Interview mit Winfried Schulze
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Winfried Schulze, geboren 1942 in Bergisch-Gladbach, studierte von 1965 bis 1970 Mittlere und Neuere Geschichte sowie Politische Wissenschaften in Köln und Berlin. Er promovierte 1970 bei Gerhard Stourzh zum Thema "Landesdefension und Stadtbild. Studien zum Kriegswesen des innerösterreichischen Territorialstaats 1564-1619". Von 1970 bis 1974 war er Assistent und kurzzeitig Assistenzprofessor an der FU Berlin, ehe er 1974 schon vor seiner Habilitation (1975) einen Ruf nach Kassel annahm. Es folgten von 1976 bis 1978 Professuren an der FU Berlin und von 1978 bis 1993 an der Universität Bochum.

Seit 1993 ist Winfried Schulze Professor für Neuere Geschichte an der Universität München und seit 1998 Vorsitzender des Wissenschaftsrates.

Schulze: "Insofern ist die Frage spannend, wo der schmale Grad zwischen erwünschter Einmischung in Politik und Distanz zur Politik verläuft, den Historiker gehen müssen."

Teil 1: Biographische Fragen

Fragen Interviewer/in: Herr Schulze, zunächst möchten wir Ihnen ein paar Fragen zu Ihrer Biographie stellen. Sie sind 1942 in Bergisch-Gladbach geboren. Welches waren die ersten wichtigen Erlebnisse und Erfahrungen in Ihrer Jugend?

Als erstes fällt mir ein, daß ich noch Zeuge der Niederlage der deutschen Wehrmacht geworden bin. Meine historische Erinnerung setzt in dem Moment ein, in dem ein schwarzer amerikanischer Soldat auf mich, einen kleinen blonden Jungen von zweieinhalb Jahren, zeigte. Ich bin furchtbar erschrocken ins Haus gelaufen und habe bei meinem Vater Hilfe gesucht. Das sind meine ersten Erinnerungen, die ich rekonstruieren kann, also extrem früh. Jean Piaget, den ich später gelesen habe, setzt die ersten Erinnerungen erst ein oder anderthalb Jahre später an. Ich führe das auf die besonderen Zeitumstände zurück, denen ich als Kind ausgesetzt war: Da fuhren fremde, dunkelhäutige Soldaten durch unser Dorf (meine Familie war aus Köln evakuiert im Oberbergischen Land, bei Gummersbach). Ich kann mich dann an verlassene deutsche Soldatenlager und an die Fährnisse der Nachkriegszeit erinnern, eine Pontonbrücke über den Rhein bei Köln, an Autos mit Holzvergasern, weiterhin an Schwierigkeiten, die das Leben damals geprägt haben, wie Evakuierung in einer fremden Wohnung, Nahrungsmittelmangel, Hamsterfahrten meines Vaters, der versuchte, die Familie über Wasser zu halten. Insofern sind meine ersten 'historischen' Erinnerungen mit der unmittelbaren Nachkriegszeit verbunden.

Meine gesamte Schulzeit verbrachte ich dann im Rheinland, in der Nähe von Bergisch-Gladbach bei Köln, in einem konservativ-katholisch bestimmten Umfeld, vor allem in der Schule. Ich war Angehöriger des Bundes "Neudeutschland", einer katholischen Schülervereinigung. Später wurde ich Klassen- und Schulsprecher und hatte von daher ein Basisinteresse an Politik und auch Geschichte entwickelt, das durch die Spiegel-Affäre (1962) einen starken kritischen Schub erhalten hatte. Dieses Basisinteresse war für mich letztlich auch der Anlaß, das Studium der Geschichte und Politischen Wissenschaften zu beginnen. Zunächst habe ich nach dem Abitur allerdings die Bundeswehrzeit absolviert, damals noch zwei Jahre bei den Gebirgsjägern im Allgäu, und habe dann nach diesen zwei Jahren mit großer Gier das Studium angefangen, weil wir intellektuell doch recht ausgehungert waren. Ich habe allerdings in Köln zunächst mit Volkswirtschaft und dem Nebenfach Politische Wissenschaften angefangen. Die Kombination erklärte sich aus dem Wunsch meines Vaters, mich später in der Wirtschaft zu sehen. Nach sechs Wochen eher unbefriedigten Studierens habe ich dann in Köln die Fakultät gewechselt, bin auf Geschichte umgestiegen und habe im ersten Semester für mich die Geschichtswissenschaft als die Disziplin entdeckt, die mich wirklich begeisterte.

Ihr Vater kommt also aus der Wirtschaft?

Mein Vater war in der Industrie tätig. Er war Kaufmann, und wollte mich daher auch in einem Bereich arbeiten sehen, in dem er mir helfen konnte, ein verständliches Verhalten eines Vaters. Er hat dem Fakultätswechsel zwar mahnend-kritisch, letztendlich aber doch mit großem Verständnis gegenübergestanden. Wir haben uns gut verstanden.

Sie hatten also in Köln Ihr Studium begonnen?

Ja, ich habe in Köln angefangen, und nach zwei Semestern meinte mein Vater, es sei doch ganz gut, einmal nach Berlin zu gehen, was ich auch gern getan habe. Ich bin dann in Berlin hängengeblieben. Insofern ist mein Vater dafür verantwortlich.

Wie begann Ihr Studium in der Kölner Zeit? Für welche Themen haben Sie sich zuerst vornehmlich interessiert?

Das Kölner Seminar war insoweit prägend, als ich mich zuerst für die Zeit des Vormärz begeisterte. Ich hatte ein gutes Proseminar bei Karl-Heinz Kirchhoff dazu besucht, der damals noch in Köln lehrte. Eine ganz wichtige Erfahrung war dann auch, neben den üblichen Vorlesungen bei Adam Wandruszka, Erich Angermann und Heinrich Büttner, eine Veranstaltung bei Theodor Schieder, nämlich die Vorlesung mit dem berühmten Titel "Geschichte als Wissenschaft". Das Aufregende daran war, daß das Buch gerade erschienen war, im Sommer 1965, er las darüber im Wintersemester 1965/66, ich las das Buch und hörte parallel dazu die Vorlesung. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie Schieder das Buch vorlas und wir jede gesprochene Variante des "Meisters" in unserem Arbeitsexemplar notiert haben. Das war deshalb wichtig, weil wir Anfänger nur so überhaupt mitkommen konnten. Wenn man sich vorstellt: Wir als Studenten im 2. Semester und dann die Fülle der Namen, die er präsentierte - der Arbeitsaufwand wäre immens gewesen. So hatten wir das Buch, konnten die Texte nachlesen, die Fußnoten prüfen und hatten sofort ein besseres Verständnis. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wenn er das Blatt umschlug und durch den ganzen Hörsaal ein 150faches Zischen ging, weil wir alle gleichzeitig ebenfalls diese Seite umblätterten. Das hat mir enorm geholfen. Ich habe dann später (1974) mein erstes Buch über "Soziologie und Geschichtswissenschaft" Schieder mit dem Hinweis geschickt, daß es eigentlich eine Spätfrucht seiner damaligen Vorlesung gewesen sei, denn im Grunde war er es, der mich auf diese interessanten Fragen gestoßen hatte. Von daher ist meine Erfahrung mit Schieder wichtig. Er war damals der einzige im Fach, der sich intensiv mit Hintze, Weber und Burckhardt beschäftigte, der über Typenbildung sprach und dies theoretisch fundiert vortrug. Das war eine unglaublich große Hilfe für einen Anfänger, der noch keine klare methodische Orientierung hatte. Die anderen Historiker dagegen boten nur die "reine Lehre", Heinrich Büttner etwa vierstündig über die Geschichte der Ottonen oder Wandruszka, der ganz untheoretisch, eher handwerklich orientiert war. Dagegen bot Schieder den großen theoretischen Durchblick.

Haben Sie auch Seminare in Köln besucht, etwa bei Schieder oder seinen Assistenten?

Nein, das ergab sich noch nicht, denn ich hatte als blutiger Anfänger zu Schieder direkt noch keinen Kontakt, sah ihn nur in der Vorlesung im Audimax. Dort konnte er sich durchaus autoritär gebärden. Wenn etwa jemand vor dem Ende der Vorlesung um 13 Uhr den Raum zu verlassen versuchte, donnerte Schieder ihn per Mikrofon an, worauf dieser dann wieder brav auf seinen Platz zurückkehrte. So war das damals noch.

Schieder las damals - so erinnere ich mich - über die Bismarckzeit, spannender war für mich jedoch seine Theorievorlesung. Das war für mich ein Erlebnis besonderer Art, weil man da die besondere Qualität der Geschichte kennenlernen konnte, die sonst bei einer Sachvorlesung nicht derart deutlich wird. Das beeindruckte mich, zumal Schieder die Problematik in sehr offener Weise anbot. Er hatte keine für mich erkennbare theoretische Fixierung, sondern bemühte sich um die damals spannende Frage des systematisierenden und des individualisierenden Zugriffs und der Verbindbarkeit beider Zugänge.

Hat Sie demzufolge Geschichte mehr von ihrer Methodik her interessiert oder waren auch spezifische Probleme der deutschen Geschichte eine Motivation für Ihr Studium?

Elementar war bei mir ein Interesse an der Geschichte zuerst im allgemeinen, wobei die Neuere und Mittlere Geschichte im Vordergrund standen. Ich hielt Geschichte für eine Möglichkeit, seinen Weg zu finden, seinen Ort zu bestimmen, seine Identität zu entwickeln. Ich fand das elementar und unverzichtbar für eine moderne Gesellschaft, wenn ich meine damaligen Überlegungen schildern soll. Ich hatte einen exzellenten Geschichtslehrer in der Schule gehabt, mit dem ich mich auch über den Fakultätswechsel beraten konnte. Der hatte mir zugeraten, und daher glaubte ich auch, darin eine gewisse Begabung bei mir zu sehen. Ich hatte in Deutsch sehr gute Noten, aber andererseits kein spezifisches Interesse am Lehrfach Deutsch.

Mit Schieder trat die methodische Problematisierung, das theoretische Reflektieren hinzu. Dadurch war eine Kombination von Sachinteresse und methodischer Reflexion entstanden, die ich für produktiv hielt und die mir Spaß machte, die mir auch erlaubte, mein Fach zu begründen. Daraus ergaben sich dann die weiteren Zugriffe, die in der üblichen Kontingenz erfolgten. Ich habe also in Köln diese theoretische Anregung erhalten, bin dann nach Berlin gegangen und besuchte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU gründliche mediävistische Seminare, etwa bei Reinhard Elze und Herbert Helbig, habe vorher noch die Zwischenprüfung, ganz traditionell mit dem damals üblichen hilfswissenschaftlichen Schwerpunkt, gemacht. Ich habe jedoch dann ganz schnell gemerkt, daß in Berlin die Möglichkeit bestand, sich in einen zunehmend wichtiger werdenden Diskurs einzuklinken, der wiederum sehr stark an theoretischen Themen orientiert war. Sie können sich vorstellen, wie bereits 1966/67 das Interesse daran stieg. Damals fing die Studentenbewegung an, sich zu artikulieren, die man am Friedrich-Meinecke-Institut zuerst aus einiger Distanz wahrgenommen hatte, wobei durchaus die Möglichkeit bestand, in die Debatten hineingezogen zu werden und seine eigene Position zu formulieren. Zur eigentlichen "linken" Studentenbewegung habe ich allerdings keinen Zugang gefunden.

Nun, das haben wohl insgesamt nur wenige Historiker getan.

Ich glaube auch deshalb, weil sich Historiker prinzipiell eher zu den kritischen Beobachtern zählen. Ich war bei vielen Ereignissen dabei, und habe die Dinge genau beobachtet, allerdings eher mit innerer Distanz. Ich fand die Ereignisse spannend, interessant, habe sie aber durchaus kritisch beobachtet. Ich sah jedenfalls keinen Anlaß, mich darin persönlich zu engagieren. Was für mich wirklich spannend war, das waren die Diskussionen, die dahinter abliefen, die Debatte z.B., die an unserem Institut angestoßen worden war über "Geschichte und Sozialwissenschaften", oder über die These, daß "Historismus zum Faschismus führe", über die Würdigung Meineckes und der anderen "Großväter", die im Hause hochgehalten wurden, während wir uns von ihnen emanzipieren wollten. Das fand ich spannend. Natürlich auch die Beschäftigung mit Karl Marx, die zur Teilnahme an Marx-Lektürekursen im Studentendorf der FU Berlin führten. Das waren elementare Erfahrungen, die damals mit dazugehörten. Ich weiß noch, als Hans-Ulrich Wehler später als junger Professor nach Berlin kam und - wenn ich mich recht erinnere - Seminare über Max Weber und Karl Marx veranstaltete, das nahm man besonders wahr. Damals gehörte ich aber schon selbst der Tutorengruppe des Instituts an und bot eigene Tutorien an.

Welchem Lehrstuhl waren Sie damals als Tutor zugeordnet?

Keinem, wir waren damals sog. "freie" Tutoren. Das Friedrich-Meinecke-Institut war durch hohe Autonomie geprägt, und man wurde in den Kreis der Tutoren kooptiert. Da mußte man zuerst ein Begleittutorium zu einem Proseminar mitmachen, und anschließend konnte man die ersten freien Tutorien halten. Ich habe zuerst ein Tutorium zu einem frühneuzeitlichen Proseminar gemacht, habe dann ein Tutorium in Französisch angeboten, wobei das Ziel darin bestand, daß der Student nach einem Semester den Sprachschein machte, eine heiße Sache. Und dann durfte ich freie Tutorien leiten. "Soziologie und Geschichte" habe ich damals angeboten, wir haben Elias und amerikanische Texte gelesen. Dadurch bin ich überhaupt erst richtig in die Sache hineingewachsen, zumal dann bereits 1971 ein Verlag anfragte, ob ich darüber nicht ein Buch schreiben wollte.

All das kennzeichnet die kreative Atmosphäre, die damals im Seminar bestand, wo Leute mit theoretischen Interessen auftraten, vielleicht manchmal zu stark angesichts ihres Qualifikationsstandes, die aber insgesamt ein intellektuell anregendes Klima geschaffen haben.

Ich bin dann 1967 im Studentendorf in Schlachtensee "Bürgermeister" geworden. Das Studentendorf besaß eine von den amerikanischen Gründern eingeführte demokratische Modellverfassung mit einer Selbstverwaltung, und da war ich für ein Jahr der Bürgermeister, das war genau in der Zeit, als Benno Ohnesorg erschossen wurde und die heftigen Reaktionen an der FU Berlin einsetzten.

Sie hatten noch ein Nebenfach. Wie verlief dieses Studium?

Ja, das Nebenfach war Politische Wissenschaften. Das habe ich hauptsächlich bei Kurt Sontheimer absolviert. Ansonsten studierte ich intensiv Mittlere und Neuere Geschichte. In Mittlerer Geschichte habe ich Examen bei Herbert Helbig gemacht. Mein Doktorvater Gerald Stourzh, der noch vor meiner Promotion zurück nach Wien berufen wurde, war ein grundliberaler Mann und ein Wissenschaftler mit großer Amerikaerfahrung, der internationale Kontakte hatte und der durch seine Internationalität und ein großes Themenspektrum anregend war, was ja damals nicht so ganz üblich war. Bei ihm konnte ich sehr früh mit der Promotion beginnen; ich habe schon im vierten Semester im ersten Hauptseminar gesessen, noch vor der Zwischenprüfung, und ab dem sechsten Semester war ich dann bei ihm Doktorand, und habe im 10. Semester promoviert. So war das damals. Das frühe Promotionsprojekt war auch der Grund, in Berlin zu bleiben und nicht zurück nach Köln zu gehen, was an sich geplant war. Zusammen mit dem Engagement im Studentendorf und der Stelle als Tutor ergab das eine spannende Verflechtung, die für Berlin sprach.

Hatten Sie von Anfang an vor, in die Wissenschaft zu gehen?

Nein, das konnte man gar nicht vorhaben. Wenn man das Fach Geschichte studiert, muß man offen sein für alle beruflichen Möglichkeiten. Ich hatte mir damals ein Spektrum des Arbeitens vorgestellt, das reichte vom Journalismus bis zu militärstrategischen Studien. Ich besuchte damals in der Politikwissenschaft u.a. bei Ekkehard Krippendorf einschlägige Seminare und vergrub mich in die damals aktuelle militärstrategische Diskussion: Beaufre, Kahn, Helmut Schmidt usw., und habe gedacht, das könnte auch eine berufliche Perspektive eröffnen. Aber es ergab sich nach der Promotion, daß ich eine Assistentenstelle am Friedrich-Meinecke-Institut bekam, die erste Assistentenstelle, die formell ausgeschrieben worden war, denn damals trat das neue Universitätsgesetz in Kraft. So wurde ich Assistent bei Eberhard Weis, der aber dann sehr schnell einen Ruf nach Münster erhielt.

Dadurch bin ich in der Frühen Neuzeit geblieben. Meine erste Publikation (1970) lag noch im Bereich des Vormärz. Ich hatte eine kleine Studie über Biedermann geschrieben, einen Vormärzliberalen, und hätte das gerne weiterverfolgt. Dann stellte sich aber heraus, daß kein richtiger Nachlaß existierte, die relevanten Materialien lagen in Leipzig, was damals natürlich nicht leicht zugänglich war; zudem arbeitete bereits ein Amerikaner an einer Biographie. Das war damals ein Argument für mich, die Finger von Biedermann zu lassen und mich auf die Frühe Neuzeit zu konzentrieren. Das Buch "Geschichte und Soziologie" habe ich in dieser Zeit gewissermaßen zwischendurch geschrieben. Es war das Thema des Tutoriums und der ersten Lehrveranstaltung als Assistent, die ich gemacht hatte. Das war ein Thema, das zu der Zeit in der Luft lag. Zeitgleich hatte Wehler seinen Sammelband "Geschichte und Soziologie" vorbereitet, was ich gar nicht wußte, und ich schrieb mein Buch von April bis Oktober 1972, denn zum Regensburger Historikertag - das weiß ich noch genau - nahm ich mein fertiges Manuskript mit.

Wenn Sie auf Ihre Studienzeit zurückblicken, war es ja genau die Umbruchszeit vor und nach 1968. Könnten Sie uns beschreiben, wie sich das Verhältnis zu den Lehrenden gestaltete oder welche Wandlungen für den Studenten fühlbar wurden.

Als ich nach Berlin kam, war ich fasziniert von der Nähe, die man zu den Lehrenden haben konnte. Ich hatte in Köln angefangen und - abgesehen von meinem Proseminarleiter - keinen Professor näher kennengelernt, hatte sie nur in den Vorlesungen gesehen. Als ich nach Berlin kam, fand nach zwei Wochen der Immatrikulationstee im Keller des Instituts statt, währenddessen ich drei oder vier Professoren und einige Assistenten kennenlernte, und ich merkte, daß am Meinecke-Institut eine Art von Kommunität existierte. Auch mit den Tutoren, die neben der Fachschaft eine klar strukturierte Führungsgruppe waren, wurde man schnell bekannt. Da gab es eine etablierte Führungscrew von Studenten, die eine Vorbildfunktion besaßen. Ich wurde nach zwei Semestern in die Fachschaft gewählt und wurde dann eben auch Tutor. Insofern war die Nähe gegeben, es war ein sehr enges Verhältnis, das es einem erlaubte, gut an die Professoren heranzukommen. Es ergab sich ja in der studentischen Bewegung eine kritische Konfrontation, weil das Meinecke-Institut eher ein ruhiger Ort war, wo die "Revolution" nicht ihren Mittelpunkt hatte.

Was im Otto-Suhr-Institut wohl anders lief, wo Sie Ihr Nebenfach studierten?

Am Otto-Suhr-Institut lief das natürlich anders. Aber die Dinge haben sich doch recht oft berührt, und wir haben das vor allem in theoretischer Form aufgearbeitet. Zumindest schien mir das die adäquate Form zu sein, daß man sich um die Grundlagen des eigenen Fachs bemühte, und dies in einer Weise tun konnte, die auch an die jüngeren Studenten weitergegeben werden konnte. Daß wir schon als Viert-, Fünft-, oder Sechstsemester Tutorien über Themen abhalten konnten, die eine gewisse Relevanz hatten, fand ich schon bemerkenswert. Das Institut machte keine Schwierigkeiten, erlaubte es nicht nur, sondern förderte es sogar. Immerhin wurden wir dafür bezahlt, mit etwa 120,- DM im Monat.

Die Nähe hatte für mich nebenbei noch einen weiteren Aspekt, da ich Hilfskraft bei Hans Herzfeld gewesen bin, der schon lange emeritiert war. Ich hatte ihn durch meine Tätigkeit im Studentendorf kennengelernt, in dessen Beirat Herzfeld saß. Dadurch bin ich in Kontakt mit einem eindrucksvollen Mann gekommen, der die Wissenschaft sehr gut kannte und der zu mir ein Vertrauensverhältnis gewonnen hatte, das - wenn ich das recht sehe - zunächst darauf basierte, daß wir beide Reserveleutnants waren. Das war schon eine groteske Konstellation, wenn man sich überlegt, daß ein alter Herr von Ende siebzig und ein junger Mann von gerade Mitte zwanzig zueinander finden und sehr vertraut miteinander sprechen konnten. Das war faszinierend, weil er vor mir keine Geheimnisse hatte. Ich selber war damals noch gar nicht fähig, all das aufzunehmen, wenn er etwa kritische Kommentare über Kollegen machte oder von der Entwicklung seines Verhältnisses zur SPD sprach. Ich habe zwar versucht, vieles nachzulesen, aber man kam da gar nicht so schnell mit. Jedenfalls war es eine gute und erfahrungsreiche Zeit. Ich habe damals u.a. mit ihm die Neubearbeitung der "Modernen Welt" vorgenommen, wodurch ich enorm von seinem Wissen profitieren konnte und auch über den Tellerrand meiner Frühen Neuzeit hinauszusehen lernte.

1970 hatte ich promoviert, das ging recht schnell, ich wurde Assistent und konnte in Berlin bleiben. 1974 wurde ich Assistenzprofessor bei Wolfram Fischer für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit. Das dauerte jedoch nur ein Dreivierteljahr. Dann kam schon im Oktober 1974 der Ruf nach Kassel; ich bin also sehr früh berufen worden, war gerade 32 Jahre alt, zudem hatte ich mich gerade erst in Berlin zur Habilitation angemeldet. Während ich schon Hochschullehrer in Kassel war, wurde das Berliner Habilitationsverfahren abgeschlossen. Ich wollte das unbedingt durchziehen und bin dann im Sommer 1975 habilitiert worden.

Ihre Zeit in Kassel war eher ein kurzes Intermezzo?

Ja, ich blieb nur drei Semester in Kassel, das war in der Tat ein kurzes Intermezzo. Allerdings waren die Bedingungen dort nicht gerade günstig. Die Bibliothek war noch im Aufbau, die Stellung des Fachs Geschichte innerhalb der Sozialwissenschaften war prekär, und meine Frau war derweil noch in Berlin berufstätig. Als ich nach drei Semestern einen Ruf zurück an die FU bekam, habe ich die Chance genutzt und bin wieder zurück nach Berlin gegangen. Ich bin bis zum Wintersemester 1977/78 in Berlin geblieben, habe einen Ruf nach Osnabrück abgelehnt und habe dann den Ruf nach Bochum angenommen.

Bochum war Mitte der 70er Jahre neben Bielefeld eine der Reform-Universitäten und verkörperte den Aufbruch zu neuen Ufern?

Ja, durchaus. Auch mit dem deutlichen Schwerpunkt auf der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und der Technikgeschichte. Das war neben der starken Zeitgeschichte das Besondere an Bochum. Damit hatte sich die Fakultät ihr Profil verschafft. Zu der Zeit waren interessante Leute da, etwa Hans Mommsen und Dietmar Petzina in der Zeitgeschichte, Wolfgang Köllmann für Sozialgeschichte, Jörn Rüsen für Theorie und Didaktik. Das war eine spannende, produktive und kreative Zeit, in der wir auch einiges zusammen gemacht haben. Ich selber habe mich dann im Bereich der Frühen Neuzeit auf die europäischen Dimensionen konzentriert, habe intensiv Seminare zur französischen und englischen Geschichte angeboten und in Seminaren und Vorlesungen auch Themen zur Historiographie weiterbehandelt, vor allem, nachdem Jörn Rüsen weggegangen war.

Wann wuchs bei Ihnen die Sensibilität für Kontinuitätsfragen der Geschichtswissenschaft zwischen Weimarer Zeit, Drittem Reich und früher Bundesrepublik? Können Sie das an bestimmten Erfahrungen festmachen? Hat man sich dazu damals überhaupt intensiv Gedanken gemacht?

Zunächst waren da die Erfahrungen in der Berliner Zeit prägend, als uns in den Schriften von Otto Brunner und Günther Franz ausgelassene Passagen in den neuen Vorworten aufgefallen waren, die durch Pünktchen gekennzeichnet waren, und wir natürlich nachgesehen haben, wie die Formulierungen in den alten Vorworten lauteten. Mit einer gewissen Entdeckerfreude haben wir festgestellt, daß in diesen Vorworten natürlich Anderslautendes gestanden hatte als in den neuen Ausgaben der 50er Jahre.

Dann kam mit den Büchern von Helmut Heiber und Karl Ferdinand Werner die erste Welle der Aufarbeitung. Das öffnete uns die Augen, und dadurch wurden wir für solche Fragen sensibilisiert, die intensivere Aufarbeitung empfanden wir als notwendig. All dies zu verschweigen oder von uns wegzuschieben, konnte keine Lösung sein. Die Vorlesungsreihen der 60er Jahre sind dann ja auch als "hilfloser Antifaschismus" (Wolfgang Fritz Haug) kritisiert worden.

Somit hatte man das Problem schon realisiert, obwohl man nicht das Gefühl hatte, hier gäbe es noch Mengen von unentdecktem Material. Bei Brunner oder Franz wußte man, daß sie Figuren waren, die aus guten Gründen nach dem Zusammenbruch einige Jahre aus dem Universitätsbetrieb heraus gehalten worden waren und erst spät wieder eine Anstellung bekamen. Deren Geschichte war uns damals sehr bewußt.

Die Sache ist dann in den 70er und 80er Jahren gar nicht mehr groß thematisiert worden. Hier und da erschien vielleicht im Zusammenhang einer Universitätsgeschichte mal ein Artikel, aber das Thema bot wohl nicht die großen Fragen und wurde nach meinem damaligen Eindruck wissenschaftlich angemessen behandelt. Man konnte sich damit offen beschäftigen, man hätte auch intensiver darüber arbeiten können, aber es stand nicht im direkten Mittelpunkt des Interesses. Man muß auch sehen, daß die Nachlässe nicht im notwendigen Umfang verfügbar waren, was sich erst später ergab.

Eine erneute Sensibilisierung ergab sich als Folge einer Konferenz, die Ernst Schulin im September 1986 im Historischen Kolleg in München organisierte. Sie hatte die Geschichtswissenschaft in Deutschland nach 1945 auch in ihrer Kontinuität vom Drittem Reich zur Bundesrepublik zum Thema, und dafür erbat Schulin von mir einen Beitrag über den Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. Damit wurde ich in eine neue Diskussion hineingezogen, jedoch damals noch ohne die Perspektive, die etwa die heutige Diskussion bestimmt. Dazu kam ich im Grunde erst, als ich über die Frage eines Zusammenhangs zwischen der Volksgeschichte der 30er Jahre und der frühen Sozialgeschichte in der Bundesrepublik nachdachte. Eines Abends fiel mir der Beitrag des Agrarsoziologen Hans Linde, eines Schülers von Gunther Ipsen, in dem Sammelband "Moderne deutsche Sozialgeschichte" von Hans-Ulrich Wehler auf, und ich fragte mich, wie der da hereingekommen sei. Da wurde mir bewußt, daß die Sozialgeschichte der 50er und 60er Jahre, zumal mit ihrer Verbindung durch die Person von Werner Conze, theoretische Verbindungen zur Volksgeschichte haben könnte, wie sie in den 30er Jahren betrieben wurde. Durch den Autor Linde, der als Agrarhistoriker in dem erwähnten Band vertreten war, wurde mir mit einem Schlag klar, daß das Conzesche Interesse an der Sozialgeschichte verbunden sein könnte mit seinen spezifischen Erfahrungen in den 30er Jahren. Das ist ja ganz naheliegend und auch nichts Außergewöhnliches, aber ich entdeckte diese Zusammenhänge für mich als eine spannende Frage, und ich ging ihnen in meinem Buch über die "Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945" von 1989 nach, das ja aus dem Beitrag für die Münchener Konferenz entstand.

Ich habe im Buch versucht, diese Gedanken zu vertiefen. Dazu mußte ich an den Heidelberger "Arbeitskreis für Sozialgeschichte" herankommen, der 1957 in Bad Ems gegründet worden war. In Heidelberg habe ich mir die Protokolle der ersten Sitzungen angesehen und einiges Material ausgegraben, wovon ich natürlich fasziniert war. Wenn etwa Brunner um die Struktur- oder Sozialgeschichte ringt und die alten Begriffe ("Volksgeschichte") noch fallen und man sich fragt, was man damit will und wie das gemeint sei. Dort wurden auch schon die Ideen für ein Lexikon der Begriffsgeschichte entwickelt, die "Geschichtlichen Grundbegriffe". Damit fand ich hinreichend Ansatzpunkte, diesen Faden aufzunehmen, ihn in meinem Buch als eine Kontinuitätslinie der Geschichtswissenschaft vom Dritten Reich zur Bundesrepublik anzudeuten. Eine Diskreditierung der "modernen deutschen Sozialgeschichte" à la Bielefeld war damals gar nicht meine Absicht.

Haben Sie Otto Brunner noch selbst kennengelernt?

Leider nicht mehr persönlich. Um so intensiver haben wir damals seine Schriften gelesen, die für einen Frühneuzeitler ein "Muß" waren.

Aber Werner Conze haben Sie noch persönlich kennengelernt?

Conze habe ich in Köln nur einmal bei einem Vortrag und durch einen späteren Briefwechsel kennengelernt, ich habe aber bedauerlicherweise keine persönliche Beziehung zu ihm aufbauen können. Ich mußte mir also später all diese Persönlichkeiten über Archivalien und Schriften erschließen, was dann auch einen objektivierenden Zwang hatte. Im übrigen ist das üblicherweise unsere Aufgabe als Historiker. Das ist vielleicht der Unterschied zwischen meiner Sozialisation und der der "Generation" von Wolfgang Schieder, Hans-Ulrich Wehler oder Hans und Wolfgang Mommsen, die mit diesen Historikern in einer Schülerbeziehung standen, während ich distanziert davon war. Mein Doktorvater kam aus einem ganz anderen Kontext, der zu diesem Kreis gar keine Beziehungen unterhielt. Von daher konnte und kann ich das eher nüchtern beobachten.

Ich stellte fest, daß es Beziehungen gab, die man kaum übersehen konnte. Conzes herbe Kritik etwa am Historismus in den frühen 50er Jahren, jedenfalls die in seinen Briefen - nicht in Publikationen - geäußerte Kritik war schon bemerkenswert, weil er darin sah, daß der Historismus in seiner klassischen Form, mit seiner starken Staatsorientierung nicht in der Lage war, die großen gesellschaftlichen Umbrüche adäquat zu erfassen. Das war völlig richtig beobachtet. Das zeigte mir, daß in der Volksgeschichte ein bestimmtes Maß an innovativem Potential steckte, zumindest in den großen Linien der Siedlungsgeschichte, der Sprachgeschichte bis zur Politik- und Demographiegeschichte. Diese Punkte standen im Zusammenhang mit der Historismuskritik, allerdings in einer ideologisch höchst prekären Form.

Dennoch konnte man einen bestimmten innovativen Schritt sehen, der hier gemacht worden war, nämlich den Schritt vom "Staat" zur "Gesellschaft". Das war ein ganz wesentlicher Paradigmenwechsel, wenngleich Gesellschaft zunächst noch als "Volk" begriffen wurde, aber das war der entscheidende Punkt, der dann auch methodische Konsequenzen hatte. Das macht den Kern aus, den man als innovativ bezeichnen kann, und meiner Meinung nach verschlägt es nichts, wenn man sagt, daß dieser Wechsel ideologisch hoch belastet war. Dieser Paradigmenwechsel ist ja zudem ein europäisches Phänomen. Die Franzosen etwa haben in dieser Zeit durchaus Ähnliches diskutiert. Dies war die Genese des Gedankenganges, den ich in meinem Buch formulierte. Mir schien das zudem passend, weil diese Dinge nicht bekannt waren. Ich wollte eben nicht nur die bekannte Diskussion um Demokratisierung und Zeitgeschichte repetieren.

Einer der wichtigen Akzente in Ihrem Buch, dokumentiert etwa durch den Abdruck des Briefes von Peter Rassow, der erstaunliche Einsichten in die unmittelbare Nachkriegszeit gewährt, ist das Phänomen, daß in den Nachkriegsjahren 1946 bis 1948 in den Briefwechseln der Historiker untereinander eine recht objektive Sicht auf das Vergangene herrschte, aber in den 50er Jahren diese Sicht wiederum verlorenging, insofern, als dominante Persönlichkeiten wie Rothfels oder Ritter Forschungsinteressen hatten, die an nationale Interessen gekoppelt waren. Von daher war wohl Ihr Buch auch erst möglich, als diese Generation die Bühne verlassen hatte?

Das kann man sicherlich so sagen. Die Situation war eben so gegeben. Nehmen Sie zum Beispiel den kritischen Nachruf auf Gerhard Ritter von dem Freiburger Kollegen Hans-Günther Zmarzlik in der Historischen Zeitschrift von 1968, das war damals eine Sensation, die das Fach bewegte. Zumal wenn man bedenkt, welche enorme Rolle Ritter in den 50er und 60er Jahren gespielt hatte, mit wieviel Respekt auch Herzfeld mir gegenüber über Ritter sprach. In der Tat wurden diese Diskussion erst nach dem generationellen Wechsel möglich.

Ähnliches läßt sich wohl auch über Rothfels und Herzfeld sagen, dann auch über Theodor Schieder und Werner Conze?

Wahrscheinlich muß man das gar nicht auf psychologische Gründe zurückführen, es gibt einfach Normen menschlichen Verhaltens. Niemand wird einem alten Menschen seine Jugendsünden vorhalten, denn niemand fügt einem anderen gerne Leid zu; man versucht dies so lange wie möglich zu vermeiden. Ich würde zumindest versuchen, damit sehr vorsichtig umzugehen. Aber das ist mehr ein persönliches Argument.

Aber es gibt dabei noch eine andere Seite, die sich mehr mit Forschungs- und institutionellen Fragen verbindet, etwa die Frage der Gelder für Projekte, die wiederum dadurch von den mächtigen Personen bestimmt werden. Wenn etwa Rothfels lange Jahre die Widerstandsforschung dominierte oder Gerhard Ritter die Goerdeler-Biographie vorlegte, bedeutete das sicherlich auch, daß für viele Jahre in manchen anderen Gebieten dann eben nicht geforscht wurde und die Forschung in diesem Bereich nicht gefördert wurde.

Ja, das hatte enorme Konsequenzen, und das kann man bei Ritter und Rothfels auch sehr deutlich sehen. Rothfels war der Mann, der eine Schaltfunktion hatte, der immer gefragt wurde, wenn es um Publikationen oder Besetzungen, gerade auch wenn es um die Figuren des Dritten Reiches ging, die später wieder aktiviert und in die Fakultäten zurückgeholt werden sollten, im Zusammenhang mit dem Paragraphen 131 GG . Und er schaltete sich seinerseits in viele Dinge ein, die damals von Bedeutung waren, die Aktenpublikationen, das Institut für Zeitgeschichte, auch in forschungsstrategische Fragen (z.B. Riezler-Tagebücher) und Entschädigungsfragen usw. Insofern hat er eine strategisch wichtige Position eingenommen. Ich finde, er wird in der jetzigen Diskussion zu sehr vernachlässigt. Übrigens hatte er auch in der früheren Debatte eine strategisch wichtige Position. Mit seiner Art und Weise, die Königsberger Themen in den 50er Jahren wieder aufzugreifen, hat er die junge Generation geprägt. Es müßte stärker geprüft werden, inwieweit er die Ansätze und Denkweisen aus den 30er Jahren mit in die 50er Jahre hinübergenommen hat. Eine kritische Rothfels-Biographie ist ein Desiderat, ohne jeden Zweifel. Man kann nicht nur seine große Bedeutung für die Heranbildung des Nachwuchses für die zeithistorische Forschung betonen, man müßte auch andere Dinge thematisieren, etwa den nationalkonservativen 'Schwarz-Weiß-Rothfels'.

Und trotzdem gab es dann eine Schülergeneration, die weit nach links gerückt ist, wie etwa Hans Mommsen oder Heinrich-August Winkler, die damit in diesen Punkten ihrem Lehrer nicht mehr gefolgt sind, was dieser wiederum offenbar toleriert hat.

Ganz offensichtlich, auch wenn man im Einzelnen genau hinschauen muß. Vielleicht war es auch ein Vorteil dieser nachfolgenden Generation, daß Rothfels und Theodor Schieder - bei Conze kann ich das nicht genau beurteilen - ganz offen waren für eine heterogene Schülerschaft. Über die Gründe kann man nur spekulieren, vielleicht spielte auch Unsicherheit eine Rolle, gerade bei Schieder. Da ist aber auch der Punkt, den Wehler die "reflexive Lernbereitschaft" in ihrer Karriere nennt, die Fähigkeit, über die Dinge zu räsonnieren. Ich finde auch bei Schieder seinen Umgang mit dem Projekt der "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa" interessant, bei dem er sich am Ende weigert, die Vertreibung der Juden aus dem großen Thema herauszunehmen. Vermutlich ist ja die Fertigstellung des Schlußbandes an seiner Vorstellung von der notwendigen Totalität des historischen Problems gescheitert, während das Ministerium eine sehr schlanke und unilineare Herleitung haben wollte. Da dringt ein anderer Schieder durch als der der frühen 30er Jahre, ein Schieder, der seine Aufgaben unter anderen historisch-methodischen Prämissen sieht.

Bei den Recherchen zu Ihrem Buch und bei Gesprächen mit Zeitzeugen kamen Sie auch mit der Person Günther Franz in Berührung. Wie schätzen sie seine Rolle ein?

Den habe ich noch auf Konferenzen kennengelernt, für das Buch habe ich mit ihm noch korrespondiert, er hat mir Teilerinnerungen überlassen. Er gehörte zu jenen, die in den 30er Jahren verblendete SS-Führer waren mit einer hohen Bereitschaft, mißliebige Fachkollegen zu disziplinieren. Ich erinnere mich an seine Postkarte, in der er Wilhelm Mommsen gegenüber seinen Wechsel von Jena nach Straßburg kommentierte: "Endlich an die Front", weil dort nach dem Frankreichfeldzug 1940 die Frontuniversität Straßburg aufgemacht wurde. Er ist auch mit manchem liberalen Historiker extrem unfreundlich umgegangen, hat sich geradezu rabaukenhaft im Fach verhalten. Das hindert nicht die Anerkennung für sein Buch "Der deutsche Bauernkrieg" aus dem Jahr 1933, das als gründliche Forschungsleistung anerkannt werden muß. Das ist zwar in einem bestimmten Forschungskontext zu sehen, der jetzt von Wolfgang Behringer sehr deutlich benannt worden ist. Aber als Fachhistoriker im engeren Sinne hat er sicher eine beachtliche Leistung vorgelegt. Franz kannten wir als jemanden, der lange Jahre nicht im Fach lehren durfte, der sein Brot mit allen möglichen Auftragspublikationen verdienen mußte und der dann erst wieder 1957 eine Professur in Hohenheim bekam. Das geschah infolge des Artikels 131 GG, der ihm die Chance bot, wieder in die Universität hineinzukommen. Andere haben das nicht geschafft. Wir haben z.B. in München einen solchen Historiker entdeckt: Ulrich Crämer, ein Frühneuzeitler, der auch Herausgeber der Zeitschrift "Vergangenheit und Gegenwart" war. Er kämpfte von 1947 bis 1963 um eine Wiedereinsetzung in die Professur, freilich ohne Erfolg, da seine Berufung auf den Lehrstuhl im Jahre 1940 als eindeutige Parteimaßnahme nachgewiesen werden konnte.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Ich denke, daß man eine Vorbemerkung machen muß, die darauf abzielt, daß die Historiker während der Weimarer Zeit aufgrund ihrer relativ starken nationalstaatlichen Orientierung, ihrer starken Anti-Versailles-Orientierung "nicht mit leeren Händen" zum Nationalsozialismus kamen. Das ist eine Formulierung von Karl Alexander von Müller, die ich für sehr aufschlußreich halte.

Die Masse der Historiker war sicherlich Mitläufer im Sinne der Kategorien von Schuld und Nicht-Schuld. Aber was mir wichtiger scheint - gerade nach den Ergebnissen der neueren Forschung -, ist die Tatsache, daß wir uns in den 60er, 70er und 80er Jahren ein noch unvollständiges Bild über die Art und Weise gemacht haben, wie sich Historiker in dieses System hineinbegeben und dort willentlich und wissentlich mitgearbeitet haben. Man kann nicht einfach die neuen Ergebnisse jetzt unter das alte Urteil subsumieren, daß die Masse der Historiker nur Mitläufer gewesen seien und nichts substantiell Neues herausgekommen sei. Ich finde, daß gerade der Blick auf Personen wie etwa Conze, Schieder und Erdmann, die in der neueren Diskussion herausgestellt werden, eine viel größere Bereitschaft zum Engagement belegt.

Ich würde nicht so weit gehen, hier von "Vordenkern der Vernichtung" zu sprechen, das entspricht nicht dem "Plausibilitätshorizont" derjenigen, die das damals gemacht haben. Das ist eine durchaus richtige Beobachtung von Hans-Ulrich Wehler. Ich denke aber, daß sie in einer fahrlässigen Weise Konzepte für das Fach übernommen und in den allgemeinen Diskurs, mitunter auch in die Politik, eingeführt haben, was fatale Konsequenzen haben konnte und zum Teil auch hatte. Im einzelnen dürfte es schwierig sein, zu sagen, daß eine einzelne Denkschritt eine bestimmte Funktion gehabt habe, aber das ist Teil eines großen Diskurses, der gesehen werden muß und in dem manches entscheidend zusammenpaßt.

Hinzu kommt, daß wir in den 70er und 80er Jahren zu wenig die groß angelegten Unternehmen der außeruniversitären Forschung in den Blick genommen haben. Dazu gehören zum Beispiel das "Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums" oder die "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften", deren Rolle Michael Fahlbusch jetzt untersucht hat. Das zeigt ein anderes quantitatives Phänomen der historischen Forschung. Das sind ein paar hundert Leute, die dort engagiert waren, während wir immer davon ausgegangen waren, daß die verwickelten Historiker an einer Hand abzuzählen sind oder sich höchstens im Bereich der Ordinarienzahlen bewegten. Es gab vielleicht 10 bis 15 Historiker aus dem Umkreis von Walter Franks "Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands", die wir genauer kannten und die das Forschungsfeld doch recht eingegrenzt haben. Nun kommt aber die Rolle eben dieser Forschungseinrichtungen hinzu, die alleine Propagandazwecken dienten und in denen in hohem Maße vor allem junge Historiker, Philologen, Volkskundler u.a. beschäftigt waren.

Dieses muß in das Gesamtbild mit einbezogen werden, und ich meine daher, daß wir insgesamt eine neue Bewertung vornehmen müssen. Wir können nicht die alten, summierenden Passagen übernehmen, die wir vielleicht vor zehn Jahren geschrieben haben.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Also jedenfalls nicht in einem moralischen Sinne. Insofern leuchtet mir hier nicht das Argument von Hans-Ulrich Wehler ein, daß man die Biographie vor 1945 aufrechnen müsse mit der Biographie nach 1945 und daß dann in einigen Fällen eine positive Bilanz herauskommt. Das zu tun, macht keinen Sinn. Hier muß man die gebrochene Biographie akzeptieren. Ich finde es interessant, wenn man sich die unterschiedlichen Konstellationen und Dispositionen dieser Männer vor Augen hält und dann fragt, was sie und zu welchem Zeitpunkt aus diesen Erfahrungen gelernt haben und was diesen Lernprozeß im Einzelnen bewirkt hat. Diese Frage für die einzelnen Historiker in aller Genauigkeit herauszuarbeiten, scheint mir eine interessante Forschungsaufgabe zu sein. Im übrigen ist dies ein zentraler Gesichtspunkt für die gesamte Debatte über die Nähe von Geschichtswissenschaft und Politik. Jedenfalls glaube ich, daß das Verrechnen kein guter Ansatzpunkt ist.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

An anderer Stelle habe ich schon gesagt, daß ich in der Volksgeschichte in der Tat innovative Elemente sehe. Zu lange war das Grundparadigma der Geschichtswissenschaftler staatsorientiert, und über die Volksgeschichte ist es auf die Gesellschaft gelenkt worden, die allerdings noch nicht im soziologischen Sinne als (Konflikt-)"Gesellschaft" verstanden wurde. Aber das Phänomen der Gesellschaft trat unter dem Deckmantel des Begriffes "Volk" in das Bewußtsein der Historiker, und das hatte erhebliche methodische Konsequenzen. "Volk" kann man nicht einfach über Institutionen wahrnehmen, über Räte, Ministerien und Staatssekretäre. "Volk" muß man in seinen Erscheinungsformen wahrnehmen, und damit konnte die "Volks"-Diskussion und Volksgeschichte auf ältere Ansätze zurückgreifen.

Schon Georg von Below hatte gesagt, Soziologie brauche man nicht, weil die Romantiker schon alles gewußt hätten, was die modernen Soziologen wissen wollten. Die Volksgeschichte greift zum Teil auf Erkenntnisse und Annahmen der romantischen Gesellschaftsanalyse zurück, fügt diese aber ein in die Wissenschaftssystematik der 20er und 30er Jahre, das heißt, in die bereits ausdifferenzierten Disziplinen, und faßt diese Disziplinen wieder unter dem Begriff des "Volkes" zusammen. Insofern bedeutet sie etwas anderes.

Das ist meines Erachtens eine durchaus innovative Idee, wie sie parallel auch in anderen europäischen Ländern verfolgt wurde. Ich sehe hier keinen Grund, diese Elemente zu leugnen, nur weil die Volksgeschichte den falschen Zielen dienstbar gemacht worden ist. Hier kommt es auf die Kernidee an.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Der empirische Befund ist relativ eindeutig: Die Personen, die nach 1945 in Westdeutschland gelehrt haben, waren Personen, die entweder schon im Dritten Reich lehrten oder im Dritten Reich wissenschaftlich sozialisiert worden waren. Das ist der entscheidende Punkt. An der Kontinuität kann insofern kein Zweifel angebracht werden.

Aber das erklärt das Problem nicht. Die interessante Frage ist, wie sich Historiker, die sich im Dritten Reich in der einen oder anderen Weise bewährt oder ausgezeichnet hatten, jedenfalls vom NS-System honoriert wurden, in die Lage versetzt werden konnten, unter den neuen Bedingungen Geschichte zu lehren. Da kann man beobachten, daß Historiker, die unter nationalstaatlichen, ja nationalistischen Prämissen groß geworden waren, daß Historiker, die zum Teil auch völkisch argumentiert hatten, nun zu Historikern wurden, die sich an das neue Paradigma einer westlich orientierten Geschichtswissenschaft anpassen konnten. Das war nun eine Geschichte, die nicht mehr den Nationalstaat in den Mittelpunkt stellte, eine Geschichte, die sich an Europa orientierte, wie etwa Rassow mit dem Spruch: "Hin zu Europa!", dabei implizierend, daß dies die Rettung sei, die man für die Disziplin sehe. Das waren Historiker, die sich partiell am "Abendland" orientieren konnten, eine ideologische Ersatzfigur, die für eine gewisse Zeit eine Rolle in der Orientierung der Historiker spielte. Das waren Historiker, die sich wieder auf den Ertrag von Revolutionen in der Geschichte besinnen konnten - ich denke etwa an Rudolf Stadelmann -, die im Rückblick sowohl auf die Englische wie auch die Revolution von 1848 revolutionäre Phänomene positiv bewerten konnten, nachdem sie bislang genau gegenteilig interpretiert worden waren.

Jetzt kann man natürlich rückblickend sagen, daß dies alles in Deutschland nur möglich war, weil dahinter der Druck der Alliierten stand, die das durchgesetzt haben, die bestimmte Grundorientierungen vorgegeben haben. Gleichwohl bleibt die Kapazität der Historiker, dermaßen umschalten zu können und dann noch in den ersten 20 Jahren der Bundesrepublik eine Erziehung zur Demokratie gewährleisten zu können, faszinierend und erklärungsbedürftig, denn daß sie dies getan haben, steht außer Zweifel. Daß Historiker wie Conze, Schieder und Erdmann demokratisch gelehrt und gewirkt haben, daran habe ich keinen Grund zu zweifeln.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Ich glaube, daß man in der Tat einen Unterschied machen muß zwischen der Zeit vor 1968 oder den frühen 60er Jahren und einer Phase ab Mitte der 60er Jahre. Vor 1968 kann man eine Art Rücksichtnahme aus existentiellen Gründen konstatieren. Wenn etwa ein Kollege von einem anderen Kollegen einen Persilschein haben wollte, dann wurde dieser Persilschein eben auch dann ausgestellt, wenn der ausstellende Kollege nicht hundertprozentig von der Richtigkeit dieses Dokuments überzeugt war. Es gab offensichtlich eine Art von Überlebensdynamik, die in diesen Fällen das klare politische Urteil verdeckte, und selbst Leute, die im Nationalsozialismus hatten leiden müssen, wie etwa Ludwig Dehio, waren durchaus bereit, auch solchen Personen exkulpierende Erklärungen auszustellen, die eine sehr judenfeindliche Haltung eingenommen hatten. Das ist ein Überlebensmechanismus, den wir in der unmittelbaren Nachkriegszeit beobachten können.

Dann stand die Disziplin unter dem Eindruck, daß eine Reihe von Kollegen, die vermeintlich schlimmsten, die unbelehrbaren, bestraft und aus dem Verkehr gezogen worden waren, so etwa Willy Andreas, Günther Franz und Erich Botzenhart. Dies schaffte zunächst einmal Erleichterung. Hinzu kam, daß ab den frühen 50er Jahren einige Emigranten zurückkehrten und in Deutschland eine gewisse Wirksamkeit entfalten konnten. So kam Hans Rothfels dauerhaft zurück, andere kamen vorübergehend. Auch das schuf Entlastung. Dazu kam, daß in den Anfangsjahren die Materiallage zur Aufarbeitung sehr schlecht war. Die Personalakten waren gesperrt, man kam da nicht heran. Dadurch war man gezwungen, die persönlichen Erinnerungen zu mobilisieren, die wiederum unter dem schon erwähnten Vorbehalt standen, anderen nicht schaden zu wollen. Das erklärt zumindest die Reaktionen in den 50er Jahren, und sie prägen auch noch die Diskussion bis in die 60er Jahre hinein, wo einfach noch nicht die Voraussetzungen für eine intensive Forschung gegeben waren.

Zudem muß man den größeren Kontext der NS-Prozesse der frühen 60er Jahre mit berücksichtigen. Diese haben ein neues Klima für die Frage der Verfolgung der NS-Verbrechen geschaffen. Das hat dann sicherlich auch Mitte der 60er Jahre eine Rolle gespielt, als das Interesse an der Rolle der Historiker wuchs. Dazu kamen die erwähnten Bücher von Helmut Heiber und Karl Ferdinand Werner, die schon deutlich belegten, was während des Dritten Reiches geschehen war. Wenn man Heibers Buch liest und auch die Fußnoten mit beachtet, dann wußte man, daß z.B. Fritz Fischer ein Mann aus dem Umfeld des Frank'schen Instituts war. Und daß Hermann Kellenbenz seine Studien ebenfalls in diesem Kontext unternommen hatte, das wußte man auch. Aber es ist damals als nüchterne Aufarbeitung gesehen worden, ohne daß das Thema so emotional besetzt gewesen wäre, wie sich das in der letzten Zeit entwickelt hat, wo das in einem ganz anderen Kontext gesehen wird.

Man muß auch beachten, daß das Phänomen "Holocaust" in den 50er und 60er Jahren ganz anders gesehen wurde. Wenn Sie etwa die Briefe der Emigranten an ihre deutschen Kollegen lesen, dann tauchen Themen wie "Holocaust" oder "Judenvernichtung" so gut wie nicht auf. Die Dinge wurden zuerst verdrängt und sind erst nach der ersten Welle der wissenschaftlichen Aufarbeitung, im Grunde erst mit der emotionalisierten Rezeptionsphase nach der "Holocaust"-Fernsehserie, in ein breiteres Bewußtsein gedrungen und haben eine ganz andere Qualität gewonnen. Auf dieser Basis hat ein neues Nachfragen eingesetzt, das zu der Diskussion geführt hat, wie wir sie seit einigen Jahren beobachten können.

Dieses neue Nachfragen finde ich vollkommen legitim, weil jede Generation ihre Fragen neu stellen muß, und die Interessen der jetzigen jungen Historiker sind eben andere Interessen, als sie die jungen Historiker der 60er und 70er Jahre hatten, und diese wiederum sind anders im Vergleich zu denen der 50er Jahre. Wenn man dies so feststellt, dann muß man gar keine "Verschwörungstheorien" bemühen, wie das hier und da gemacht wird, wenn man von "bewußtem großen Verschweigen" spricht. Ich würde das vielmehr in einen allgemeinen, lebensweltlich bedingten wissenschaftlichen Rahmen einordnen, wobei ich natürlich nicht übersehe, daß wir ausgeprägte Netzwerke von Wissenschaftlern hatten, die sich in den 50er und 60er Jahren gegenseitig versorgt haben. Vor einiger Zeit ist ja z.B. deutlich geworden, daß etwa ein Netzwerk um Schneider/Schwerte herum existierte. Hier gibt es noch einige Institutionen, die man sich näher ansehen muß. Auch gab es im Kontext von Ulrich Crämer in München ein Netzwerk, einen Kreis von "amtsverdrängten" Hochschullehrern, deren Rolle man genauer klären müßte. Und hier wird man auch auf politische Verbindungen zu achten haben, hier sehe ich ebenfalls noch ein großes Feld der Forschung. Man kann hier also als Historiker durchaus Erklärungen finden, man muß sich nur bemühen, auch komplexe Erklärungen zustande zu bringen, die aber sicherlich mehr aussagen als solche Verschwörungstheorien.

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Ich glaube, daß Geschichte ohne Politik nicht denkbar ist. Niemand würde sich vermutlich um die Geschichte kümmern, wenn sie nicht etwas mit der Potentialität, zukünftige Entwicklungen beeinflussen zu können, zu tun hätte. Wir definieren uns über unsere Geschichte, wir gewinnen Argumente aus der Beschäftigung mit der Geschichte, wir konstruieren unsere Entscheidungsräume aus der Geschichte heraus. Von daher sind beide Elemente eng miteinander verbunden, dies ist elementar und letztlich unverzichtbar.

Die Frage ist, inwieweit wir die professionalisierte akademische Geschichtswissenschaft in diesen politischen Prozeß einbeziehen. Da würde ich zunächst einmal dafür plädieren, eine gewisse Distanz zwischen dem akademischen Betrieb und der Verwertung der Geschichte in konkreten politischen Kontexten zu schaffen. Ich bin der Meinung, daß historische Forschung nicht in direkter politischer Absicht erfolgen sollte, das ist kontraproduktiv und meines Erachtens verhängnisvoll. Allerdings muß jeder Historiker, der Geschichte schreibt - über welches Thema auch immer -, sich bewußt sein, daß das, was er tut, nicht in einem ideologiefreien oder unpolitischen Raum stattfindet, sondern sich - wenn auch mit z.T. sehr langen Handlungsketten - in einen großen Kontext einordnet, in dem jedoch das, was er schreibt, eine große politische Wirkung erzielen kann. Ich glaube, daß jeder, der dies außer acht läßt, dumm ist oder es nicht sehen will.

Jetzt gibt es verschiedene Möglichkeiten, die erwähnte naturgebene Distanz von Geschichtswissenschaft und Politik zu verringern, sie gar aufzuheben. Es gibt Kollegen, die sich als "politische Professoren" verstehen, auch in Anbindung an politische Parteien, und entsprechend agieren. Das ist nicht frei von Risiken. Es gibt andererseits Kollegen, die eine bewußte Distanz zwischen ihr Werk und den politischen Entscheidungskontext legen. Letzteres scheint mir insgesamt sinnvoller zu sein. Ich will nicht ausschließen, daß es zuweilen Optionen für die erste Möglichkeit gibt, vielleicht auch nur in Sonderfällen. Aber mir scheint insgesamt eine Distanz günstiger zu sein, weil sie uns Historikern eine größere Wirkungsmöglichkeit gibt. Wir müssen jedoch immer im Auge behalten, daß dieser Grundzusammenhang zwischen unserer Wissenschaft und der Politik besteht, und er sollte nicht verleugnet werden.

Was jetzt die Erfahrungen der Bundesrepublik mit der Geschichte des Dritten Reiches angeht, so scheint mir evident zu sein, daß die Geschichte der Bundesrepublik nach 1945 nicht verstanden werden kann, ohne sie vor allem als Reaktion auf die Erfahrungen des Dritten Reiches zu begreifen. Ich meine, daß es ihr, zwar nicht in jeder Phase auf vorbildliche, aber insgesamt doch auf eindrucksvolle Weise gelungen ist, ein Lernpotential in allen Bereichen zu mobilisieren, das auch im Vergleich zu vielen anderen Ländern beachtlich ist. Jedenfalls ist das, was hier entstanden ist, nämlich eine westlich-pluralistische Demokratie mit liberalen Grundwerten, nicht etwas, was dem Staat Bundesrepublik sozusagen in die Wiege mitgegeben worden wäre, sondern es ist als Lernreflex auf die vorangegangenen Jahre des Dritten Reiches entstanden, vor allem dann durch die Orientierung nach Westeuropa und Amerika. Insgesamt glaube ich, daß dies eine der starken und positiven Seiten der Bundesrepublik darstellt.

Wenn Sie nach dem Umgang der bundesrepublikanischen Historiker mit der Politik vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich fragen, so läßt sich eine Verarbeitung daran festmachen, daß nach 1945 jede starke Staatsorientierung als Risiko gesehen wurde. Als Gerhard Ritter z.B. den Besuch des ersten Internationalen Historikerkongresses 1950 in Paris vorbereitete, weigerte er sich, Gelder des Auswärtigen Amtes anzunehmen, weil er nicht diese Staatsanbindung haben wollte. Da merkte man deutlich das Argument, daß man sich nicht in die Nähe des Staates begeben dürfe, daß man lieber ein armer Verband sein wolle und folglich wenig unternehmen könne, mit vielleicht nur ein paar Groschen auf dem Konto, daß man lieber in einem ganz billigen Pariser Hotel wohnen wolle, als Staatsgelder dafür in Anspruch zu nehmen. Das ist die eine Haltung.

Die andere Haltung ist die eines hochtragenden unpolitischen Verhaltens. Politik sei etwas Schlechtes, davon müsse man weg. Man dürfe sich bloß nicht in die Fänge der Politik begeben. Und ein Großteil der Historiker hat sich auf eine solche Flucht begeben. Kein Wunder, wenn diese sich wieder an Ranke und Burckhardt orientierten. Ranke mit dem Label des unpolitischen Historikers, der nur zeigen wollte, "wie es eigentlich gewesen" ist, und Burckhardt als der große Kritiker der Macht. Beide zusammen ergaben das theoretische Fundament, auf dem damals vermeintlich "staatsfern" gearbeitet worden ist. Das zeigt auch die Unmenge von Seminaren über Ranke und Burckhardt. Das war eine Flucht in das Unpolitische.

Für mich zeigen das auch die Dissertationen jener, die ab 1946 in die Landesgeschichte ausweichen, um die Neuere und die Zeitgeschichte zu fliehen. Das kommt der Frühen Neuzeit übrigens sehr zugute. Die wird damals als Fluchtraum genutzt, an der Menge landeshistorischer Dissertationen der 50er und 60er Jahre ist das ganz klar zu beobachten. Man hat Angst vor der unmittelbaren Zeitgeschichte. Erst mit der Genese der Zeitgeschichte als einer eigenständigen Disziplin seit den späten 50er Jahren ändert sich das, was dann auch von einigen Leuten ganz bewußt vorangetrieben wurde, etwa in Berlin von Hans Herzfeld.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Ob der Begriff "Emotionen" der richtige ist, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls gibt es ein erkennbares hohes Interesse und zuweilen auch eine gewisse Verbissenheit. Das ist schwer zu erklären. Vielleicht erkannte man aufgrund zahlreicher neuer Einsichten, daß manche Fragen in diesem Bereich neu und gründlicher gestellt werden müssen. Das ist eigentlich für die Forschung etwas ganz Natürliches, ich halte das zumindest für etwas ganz Normales.

Es kommt hinzu, daß es sich hier zugleich um eine Art von Emanzipationsbewegung einer jüngeren Generation von Historikern von ihrer Lehrergeneration handelt. Das konnte man schon auf dem Historikertag 1984 beobachten, wo es um die Alltagsgeschichte ging und wo die "großen Meister der Sozialgeschichte" mit dem Hinweis auf eine neue Art der Alltags- und Mentalitätsgeschichte kritisch hinterfragt wurden. Da deutete sich schon ein gewisser generationeller Bruch an, der zwischen der ersten Generation der Sozialhistoriker und der zweiten oder gar dritten Generation verlief.

Dies ist in gleicher Weise in der Diskussion um die NS-Belastungen der ersten Lehrergeneration zu bemerken, deren Schüler jetzt gerade emeritiert werden. Dies mag auch ein bißchen die Schärfe erklären, die hier in die Diskussion mit hineingekommen ist. Als Historiker sollten wir auch diese Fragen professionell angehen insofern, daß wir nach den spezifischen Bedingungen dieser Prozesse fragen und wir sollten es nicht immer sofort auf die persönliche Ebene schieben. Ich halte das für eine unangemessene Vorgehensweise, obwohl es einen gewissen Unterhaltungswert garantiert und natürlich auch ein öffentliches Interesse generiert. Es ist klar, daß die Medien immer dann einsteigen, wenn Personen in ihrer Emotionalität getroffen sind, und weniger, wenn intellektuelle Probleme abstrakt diskutiert werden. Wir Historiker müssen auch uns selbst professionell beobachten können.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Nein. Jedenfalls keinen Streit, der vergleichbar wäre mit anderen großen Debatten, etwa die um die großen Methodenfragen. Es ist eine partielle Debatte, allerdings nicht unwichtig für unser Selbstverständnis. Sie ist vor allem dann nicht unwichtig, wenn wir versuchen, einen Gewinn aus dem Thema zu erzielen. Die Botschaft, die ich hier sehe, ist ja nicht, daß wir die Herren Conze oder Schieder "entlarven" wollten, das hat mich eigentlich nie besonders interessiert. Für mich liegt das Problem eher darin, wie wir selber mit unserer Lebenswelt umgehen, die ja - wie oben erläutert - unser Erkenntnisstreben definiert. Wir Historiker unter den glänzenden Bedingungen von 1999, die wir uns zuweilen am "Ende der Geschichte" angekommen wähnen, gewappnet mit den Grundsätzen von 1789 und allem anderen wohltätigen Schutzmaterial, wir mögen uns durch die hier diskutierten Probleme nicht mehr belästigt fühlen, weil wir die Meinungsfreiheit genießen und all die anderen Vorteile unserer wissenschaftlichen Existenz. Letztlich ist natürlich weiterhin die Frage gestellt, in welchem Verhältnis wir zur Gesellschaft stehen, die uns umgibt, zu den Vorgaben, die sie uns gibt, zu dem Geld, das sie uns gibt. Nehmen Sie z.B. die neuere Debatte um die mit hohen Drittmittelzuwendungen betriebene Unternehmensgeschichte. Das ist wieder ein spannender Punkt, an dem gefragt werden muß, in welche Abhängigkeiten wir uns begeben können oder sollen. Nicht, daß ich dies für illegitim erklären möchte, aber wir müssen immer darüber reflektieren, in welche Abhängigkeiten wir uns begeben.

Es gibt in der Publizistik immer wieder gute Ratschläge in der Art "Hinaus aus dem Elfenbeinturm", hinein in das tosende Leben der Gesellschaft. Nur, wenn die Historiker das dann auch tun und sich zu eng an die Interessen der Gesellschaft anbinden, dann tritt der gegenteilige Effekt ein. Insofern ist die Frage spannend, wo der schmale Grad zwischen erwünschter Einmischung in Politik und Distanz zur Politik verläuft, den Historiker gehen müssen. Das ist die zentrale Frage, die ich aus der Diskussion herausschälen möchte und von der ich auch für mich und mein Fach profitieren möchte. Von daher erklärt sich meine Aussage von vorhin, als ich für eine bewußte Distanz der Geschichtswissenschaft zum unmittelbaren Engagement plädiert habe.

Das ist letztlich auch der Grund, warum ich die Aufgabe der "Entlarvung" für eher unergiebig halte oder die Frage, warum ein Historiker in den 60er Jahren seinen damaligen Lehrer nicht zur Verantwortung gezogen hat; das ist eine unangemessene Art des Fragens.

Zum Schluß möchten wir noch einen Komplex anreißen, der nur mittelbar in diesen Themenbereich gehört. Sie waren immer bereit, auch wissenschaftspolitische Funktionen und Verantwortung wie im Historikerverband oder jetzt im Wissenschaftsrat zu übernehmen. Wenn Sie die zuvor diskutierte Situation nach 1945 mit der Situation in Ostdeutschland nach 1990 vergleichen, meinen Sie - auch aufgrund eigener Erfahrungen -, daß es Kriterien gibt, die allgemein gültig sein könnten? Gibt es Kriterien z.B. im Hinblick auf handwerklich-methodische Aspekte, die hinreichend zeitindifferent sind, so daß man sie einer Evaluation, wie sie nach 1945 und auch wieder nach 1990 in Ostdeutschland stattgefunden hat, als Maßstab zugrunde legen könnte?

Die Frage ist sehr schwer zu beantworten. Ich will es von einer anderen Richtung her versuchen. Für mich war ein Argument, etwa die Debatte um Karl-Dietrich Erdmann in der GWU zu führen, daß wir uns nach 1989/90 ein Urteil über die Historiker der DDR zugemutet haben. Einigen gaben wir die Möglichkeit weiterzuarbeiten, anderen verweigerten wir diese Möglichkeit. Vor diesem Hintergrund durften wir die Nachrichten über die Verstrickungen unserer alten Lehrer nicht einfach unter den Tisch kehren, ich sah eine Verpflichtung, dies bekannt zu machen und die Diskussion zu fördern.

Was den jeweiligen Umgang mit den Systemen und den Vertretern der Systeme angeht, so muß man davon ausgehen, daß die Situationen nach 1945 und nach 1990 schwer vergleichbar sind. Bei der Neukonstruktion einer Fakultät in den neuen Bundesländern mußte man davon ausgehen, daß nur ein deutlicher Neubeginn eine Grundlage für das Überleben einer Fakultät sein konnte, andernfalls hätte diese Fakultät nicht im Wettbewerb bestehen können.

Aber es ist schwierig, die Situationen über einen Kamm zu scheren, das wird sich nicht machen lassen, dafür waren die Bedingungen zu verschieden: Das Dritte Reich dauerte ein paar Jahre, die DDR überlebte 40 Jahre. Aber sicher gibt es Parallelen zwischen diesen beiden Fällen, zumindest da, wo es um unsere intellektuelle Ehrlichkeit geht.

Es schien aber doch so, daß bei den "DDR-Historikern" nicht nur die Bewertung des wissenschaftlichen Werks eine Rolle spielte, sondern auch ihre politische Einstellung?

Ja, aber man kann ja mit politischen Vorgaben verschieden umgehen. So kann man in der Analyse von Entscheidungsvorgängen in DDR-Fakultäten oder -instituten sehr wohl unterscheiden, wie man mit politischen Vorgaben umgegangen ist und wie man sie auf Fälle einzelner Mitarbeiter und Kollegen angewendet hat. Da gibt es die "Parteibonzen", die alles immer ganz genau wissen, und es gibt die Bedächtigen; es gibt jene, die reflektieren, und jene, die sagen, da müsse man ein Exempel statuieren. Das kann man sehr gut anhand der Protokolle von Disziplinarausschüssen herausfinden. Danach kann man sich schon ein Urteil erlauben, wie Menschen mit anderen Menschen umgegangen sind. Das ist dann, so glaube ich, das entscheidende Kriterium: Man kann nicht von jedem fordern, zum Helden des Widerstands zu werden, aber man kann zumindest fordern, bestimmte moralische Grundsätze und Grundrechte des Anderen zu achten, sie auch in Zwangssituationen zu achten. Dies wäre auch die überzeitliche Botschaft im Sinne Ihrer vorigen Frage. Dieses Verhalten kann man m.E. sehr gut rekonstruieren, und darum plädiere ich auch für eine sehr genaue Analyse des jeweiligen Verhaltens und bin nicht der Meinung, daß man aus formaler Parteimitgliedschaft und anderen formalem Kategorien irgend etwas gewinnen kann.

Wenn wir schon bei den 'Exkursen' angelangt sind, so ist da noch ein Punkt, den ich ansprechen wollte. Meine vorherigen Bemerkungen hängen auch damit zusammen, warum ich mich jetzt noch einmal in dieser Sache so engagiert habe. Die Sektion auf dem Historikertag 1998 in Frankfurt am Main habe ich ja mit Otto-Gerhard Oexle zusammen vorbereitet und dem Verband der Historiker Deutschlands diese Veranstaltung mit dem Argument empfohlen, daß wir auf die neue Diskussion reagieren müßten, indem wir vor der gesamten Zunft dieses Thema besprechen sollten. Ich bin immer ein Freund dieser großen Publikumsveranstaltungen auf Historikertagen gewesen, weil wir über sie unser Selbstverständnis als Historiker definieren, gleichgültig ob wir dem jeweiligen Diskussionsgang zustimmen oder ihn ablehnen. Solche Diskussionen lassen uns gemeinsame Kriterien gewinnen, was dann manche Vorteile für das tägliche Geschäft bringt.

Ich hatte schon einmal in Hannover eine großen Publikumsdiskussion über die Alltagsgeschichte geleitet. Darum gab es auch hier die Überlegung, dieses Problem nicht zu einem Thema von Spezialzeitschriften, von kleinen Konferenzzirkeln oder dem Feuilleton der Zeitungen zu machen, sondern es in die historische Zunft direkt hineinzutragen. Dafür haben wir beim Historikerverband dann auch sofort Zustimmung gefunden, und der "Erfolg" hat uns recht gegeben. Dabei ist ja der zahlenmäßige Zuspruch zu einer solchen Sektion gar nicht das entscheidende Kriterium. Aber es war inhaltlich ein spannender Moment, gleichsam das gesamte Fach mit seinen besten Köpfen reflektieren und diskutieren zu sehen. Das war das Ziel, das uns mit diesem Projekt vorschwebte.

Sehen Sie in der Konjunktur dieses Themas auch eine Gefahr? Es werden jetzt zahlreiche Biographien entstehen, die Untersuchungen steigen im Moment überproportional zur Zahl der Studien der letzten zwei Jahrzehnte. Glauben Sie, daß diese Konjunktur auch dazu führt, daß andere Bereiche darüber vernachlässigt werden?

Nein, das glaube ich nicht. Wir haben in der Geschichtswissenschaft ja immer konjunkturelle Wellenbewegungen von Themen, die eine Zeitlang en vogue sind. Wenn wir uns zudem daranmachen würden, eine Reihe guter Biographien zu schreiben, wie wir sie etwa mit den Biographien von Werner Best oder Franz Alfred Six schon haben, dann hätten wir gute und für methodische Fragen zukunftsweisende Ansätze. Ich würde mir wünschen, daß wir Biographien bekämen über Mitläufer und Mitmacher, über Distanzierte, in ihrer Haltung wechselnde Personen, an denen deutlich wird, daß es nicht immer ein klares Schwarz-Weiß gibt, daß es vielmehr ein Nebeneinander von Ablehnung und Zustimmung gibt. Diese Aspekte müssen noch deutlicher werden, und hier ist auch unsere Spezialkompetenz als Historiker gefragt, die Dinge differenziert anzugehen, unsere Grundhaltung erfordert es, sich gegen undifferenzierte Verurteilungen zu wehren.

Zum andern müßte man versuchen, die Netzwerke der NS-Geisteswissenschaft aufzuarbeiten, so wie sie jetzt z.B. durch das Buch von Frank-Rutger Hausmann über den "Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften" in einem wichtigen Teilbereich beleuchtet worden sind. Ich hoffe immer noch, daß es mir gelingt, ein Handbuch dieser NS-Netzwerke zusammenzustellen, also von Personen, Institutionen und Zeitschriften, so daß man genau feststellen kann, wie etwa die Siedlungskunde mit der Niederlandeforschung oder wie die Germanistik mit der Altertumskunde zusammenhängt. Wer kennt all die obskuren Zeitschriften und Arbeitsgruppen, die hier arbeiteten? Das ist bislang noch nicht so deutlich herausgearbeitet worden, weil wir bisher immer einen sehr fachspezifischen Blick gehabt haben. Wir beachten neben den Historikern bestenfalls noch die Volkskundler und die Rechtshistoriker, aber die Romanisten, die Germanisten, die Kunsthistoriker oder die Ur- und Frühhistoriker kennen wir schon sehr viel weniger. Dies muß zusammengeführt werden. Das wäre ein Projekt, das ich sehr gerne auf den Weg bringen würde.

Herr Schulze, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Berlin-Dahlem
Datum: 21.07.1999,
Interviewer: Hacke, Steinbach-Reimann


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