Interview mit Heinrich August Winkler
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Heinrich August Winkler, geboren 1938 in Königsberg, studierte von 1957 bis 1963 Geschichte, Wissenschaftliche Politik, Philosophie und Öffentliches Recht in Münster, Heidelberg und Tübingen. Er promovierte 1963 bei Hans Rothfels über das Thema "Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat" und arbeitete von 1964 bis 1970 als wissenschaftlicher Assistent an der FU Berlin. Nach seiner Habilitation 1970 bekam er dort eine Professur, bevor er 1972 nach Freiburg wechselte.

Seit 1991 ist Heinrich August Winkler Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin.

Winkler: "Warum haben wir nicht den Mut gehabt, kritische Fragen zu stellen?"

Teil 1: Biographische Fragen

Fragen Interviewer: Herr Winkler, Sie sind 1938 in Königsberg geboren und haben das Schicksal vieler Vertriebener geteilt. Insofern hat die deutsche Geschichte relativ drastisch in Ihren Lebenslauf und in den Ihrer Familie eingegriffen. Was sind für Sie die wichtigsten prägenden Erlebnisse oder Umstände Ihrer Kindheit und Jugend?

Antwort Winkler: Ich hatte das Glück, zusammen mit meiner Mutter und meiner Großmutter bereits im August 1944 aus Königsberg herauszukommen, an das ich mich noch gut erinnern kann. Wir sind also nicht in den großen Treck hineingezogen worden, sondern erlebten das Kriegsende in Württemberg, nicht in Ostpreußen. Ich bin nach 50 Jahren - 1994 - zum ersten Mal wieder in Königsberg gewesen und habe einige Stätten meiner Kindheit durchaus noch wiedererkennen können. Mein Geburtshaus steht sogar noch.

Ich komme aus einer Historikerfamilie. Meine Mutter und mein 1939 verstorbener Vater waren beide promovierte Historiker. Auf diese Weise ist auch meine Entscheidung für den Beruf des Historikers wesentlich durch die Familientradition geprägt worden, obwohl ich während der Schulzeit in Ulm lange auch daran gedacht habe, Jura zu studieren. Schließlich ergab sich nach 1957 eine Kombination des Studiums von Öffentlichem Recht, Geschichte, Philosophie und Politischer Wissenschaft. Was die prägenden Eindrücke angeht, so sind es wohl bei mir vor allem die großen politischen Auseinandersetzungen der 50er Jahre. Ich habe mit Leidenschaft die Bundestagsdebatten verfolgt. Ich habe einen Schülerarbeitskreis, das Politische Seminar der Ulmer Jugend, geleitet. Wir luden Politiker zu Diskussionen ein und unternahmen auch selbst Fahrten zum Deutschen Bundestag nach Bonn, zur Beratenden Versammlung des Europarats nach Straßburg oder zur französischen Nationalversammlung nach Paris. Ich war also frühzeitig stark an Politik interessiert und denke, daß ich mich so etwa seit 1952/53 kontinuierlich und intensiv durch Zeitungslektüre und die Verfolgung von Übertragungen - erst im Hörfunk, dann im Fernsehen - mit der Geschichte der Bundesrepublik befaßt habe.

Sie sind zunächst zum Studium nach Münster gegangen. Welche Lehrer waren dort, und was war der Grund für die Entscheidung, nach Münster zu gehen?

Ich hatte einige der Münsteraner Historiker, aber auch den ebenso umstrittenen wie brillanten Soziologen Hans Freyer auf dem Ulmer Historikertag 1956 erlebt, und dies war ein wichtiger Grund, das erste Semester an dieser Universität zu verbringen. Zu den stärksten Eindrücken des Sommersemesters 1957 gehört eine Vorlesung von Eugen Rosenstock-Huessy. Er war ein Universalgelehrter, der wahrscheinlich - ähnlich wie Max Weber - fünf Lehrstühle gleichzeitig hätte innehaben können und damals zeitweise aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt war. Zu meinen großen Leseerlebnissen gehört sein Buch über die europäischen Revolutionen und den Charakter der Nationen. Ein anderes Semester, das ich in Heidelberg verbracht habe, hat mir ebenfalls ein sehr breites Spektrum von akademischen Lehrern eingebracht. Werner Conze, auf den wir vielleicht noch kommen werden, war allerdings nur vorübergehend während der ersten Hälfte des Semesters anwesend. Bei ihm habe ich einige Vorlesungsstunden erlebt. Ich hörte damals bei dem politisch weit rechts stehenden Ernst Forsthoff Staatsrecht und Philosophie bei dem berühmten Karl Löwith. Dieses Nebeneinander von akademischen Lehrern, die sich vor 1945 kompromittiert hatten, einerseits und Emigranten andererseits ist für die Universitäten der späten 50er Jahre nicht ganz atypisch - manchmal wußten wir gar nicht, wie weit, etwa bei dem Ökonomen Meinhold, die Kompromittierung ging. Darüberhinaus hatten wir die Chance, bei Emigranten wie Löwith zu hören. Schließlich habe ich dann im wesentlichen mein Studium in Tübingen verbracht, wo Hans Rothfels, der Doktorvater meines Vaters, auch mein Doktorvater wurde.

Spätestens in Tübingen sind dann Familientraditionen wieder aufgelebt, weil Ihr Vater bei Hans Rothfels und Ihre Mutter bei Theodor Schieder promoviert hatten - und Conze gehört ja auch zu diesem Königsberger Umfeld. Kam der Anstoß aus dem Kreis der Familie?

Im Rückblick muß ich sagen, daß der Ulmer Historikertag entscheidend war. Ich habe damals schon nebenberuflich als Journalist gearbeitet und auch über diesen Historikertag in einer Lokalzeitung berichtet. Dieses Erlebnis war sehr bestimmend, und ich habe alle Historiker, über die wir jetzt eben schon kurz gesprochen haben, in Ulm erlebt, und das war auch für die Wahl der Studienorte nicht unwichtig.

Wie lange waren Sie in Heidelberg?

Ich habe in Münster und Heidelberg jeweils nur ein Semester verbracht. Vom zweiten Semester an war ich - mit der Unterbrechung des Heidelberger Semesters im Winter 1958/59 - bis zur Promotion 1963 in Tübingen.

Rückte das Geschichtsstudium erst im Verlauf des Studiums in den Mittelpunkt? Sie sagten, Sie hätten Forsthoff und Löwith gehört. Da ist auf der einen Seite Staatsrecht, auf der anderen Philosophie.

Geschichte war immer dabei. Herbert Grundmann zum Beispiel, der bekannte Mediävist in Münster, hat mich als akademischer Lehrer beeindruckt, und in Tübingen war es dann vor allem Hans Rothfels; daneben auch Theodor Eschenburg, und auch da wieder die Juristen - vor allem Günther Dürig - oder Philosophen wie Walter Schulz. Es gab ein sehr weit gefächertes Angebot. Dazu kamen übrigens in der Spätphase meines Studiums noch Ralf Dahrendorf und zeitweilig Ernst Bloch.

Kristallisierte sich da Ihr Themenschwerpunkt schon heraus? Konnte man schon viel zur jüngsten deutschen Geschichte, zur Zeitgeschichte hören?

Ich habe mit Seminaren zum 19. Jahrhundert bei Rothfels begonnen und auch zu einem Thema der Geschichte des 19. Jahrhunderts promoviert, aber mich daneben intensiv mit der Zeitgeschichte - der Geschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus - befaßt. Und das konnte man in der Tat bei Hans Rothfels und bei seinen Assistenten, vor allem Waldemar Besson, aber auch Hiller von Gaertringen, sehr gut tun. Die Möglichkeit, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus intensiv auseinanderzusetzen, war in Tübingen in hohem Maße gegeben. Rothfels hat ja die Zeitgeschichte als wissenschaftliche Teildisziplin geradezu mitbegründet als einer der beiden Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Der andere war Theodor Eschenburg, der ja ebenfalls in Tübingen lehrte.

Aufgrund seines Wirkens in der Königsberger Zeit ist Hans Rothfels wieder in die Diskussion geraten. Hat man sich damals mit Kontinuitäten beschäftigt? Hat man sich beispielsweise Rothfels' Bismarck-Aufsatz vom Historikertag 1932, der 1933 auch in der HZ veröffentlicht wurde, angesehen? Hat einen das, oder auch die Arbeiten von Conze, die er vor 1945 geschrieben hatte, interessiert?

Wir haben im Schülerkreis mit Rothfels auch sensible Fragen angesprochen. Es war uns allen klar, und er hat sich selbst dazu bekannt, daß er ein Konservativer war. Aber er war ein Konservativer der Bismarckschen, eher etatistischen Prägung, und wenn man ihn im Spektrum der Weimarer Republik verorten will, dann gehörte er bis zum Tode Stresemanns wahrscheinlich zur Deutschen Volkspartei, danach zu den Volkskonservativen. Seine Schüler sind deutlich weiter nach rechts gegangen, wie die meisten Vertreter dieser Generation. Im nachhinein frage ich mich natürlich, warum wir nicht sehr viel kritischere Fragen gestellt haben. Ich erinnere mich an eine Kontroverse, in der ich einmal von Rothfels die Bemerkung hörte, "links" und "rechts" spiele doch heute gar keine Rolle mehr. Daraufhin konterte ich, einen französischen Denker zitierend, wer behaupte, der Gegensatz von "links" und "rechts" sei überholt, der komme ganz bestimmt nicht von "links". Rothfels lächelte knapp. Er hatte die Anspielung wohl verstanden.

Sie haben 1963 in Tübingen promoviert. Wie sah das Lehrer-Schüler-Verhältnis aus, und wie kamen Sie auf Ihr Thema "Preußischer Liberalismus"?

Ich stellte fest, daß auf diesem Gebiet noch einiges zu erforschen war, daß das Verhältnis des Liberalismus zur nationalen Einigung bislang eher pauschal abgehandelt worden war, und Rothfels war mit diesem Thema sehr einverstanden. Ich habe leider aus politischen Gründen keinen Zugang zu Archiven in der DDR bekommen, aber ich konnte in der Newspaper Library des Britischen Museums in London intensiv die damalige Berliner Presse der 1860er Jahre aufarbeiten und habe mit dieser relativ schmalen Arbeit 1963 promoviert. Die Grundthese, die ich damals formuliert habe, daß der liberale Nationalismus auch ein Ausdruck der innenpolitischen Ohnmacht des liberalen Bürgertums war, scheint mir nach wie vor richtig zu sein. In gewisser Weise bin ich diesem Thema treu geblieben, indem ich Jahre später die weitere Entwicklung des Verhältnisses von Liberalismus und Nationalismus im Kaiserreich untersucht habe.

Wenn Sie rückwirkend Ihre Studienzeit betrachten: Hatten Sie da das Gefühl, daß bestimmte Grenzen vorgegeben waren? Es gibt von Rothfels den vielzitierten Ausspruch der "perspektivischen Objektivität", der in seinem Schwerpunkt, der Widerstandsforschung, deutlich wird, der auch sein Bismarckbild prägte oder sich in seiner Intervention niederschlug, die Riezler-Tagebücher nicht gleich nach dem Krieg zu veröffentlichen. Fühlten Sie sich damals relativ frei, das zu tun, das zu erforschen, was Sie wollten, oder war das manchmal ambivalenter, als man das heute gemeinhin annehmen würde?

Es gab keine Beschränkungen. Die Themenwahl war uns überlassen, und Rothfels akzeptierte auch Dissens. Der ergab sich schon daraus, daß eine Reihe seiner Schüler zu Beginn der 60er Jahre in die SPD eintraten. Ich habe das auch getan, nachdem ich mich zuvor als Schüler in der CDU betätigt hatte. Aber ich brach dann aufgrund des Wahlkampfes von 1961, in dem Willy Brandt als Emigrant diffamiert wurde, diese Bindung ab und bin im Frühjahr 1962 in die SPD eingetreten. Darüber haben wir mit Rothfels offen diskutiert. Und man darf nicht vergessen, daß dieser konservative Historiker als einer der ersten für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie votierte und zu denjenigen Historikern gehörte, die die sozialliberale Ostpolitik offensiv verteidigten. Er hat eine von Hans Mommsen formulierte Resolution mitunterzeichnet, in der die Brandtsche Außenpolitik gegen die konservative Kritik der Unionsparteien verteidigt wurde. Ich denke, das war auch ein Ergebnis langer und intensiver Debatten in seinem Arbeitskreis.

Das ist interessant, weil Theodor Schieder z.B. eine solche Resolution nie unterzeichnete. Wenn wir heute von "den Königsbergern" sprechen: Hatte man früher überhaupt immer so genau vor Augen, daß es diesen Zusammenhang zwischen Rothfels und seinen beiden Schülern Conze und Schieder gab?

Der wurde einem immer wieder vor Augen geführt. An den runden Geburtstagen von Rothfels versammelten sich seine Schüler, die Königsberger und die Tübinger. Beim letzten dieser Geburtstage 1976, wenige Wochen vor seinem Tod, kam es - dramatisch ausgedrückt - sogar zu einer Art von Showdown. Ich hatte den offiziellen Vortrag übernommen über den Nationalismus und seine Funktionen und stellte dann sofort fest, daß Rothfels sich zutiefst irritiert fühlte. Er empfand diesen sozialgeschichtlichen Ansatz als etwas ganz Fremdes und las eine Kritik an seinen eigenen Auffassungen heraus, was er dann auch in großer Offenheit ausgesprochen hat. Man merkte die starke Betroffenheit. In der anschließenden Debatte hat sich vor allem Werner Conze auf seine Seite geschlagen, und ein anwesender Schüler von Hans Rothfels, Ernst-Otto Maetzke, hat in der FAZ über diese Auseinandersetzung berichtet und nicht zu Unrecht festgestellt, ich sei da ganz unbelehrbar gewesen. Jedenfalls habe ich auch am Ende dieser Debatte Rothfels gebeten zu akzeptieren, daß sich sein Schülerkreis sehr pluralistisch entwickelt habe und daß es eine Rothfelssche Rechte und eine Rothfelssche Linke gebe, und ich gehörte eben zur Rothfelsschen Linken.

Haben Sie damals Kontakt zu Theodor Schieder oder zu Werner Conze gehabt - Sie haben vorhin kurz eine Vorlesung in Heidelberg angesprochen? Waren die beiden für Sie interessante Figuren in den 60er Jahren?

Ich habe Conze im Ausschuß des Historikerverbandes und später im Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte in regelmäßigen Abständen gesehen und Schieder vor allem bei Historikertagen. Ich war kein Student bei ihm, und bei Conze habe ich ein halbes Semester lang eine Vorlesung gehört. Aber es gab viele Möglichkeiten der Zusammenkünfte und Gespräche, und natürlich frage ich mich heute, wenn ich lese, was beide im Zweiten Weltkrieg oder kurz davor publiziert haben, warum wir ihnen nicht kritischere Fragen gestellt haben. Ich hätte bei Conze dazu noch sehr viel mehr Gelegenheit gehabt als bei Schieder, den ich seltener sah. Das ist die Frage, auf die ich bis heute keine gültige Antwort finde. Ich kann nur versuchen, mir das so zu erklären, daß wir allesamt befangen waren. Befangen, weil wir von der Schule, häufig von den Elternhäusern her, wußten, was es an Kompromissen mit dem Regime, aber auch an überzeugter Anhängerschaft gegeben hatte. Ich vermute, wir wollten es so genau nicht wissen. Von Conze konnte man zumindest nach 1968 hören, daß es sehr kompromittierende Zitate gab. Von Schieder kannte man, was er voller Sympathie über das faschistische Italien geschrieben hatte, und einiges mehr - aber nicht die Texte, die jetzt seit einigen Jahren bekannt sind. Dennoch, die Frage stellt sich mir: warum haben wir, damit meine ich meine Generation, nicht den Mut gehabt, kritische Fragen zu stellen? War das die von Johannes Fried auf dem Frankfurter Historikertag angesprochene Angst vor Karrierenachteilen? Ich kann das alles nicht ausschließen und vermute sehr stark, daß es die Scheu war, Leuten Vorwürfe zu machen, die in gewisser Weise - so sah ich das damals - auch gebüßt hatten: Conze durch seine Gefangenschaft und Schieder durch die Zeit, in der er vom akademischen Lehrbetrieb ausgesperrt war. Im nachhinein meine ich, daß das eine Unterlassung war, und es ist gut, daß eine jüngere Historikergeneration dieses Problem der Befangenheit nicht mehr in der Weise spürt, wie das meine Generation offenbar noch getan hat.

Wenn Sie die Leitfiguren Ihrer wissenschaftlichen Entwicklung betrachten wie Hans Rosenberg, Richard Löwenthal oder Ernst Fraenkel: War das vielleicht auch eine bewußte Orientierung gegen den konservativen Lehrbetrieb in der deutschen Historikerzunft?

Conze und Schieder waren ja keine Repräsentanten eines methodischen Konservativismus wie etwa Gerhard Ritter in Freiburg. Im Gegenteil, sie gehörten zu den intellektuell besonders anregenden Historikern. Dennoch stellt sich heute die Frage, was eigentlich gewesen wäre, wenn die Texte und Aktivitäten aus der NS-Zeit, die heute diskutiert werden, schon damals bekannt gewesen wären. Wäre der Fall Theodor Schieder dann nicht doch ein ganz anderer gewesen? Wilhelm Mommsen bekam keinen Lehrstuhl mehr aufgrund seiner Betätigung in der NS-Zeit. Wären die Texte von Theodor Schieder aus dem Oktober 1939 und andere Texte damals bekannt gewesen, dann wäre er vermutlich nicht Ordinarius geworden, nicht Rektor der Kölner Universität, nicht Mitglied wissenschaftlicher Akademien, nicht Mitglied des Ordens Pour le mérite. Diese Nachkriegskarrieren - und es gibt bei Conze Parallelen dazu - beruhten darauf, daß bestimmte Texte entweder nicht bekannt waren - so im Falle Schieder - oder nicht wahrgenommen wurden. Von Heimpel konnte man in jeder Bibliothek schrecklich diskreditierende, kompromittierende Texte lesen. Das hat auch nicht verhindert, daß er Vorsitzender des Historikerverbandes wurde und alle Ehrungen der Bundesrepublik erhalten hat.

Es ist richtig: Die Anregungen, die von Conze und Schieder ausgingen, waren nur ein Teil dessen, was für meine Generation wichtig wurde. Ich selbst habe, was sozialgeschichtliche Fragestellungen angeht, sehr viel mehr von Hans Rosenberg gelernt, mit dem sich ein persönliches Freundschaftsverhältnis herausbildete - wir nannten uns beim Vornamen, aber auf angelsächsische Weise mit "Sie". Bei Löwenthal kam es zu einer Duz-Freundschaft und zu einer engen politischen Verbindung. Und auch zu Ernst Fraenkel hatte ich ein enges - fast schon freundschaftlich zu nennendes - Verhältnis. In der Zeit, in der er sich wegen der Entwicklungen am Otto-Suhr-Institut ziemlich verbittert in sein Haus in der Ihnestraße zurückgezogen hatte, haben wir sehr oft am Sonntagnachmittag Spaziergänge gemacht. Er hat mir bei dieser Gelegenheit von der Weimarer Republik, von seinen Erfahrungen als Syndikus des Deutschen Metallarbeiterverbandes und von seinen Kontakten zu Carl Schmitt erzählt. Ich habe, wenn ich zurückblicke, in erstaunlichem Maße Emigranten als akademische Lehrer oder Anreger gehabt und empfinde das als eine große Bereicherung meiner Studenten- und Assistentenzeit.

Hatten Sie auch einmal in Erwägung gezogen, evtl. in der Politikwissenschaft zu bleiben, oder war es für Sie klar, als Historiker den Weg an die Universität zu suchen?

Konkret hat sich die Frage nicht gestellt, aber ich habe mich 1970 - übrigens als letzter Habilitand der alten Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin - in beiden Fächern habilitiert, so daß ich mich auch in beiden Fächern hätte bewerben können. Doch meine eindeutige Liebe gehörte der Geschichte, und so habe ich auch den zweiten Ruf, den ich 1972 erhielt - der erste kam aus Darmstadt -, angenommen und bin nach Freiburg auf einen Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte gegangen, was mir dann 19 Jahre Lehre und Forschung im Schwarzwald eingebracht hat.

Als eine jüngere Generation in den 60er Jahren in den Wissenschaftsbetrieb einrückte, wurde nicht nur mit der erdrückenden personellen Kontinuität gebrochen. Was waren inhaltlich für Sie die entscheidenden Neuorientierungen?

Die 60er Jahre waren Jahre des geistigen Aufbruchs. Ich erinnere mich lebhaft an den Historikertag von 1964 an der Freien Universität Berlin. Da fand einmal die - wenn Sie so wollen - Befreiungsschlacht in der "Kriegsschuldfrage" statt. Fritz Fischer stand gegen Gerhard Ritter, und Fritz Stern war derjenige, der als Debattenredner den Ausschlag für den Sieg Fritz Fischers gab. Auf demselben Historikertag fand die Räte-Debatte statt, die eine neue kritische Auslotung der Handlungsspielräume in der Revolution von 1918/19 einleitete. An der Freien Universität und speziell am Otto-Suhr-Institut spürten wir, daß auch durch die interdisziplinäre Öffnung, die sich damals in der Geschichtswissenschaft vollzog - hin zur Soziologie und Politologie -, ganz neue Problemhorizonte sichtbar gemacht wurden. Prägende Erfahrungen wurden freilich auch meine Konflikte mit der zunehmend doktrinären Studentenbewegung und der Kampf gegen die Korrumpierung des Prüfungssystems am Otto-Suhr-Institut. Ich denke, da habe ich viel für mein späteres politisches und hochschulpolitisches Leben gelernt. Ich erinnere mich, daß Richard Löwenthal, als er wieder einmal von dogmatischen Marxisten attackiert wurde, diese zu einer offenen Diskussion einlud. Das hat mir ungeheuer imponiert. Da stellte sich ein Mann als einzelner einer aggressiven Diskussion, zierte sich nicht und war fähig, seine Kontrahenten intellektuell zu entwaffnen. Ich habe mir immer vorgenommen, mich daran zu orientieren, falls ich in eine ähnliche Situation kommen sollte. Ich gehörte mit anderen Hochschullehrern zu der "Reformergruppe" am Otto-Suhr-Institut, aber binnen kurzer Zeit war klar, daß es gleichzeitig immer mehr galt, sich einer fehlgeleiteten, vulgärmarxistischen Pseudoreform zu widersetzen. Da das universitätsintern wenig Wirkung zeigte, hieß es auch, sich publizistisch mit dieser Fehlentwicklung der 68er Bewegung auseinanderzusetzen. Das habe ich damals gemacht, und mein erster politischer Grundsatzartikel erschien - übrigens am 13. August 1971, dem zehnten Jahrestag des Mauerbaus - in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift "Requiem für eine Reform. Woran das Experiment des Berliner Otto-Suhr-Instituts gescheitert ist".

Was die eben angesprochenen neuen Problemhorizonte angeht, muß ich auch erwähnen, daß ich 1967/68 und 1970/71 zweimal ein halbes Jahr als German Kennedy Memorial Fellow an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, war. Beide Amerikaaufenthalte waren außerordentlich anregend, und das nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht. Während des Vietnamkrieges hatte ich auch die Gelegenheit, zwei Arten von akademischer Opposition gegen diesen Krieg und damit zwei politische Kulturen an den Hochschulen zu erleben: eine pluralistische und liberale in den USA, eine zunehmend intolerante und doktrinäre in Deutschland.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Von den jüngeren Historikern gilt zu einem erheblichen Teil das letztere. Das war nicht nur Mitläufertum und partielle Anpassung, sondern einiges mehr. Wenn ich die Texte aus dieser Zeit richtig lese, bedeutete vor allem der "Reichsgedanke" eine Brücke zwischen den jungkonservativen Intellektuellen unter den damaligen Historikern und den Nationalsozialisten. Sie trafen sich mit Hitler in einem deutschen Sendungsbewußtsein, das im Reichsmythos seinen höchsten Ausdruck fand. Das Jahr 1945 ist aus meiner Sicht auch deswegen eine so tiefe Zäsur, weil damals nicht nur das "Dritte Reich" und das von Bismarck gegründete Reich zusammengebrochen sind, sondern auch dieser jahrhundertealte Reichsmythos. In dieser Hinsicht sind vor allem die Texte von Hermann Heimpel aus dem Jahre 1941 erschreckend lesenswert.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Die Frage könnte man vielleicht dann bejahen, wenn die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle hinzugekommen wäre. Die fehlende Bereitschaft beider, über ihre "Verirrungen" und schrecklichen Hervorbringungen dieser Zeit offen zu sprechen, gehört wohl zu den irritierendsten Punkten der ganzen Debatte. Glanzvolle Karrieren und öffentliche Ehrungen als private Bußeleistung? Da habe ich doch meine ganz großen Zweifel. Ein Ersatz für das Kloster, in das man im Mittelalter ging, um Buße zu tun, waren solche Karrieren jedenfalls nicht.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Zu den Autoren, die mich nachhaltig beeinflußt haben, gehört Lorenz von Stein. Er wird oft auch zu den Gründervätern der deutschen Sozialgeschichte gerechnet. Ja, die jungkonservative Geschichtsauffassung hat einige Schwachstellen der nationalliberalen Geschichtsschreibung richtig erkannt und eine Lücke gefüllt, die durch Ausblendung bestimmter Wirklichkeitsbereiche entstanden war. Da liegt das methodisch Anregende, das man aus den Arbeiten von Conze, Otto Brunner oder auch Schieder gewinnen kann.

Fruchtbar für die Nachkriegsgeneration wurde die Sozialgeschichte erst, seit sie Max Weber rezipierte. Das hatte in der Zwischenkriegszeit vor allem Otto Hintze an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin getan. Nach dem Krieg waren es vor allem Schieder und Conze, die die Geschichte in Richtung der systematischen Sozialwissenschaften zu öffnen versuchten. Die Weber-Rezeption wirkte viel stärker als alles andere. Von ihrem Werdegang her war der Weg für Schieder und Conze zu Max Weber gar nicht unlogisch. Auch die methodisch produktive, kritische Auseinandersetzung mit Marx und dem Marxismus spielte eine große Rolle. Andere Einflüsse haben wir vorhin schon Revue passieren lassen, insbesondere die Anregungen, die von Hans Rosenberg ausgingen. Es waren also viele Denkrichtungen, die in der altbundesdeutschen Sozialgeschichte um Einfluß wetteiferten. In der Gesamtbilanz ist die Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland doch mindestens genauso stark von Emigranten aus den angelsächsischen Ländern wie von ehemaligen "Volkstumsforschern" geprägt worden.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Sie ist erdrückend - wie in fast allen anderen Wissenschaften auch, wenn ich einmal von der Politikwissenschaft absehe, die aus naheliegenden Gründen eine Sonderentwicklung nahm, was in gewisser Weise auch für die Soziologie gilt. In welchem Umfang sich die Geschichtswissenschaft in das "Dritte Reich" eingefügt hatte, haben wir Historiker viel zu spät und nicht systematisch genug erforscht. Ich habe die Veröffentlichung einer Arbeit über die Rolle der Althistoriker im "Dritten Reich" von Volker Losemann in der Reihe "Historische Perspektiven" gefördert. Ich erinnere mich an die Arbeiten von Karl Ferdinand Werner über die Mediävisten im Dritten Reich. Warum haben wir uns nicht systematischer mit der Rolle der Neuzeithistoriker befaßt? Ich hatte vorhin versucht, eine Erklärung zu geben. Ich denke, da spielt Befangenheit, vielleicht sogar Angst vor erschreckenden Entdeckungen, eine Rolle - eine Haltung, die freilich eher ins Unterbewußte reicht, als daß sie einem bewußten Kalkül entsprungen wäre.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Ich denke, daß das in der Tat mit der Befangenheit einer Generation zu tun hat, die von der Schulzeit her oder sogar schon aus dem Verwandtenkreis vertraut war mit dem Phänomen des Schuldig-Werdens in der vorangegangenen Generation. Das hat sich an der Universität fortgesetzt. Man setzte Belastung voraus, weil sie der Regelfall war. Wir waren froh, wenn Lehrer an den Gymnasien oder den Universitäten mit der NS-Ideologie gebrochen hatten. Schließlich ließ keiner der akademischen Lehrer, über die wir jetzt gesprochen haben, nationalsozialistische Ideologie in der Geschichtswissenschaft nach 1945 erkennen. Die nächstliegende Frage, die nach dem Engagement der Neuhistoriker in der Zeit des Nationalsozialismus, die haben wir wohl, wie ich fürchte, weitgehend verdrängt.

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Ein Historiker, der sich aufgrund seiner Kenntnis von Teilen der Geschichte zu Gegenwartsfragen äußert, hört zwar nicht unbedingt auf, Historiker zu sein, aber er spricht oder schreibt dann in erster Linie als Staatsbürger. Insoweit ist die Webersche Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Politik nach wie vor richtig. Wenn ich in politische Auseinandersetzungen eingreife, tue ich es als Staatsbürger, der, verglichen mit anderen, vielleicht ein paar Argumente mehr der Geschichte entnimmt. Doch das ist ein politisches Engagement.

Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit hat frühzeitig begonnen. Es ist nicht so, daß das kommunikative Beschweigen, von dem Hermann Lübbe 1983 gesprochen hat, eine wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ausgeschlossen hätte. Er hat übrigens damals auch ausdrücklich betont: Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, auch eine öffentliche politische Auseinandersetzung, ging einher mit der stillschweigenden "Akzeptanz" individueller Belastungen. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit setzte in den späten 40er Jahren ein und erlebte eine erste Blüte in den 50er Jahren. Man kann natürlich bestimmte Verengungen feststellen, etwa eine einseitige Wertschätzung des konservativen Widerstandes, auch eine oft nicht hinreichend kritische Behandlung des Widerstandes gegen Hitler. Es gibt auch andere "shortcomings" wie etwa die starke Konzentration auf Hitler und die Ausblendung der Frage nach dem Anteil der alten Eliten. Dennoch gab es in den 60er Jahren keine "Stunde Null", sondern die jüngeren Historiker konnten auf dem aufbauen, was ältere an Erforschung der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus bereits geleistet hatten.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Möglicherweise haben einige der Beteiligten bedauerlicherweise gemeint, die heutige Sozialgeschichte und sich selbst gegen Verdächtigungen verteidigen zu müssen, die gar nicht ausgesprochen worden sind. Ansonsten wäre es richtig gewesen, bei dieser Gelegenheit von der eigenen Befangenheit und von Versäumnissen zu sprechen, was einige auch getan haben. Man kann sich nur um größtmögliche Ehrlichkeit und Selbstkritik bemühen. Und wenn die Emotionen zu einer größeren Ehrlichkeit im Umgang mit der korporativen Vergangenheit der Geschichtswissenschaft führen, ist das nur gut.

Der Zeitpunkt der Debatte hängt mit einem Generationswechsel zusammen. Die Tatsache, daß meine Generation bestimmte Fragen offenkundig nicht in der hinreichenden Klarheit gestellt hat, hat die Voraussetzung dafür geschaffen, daß eine jüngere Generation das nachholt, was wir versäumt haben.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streits in der Historikerzunft?

Ich denke, daß die Auseinandersetzungen wahrscheinlich eher zu einem beträchtlichen Konsens - ich hoffe, zu einem selbstkritischen Konsens - beitragen werden.

Herr Winkler, wir bedanken uns für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6 (Berlin-Mitte)
Datum: 03.03.99, ca. 16.00 bis 17.00 Uhr
Interviewer/in: Hacke, Steinbach-Reimann


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