Beispiel der jeweiligen osteuropäischen Länder bzw. der Situationen auf, in denen sich etwa Exilanten aus diesen Ländern befanden. Auch wenn nicht alle Beiträge für jeden Teilnehmer gleich interessant gewesen sein mögen und die Themenfelder gelegentlich etwas ausuferten, so vermittelte die Tagung doch viele Anregungen und neue Sichtweisen auf "Europa" im Ostblock. Anmerkungen:
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