Interview mit Wolfgang Schieder
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Wolfgang Schieder, geboren 1935 in Königsberg, studierte seit 1954 Geschichte und Germanistik in Köln, Freiburg, Münster und Heidelberg. Er promovierte 1962 bei Werner Conze, an dessen Lehrstuhl er seit 1960 eine Assistentenstelle inne hatte, über das Thema "Wilhelm Weitling und die deutsche politische Handwerkerlyrik im Vormärz". 1965 ging er für zweieinhalb Jahre als Stipendiat an das Deutsche Historische Institut in Rom, bevor er 1970 seine erste Professur an der Universität Trier für "Geschichte der Neuzeit und der Neuesten Zeit" erhielt.

Seit 1991 lehrt Wolfgang Schieder am Historischen Seminar in Köln.

Schieder: "Wir konnten keine Kommentare erzwingen, denn schließlich waren wir nicht das Hohe Gericht."

Teil 1: Biographische Fragen

Herr Schieder, Sie sind 1935 in Königsberg geboren. Was waren die prägenden Eindrücke und Ereignisse in Ihrer Kindheit und Jugend?

Was wollen Sie hören? Es läge ja nahe zu sagen, daß die Flucht aus Ostpreußen traumatisch gewesen wäre, aber sie fand relativ zivilisiert statt, weil meine Eltern uns schon Anfang 1944 nach Westpreußen aufs Land verfrachteten, wo meine Großmutter einen Bauernhof hatte. Im Herbst 1944 ging es mit dem Zug über Berlin in endlosen Fahrten nach Bayern. Aber das hat man als Kind nicht als dramatisch empfunden, sondern als etwas ungeheuer Spannendes - so habe ich es jedenfalls in Erinnerung. Die Traumatisierung, unter der eine ganze Generation durch die Flucht gelitten hat, hatte ich hinterher nicht. Das liegt aber auch daran, daß ich ständig unterwegs gewesen bin und an vielen unterschiedlichen Orten gewohnt habe, so daß ich mich nie in dem Sinne als Flüchtling fühlte. In Bayern zunächst zwar schon, weil ich nicht bayerisch sprach und die "falsche" Konfession hatte in dem Dorf, in dem wir zunächst landeten. Aber das waren Kindheitserlebnisse, die ich nicht als prägend empfand. Auf dem Land aufzuwachsen, war nach dem Krieg mit all den Widerwärtigkeiten des Lebens, die es damals gab, eher angenehm. Es hat da selbstverständlich ganz andere Erfahrungen gegeben, aber die meine war eben so.

Ich bin erst 1950 nach Köln gekommen, das damals noch ziemlich zerstört war, und habe dort Abitur gemacht. Wahrscheinlich war der Wechsel quer durch Deutschland schon das prägende Erlebnis. Dadurch, daß ich in Köln Abitur gemacht habe, habe ich mich früh im wesentlichen als Rheinländer gefühlt, obwohl meine Familie väterlicherseits aus Bayern und mütterlicherseits aus Ostpreußen stammte. Insofern habe ich keine spezifische regionale oder lokale Bindung, was bei vielen eine große Rolle spielt, gerade bei Historikern. Der Weg von Königsberg nach Köln war weit, und vor allem konnte man bis 1990 dort nicht mehr hin. So habe ich eine Kindheitserinnerung an Königsberg konserviert, die längst nicht mehr der Realität entsprach.

War Königsberg in den Erzählungen Ihrer Eltern stark präsent?

Ja, sicher. Es war ja das Schicksal der Deutschen im Osten, daß Familien auseinandergerissen und über ganz Deutschland verteilt wurden. Wie heute vielleicht nicht mehr, wuchs man nach dem Krieg in einem speziellen regionalen Zusammenhang auf - in Bayern, im Rheinland oder in Hessen. Das war für die Flüchtlingsgeneration nicht der Fall. Die Familie war normalerweise über die ganze Bundesrepublik, die DDR oder auch das Ausland zerstreut - je nachdem, wo jemand gelandet war. Ich habe das immer als normale Erfahrung angesehen und darunter nicht gelitten. Bei vielen ist das ganz anders gewesen.

 Und an welchem Punkt hat sich herauskristallisiert, daß Sie Geschichte studieren wollen?

Das war ein langer Prozeß. Ich habe erst gar nicht Geschichte studiert, sondern zwei Semester Geologie, in der vielleicht etwas naiven Annahme, daß das auch etwas mit Geschichte zu tun hätte - hat es ja auch, aber mit Naturgeschichte. Es war mir dann einerseits zu viel Chemie und andererseits intellektuell zu wenig herausfordernd, weil es eine sehr handfeste Wissenschaft ist, in der es aufs Zählen und aufs Finden der Natur ankommt. Ich habe das gerne gemacht, es aber letztlich aufgegeben. In meiner Generation von deutschen Historikern sind ja viele Professorensöhne - nicht nur Hans und Wolfgang Mommsen, sondern auch Hans Lemberg, Gottfried Schramm, Reinhard Koselleck u.a. Sicher hat das auch für mich eine Rolle bei der Entscheidung gespielt, Geschichte zu studieren. Man hat in der Kindheit oder auch als junger Student durch die Familiendiskussion zu Hause erfahren, daß die Eltern etwas mit dem Dritten Reich zu tun hatten.

Welches Bild hatten Sie da von Ihrem Vater? Was hat er erzählt?

Das ist schwer zu beurteilen - zunächst einmal, weil ich anfing, meinen Vater etwas zu fragen, worüber er eigentlich nie geredet hat. Es hat sich daraus ein zunehmender Konflikt ergeben in dem Moment, als ich auch noch Geschichte studierte. Von außen sieht es vielleicht so aus, als ob die Väter wollen, daß die Söhne Geschichte studieren. Bei mir war genau das Gegenteil der Fall. Heute wird vermutet, daß wir nie gefragt hätten, was in meinem Fall überhaupt nicht stimmt. Ich habe immer gefragt, aber nie Antworten bekommen. Und es ist vielleicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit für diese Generation - nicht nur von Historikern, sondern generell in der deutschen Gesellschaft - auch schwer gewesen, sich ungeschminkt Rechenschaft über das Dritte Reich abzulegen. Es wurde von so vielem anderen überlagert, vor allem vom Kalten Krieg, von der Konfrontation mit der Sowjetunion und dem Kommunismus, vom Wiederaufbau, d.h. der Erlangung materiellen Wohlstands. Das hat uns alle geprägt und war zunächst das, was im Vordergrund stand. Es war generell auch in der Politik so, daß eine Absolution erteilt wurde für die moralisch "Gefallenen" im Dritten Reich, die dann in die Politik einbezogen wurden, so daß sich das Gespräch, das man individuell zu führen versuchte, nicht mit der Öffentlichkeit legitimieren ließ, weil es in der Öffentlichkeit zunächst auch wenig Diskussion gab. Ich erinnere mich deutlich, daß die erste breite öffentliche Debatte eigentlich erst mit dem Auschwitz-Prozeß Anfang der 60er Jahre stattfand. Das war eindeutig, weil da der Journalismus zum ersten Mal voll dabei war. Ich erinnere mich, daß in der FAZ ein junger Journalist, Naumann, der leider früh gestorben ist, Tag für Tag ausführlich über den Auschwitz-Prozeß berichten durfte. Sonst unterhielt man sich übers Feuilleton in der FAZ - heute auch noch. Damals änderte sich das plötzlich: "Haben Sie schon gelesen?" oder "Hast Du schon gelesen?", und das war nicht nur bei Historikern so. Jeder, den man kannte, der halbwegs nachdachte, fing an, darüber zu diskutieren. Aber das war spät, erst in den 60er Jahren. Das war auch die Zeit der "SPIEGEL-Affäre", 1962, im Vorfeld von 1968. In den 60er Jahren ging eigentlich alles erst los.

In welcher Phase Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn war das?

Ich habe 1954 angefangen zu studieren und 1958 Staatsexamen gemacht. Seit 1960 war ich Assistent in Heidelberg und habe 1962 promoviert. Es war also der Übergang vom Studium zum wissenschaftlichen Beruf.

Warum sind Sie zu Conze nach Heidelberg gegangen?

Sie müssen folgendes sehen: Es gab 15 Universitäten in Westdeutschland, die Auswahl war nicht groß. An jeder Universität gab es einen oder zwei Neuzeithistoriker, d.h. Professoren. Wenn Sie das zusammenzählen, waren es nur wenige, die überhaupt in Frage kamen.

Ich hatte gewissermaßen schon einen Fehlversuch gemacht. Ich war zwei Semester in Köln, dann ging ich zwei Semester nach Freiburg, in der Annahme, ich könnte dort bei Gerhard Ritter studieren. Ritter wurde jedoch gerade emeritiert, und das hatte ich nicht mitbekommen. Schließlich war ich darüber sogar froh, daß ich nicht bei ihm studieren mußte, weil ich mit seiner wissenschaftlichen Methode nicht besonders zurechtkam. Ich stand also vor der Frage, wo ich jetzt hingehen sollte. Es war damals üblich, daß man die Universitäten häufiger wechselte. Ich habe immerhin an vier Universitäten studiert, und ich glaube, das war nichts Außergewöhnliches. Es sind ja heute vor allem finanzielle Gründe, daß man nicht mehr wechselt. Ich habe mir die Vorlesungsverzeichnisse angesehen und überlegt, wo jemand ist, der Zeitgeschichte macht. Zeitgeschichte hieß damals, daß jemand mindestens etwas zur Weimarer Republik machte, ans Dritte Reich wagte man kaum zu denken. Ich schaute auch, wer interessante Themen aufnahm, nicht bloß die übliche politische Geschichte anbot, die in allen Vorlesungsverzeichnissen stand. Da kamen für mich Werner Conze und Karl Dietrich Erdmann in Frage, die ich dann heraussuchte. Nebenbei habe ich noch an Fritz Fischer gedacht, der damals noch nicht so bekannt war. Aber der machte damals sehr konventionelle Sachen - zumindest nach dem, was in den Vorlesungsverzeichnissen stand. Erdmann lehrte auch Zeitgeschichte, aber wie mir schien, rein politische Geschichte. Conze hingegen beschäftigte sich mit Sozialgeschichte und Sozialismus, und das interessierte mich. Das war mehr ein persönliches Interesse an den Themen, die er anbot. Es waren auch schon seine ersten Veröffentlichungen erschienen: der berühmte Aufsatz über "Pöbel und Proletariat", einer der Grundaufsätze der neuen sozialgeschichtlichen Forschung. Den habe ich mir angesehen, und das schien mir interessanter zu sein als anderswo. Ich ging dann nach Münster, wo Conze damals war, und wechselte mit ihm, als er nach Heidelberg ging.

 Und inwiefern kamen von Conze Anregungen bezüglich Ihres Doktorthemas?

Es war typisch für Conze, daß er Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts aufgriff und daß sich aus der Auseinandersetzung mit der DDR, mit der Konfrontation im Kalten Krieg in den 50er Jahren, ergab, daß Conze als sehr Konservativer, der er war, Forschungen zur Sozialgeschichte der Arbeiter anfing - fast als einziger in Deutschland. Herzfeld in Berlin hat auch noch etwas dazu gemacht, aber sonst niemand. Das war nicht üblich und vor allem nicht an deutschen Universitäten. Überhaupt waren sozialgeschichtliche Themen nicht üblich, und das war etwas, wie mir damals schien, völlig Neues und hat mich sofort herausgefordert. Conze sagte, ich solle etwas zur frühen Arbeiterbewegung machen, und da bin ich auf die Suche gegangen. Er gab das Thema nie vor, sondern er ließ einem - was für ihn auch sonst charakteristisch war - Freiraum zu entscheiden, was man machte. So bin ich auf das Thema gekommen, und ich war nicht der einzige, denn eine ganze Reihe von Leuten haben bei Conze über Themen der Arbeiterbewegung gearbeitet. Er hat sehr früh diesen Forschungsschwerpunkt gehabt. Conze hat sich auch später nicht nur mit der Arbeiterbewegung beschäftigt, sondern Studien zur Arbeiterklasse oder Arbeiterschichten angeregt - drei bis vier bahnbrechende Studien über die Stadt Eßlingen und die Arbeiterschaft. Von den Doktorarbeiten, die bei Conze in Heidelberg entstanden sind, waren bestimmt ein Dutzend zur Geschichte der Arbeiter. Für die DDR-Forschung war er ein Hauptfeind, und wir auch, weil wir mit nicht-marxistischen Methoden arbeiteten und deshalb in den Augen der DDR-Historiker als bürgerliche "Klassenwissenschaft" galten.

Wenn man jetzt darüber diskutiert, was wir mit unseren "wissenschaftlichen Vätern" gemacht oder nicht gemacht haben, wird dabei oft vergessen, daß es nicht besonders karrierefördernd war, erstens Sozialgeschichte zu betreiben und sich zweitens noch mit Sozialismus zu befassen, denn wir gerieten in den konservativen 50er und beginnenden 60er Jahren selber unter Sozialismus-Verdacht - nur durch die Beschäftigung, was natürlich eine vollkommen sinnlose Verwechslung von Gegenstand und Methode war. In gewisser Weise hat es uns dann genutzt, daß die DDR-Historiker aus vollen Rohren auf uns geschossen haben, weil nach außen der Eindruck entstand, daß wir ja so schlimm nicht sein könnten, wenn sie uns "drüben" immer kritisierten. Ich habe das einmal reflektiert, das muß schon Anfang der 70er Jahre gewesen sein, als ich Hartmut Zwahr getroffen habe, der auch zu unserer Generation gehörte und in unser aller Augen einer der ganz wenigen DDR-Historiker war, der Arbeitergeschichte machte und solide sozialgeschichtliche Forschung betrieb. Er ist auch jetzt noch Professor in Leipzig, bezeichnenderweise einer der wenigen, der ohne weiteres als Historiker übrig geblieben ist und mit dem ich inzwischen gut befreundet bin. Wir trafen uns damals auf einer Tagung in Bremen. Er hatte sein fixiertes Feindbild, und ich hatte meins. Wir haben die ganze Nacht diskutiert, bis wir dann plötzlich begriffen, daß wir aufeinander angewiesen waren. Er fing an, in der DDR über etwas zu forschen, worüber er gar nicht forschen durfte. Er fragte nämlich danach: "Was war eigentlich das Proletariat?" Das war dort im Kommunistischen Manifest schon theoretisch vorgegeben, aber was war es wirklich? Das machten wir auch im Westen. Wenn wir ihn lobten, hat ihn das im gewissen Sinne gedeckt, weil sie dann "drüben" merkten, daß sie ihn nicht einfach aus dem Verkehr ziehen konnten, ohne sich ansonsten unglaubwürdig zu machen.

Ich habe Staatsexamen gemacht, im Nebenfach Germanistik, was ich nicht besonders intensiv betrieben habe, und konnte jederzeit, wenn man an der Universität nichts werden konnte, sagen, dann gehe ich eben in den Schul- oder Archivdienst. Das war in den 50er und 60er Jahren noch kein Problem, weil man dort immer eine Stelle bekam, und das haben auch viele gemacht. Ich war auch nicht so entschlossen, an der Uni zu bleiben. Ich hatte mich schon für ein Praktikum im Archiv interessiert, wo ich eigentlich hingehen wollte. Ich möchte das nur ergänzen, damit nicht der Eindruck entsteht, als hätten wir große Probleme gehabt, weil wir in Heidelberg Sozialgeschichte machten. Aber es war ungewöhnlich, und es war auf den Historikertagen nicht präsent. Wenn wir als junge Assistenten oder auch schon als Studenten dorthin fuhren, wurden wir damals eher noch als Leute angesehen, die nicht die richtige Wissenschaft betreiben. Das hat sich alles geändert, heute ist die Sozialgeschichte anerkannt, das ist klar.

 Wie würden Sie Conzes Stil, den Gesprächsstil in Seminaren oder Kolloquien, und Ihr Verhältnis zu Conze beschreiben?

Conze hatte einen außerordentlich offenen wissenschaftlichen Stil im Seminar und auch in der Vorlesung. Er war zwar Ordinarius, was damals noch mehr bedeutete als heute. Aber er hat nie fertige Vorlesungen abgelesen, sondern er brachte Bücher mit und reagierte auf Dinge, auf die man ihn zwischendurch ansprach. Er war in der Vorlesung immer frei und im Seminar letztlich auch. Er ließ uns Assistenten völligen Freiraum - ich war mit Hans Mommsen zusammen Assistent. Conze ist einmal krank geworden, so daß wir auch seine Hauptseminare, an denen immer einer von uns teilnehmen mußte, weitgehend inhaltlich gestalten konnten. Das ließ er zu, hörte es sich eine Weile an und arbeitete dann selbst, um uns zu widerlegen. Es war ein offener Stil, in den auch die Studenten einbezogen wurden.

Was waren gängige Themen in den Seminaren?

Er behandelte schon die Themen zum Ende der Weimarer Republik - Brüning, war eines seiner wissenschaftlichen Themen - und früh auch Themen zur Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts oder zur Arbeiterbewegung. Ein Thema lautete z.B. nicht "Die Revolution von 1848", sondern es ging vielmehr um die Arbeiterschicht und Arbeiterbewegung von 1848-1850, es war immer sehr viel spezifischer. Er hat auch sehr schnell neue Diskussionen aufgenommen. Als die Fischer-Debatte losging, hat er sofort ein Seminar über die Entstehung des Ersten Weltkrieges angeboten. Eigentlich war er immer offen und fragte beispielsweise: "Was meinen Sie, was wir jetzt machen sollen?" Das heißt nicht, daß er diesem Stil immer gewachsen und in der Lage war, das auch durchzuhalten, weil er immer sehr viel Neues machte. Ich kenne das auch aus meiner eigenen Erfahrung. Man macht gerne mal etwas Neues, nimmt das auf, was vorgeschlagen wird, und dann hat man sehr viel damit zu tun, weil man sich damit bisher wissenschaftlich nicht so intensiv beschäftigt hat. Das hat mir aber eigentlich immer sehr zugesagt, und das ging auch den anderen so, die bei Conze waren, wenn Sie Lutz Niethammer oder Hans Mommsen nehmen, auch wenn Hans Mommsen mehr von außen dazukam.

Wie lange waren Sie Assistent bei Conze?

Von 1960 an - ich habe dann erst nach zwei Jahren promoviert -, und dann war ich noch einmal bis 1965 bei ihm. Anschließend bin ich für zweieinhalb Jahre nach Rom gegangen.

Und da entstanden auch Ihre Arbeiten über Faschismus und vergleichende Forschungen?

Ja, das war die Ursache. Das war eher ein Zufall. Ich kann nicht sagen, daß ich danach konzentriert gesucht hätte. Ich suchte etwas, womit ich mich weiter qualifizieren konnte und hörte eher per Zufall - durch Conze, glaube ich -, daß das Deutsche Historische Institut in Rom erstmals ein Stipendium für einen Zeithistoriker hätte, für das sich niemand interessiert und gemeldet hätte. Da habe ich gesagt: "Das mache ich." Ich konnte damals kein Wort Italienisch. Ein halbes Jahr später bin ich dorthin gegangen. Conze fand das gut und sagte, das sei in Ordnung, und ich solle ruhig dort hingehen. Ich habe mich beurlauben lassen und diese Beurlaubung unter großen technischen Problemen immer wieder verlängert. Es war damals nicht ganz einfach in Rom und ist es auch heute noch nicht. Für mich war es enorm wichtig, daß ich einmal aus dem deutschen Universitätszusammenhang herauskam, und ich habe unter denjenigen, die bei mir im Laufe der Zeit Assistent waren oder sich habilitiert haben, keinen gehabt, der nicht mindestens einmal ein Jahr im Ausland war. Ich kann das nicht verlangen, aber ich habe das aufgrund meiner eigenen biographischen Erfahrung eigentlich auch immer allen irgendwie suggeriert. Ich finde das wichtig, weil man als Historiker dringend einen anderen politischen Diskurs und kulturellen Zusammenhang kennenlernen sollte. Das kann ich Ihnen auch nur raten, wenn Sie es nicht schon gemacht haben. Heute ist es auch einfacher als früher, irgendwo hinzukommen. Es gab damals nicht so viele Möglichkeiten. Viele andere, wie Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka oder Wolfgang Mommsen, sind nach Amerika gegangen, da gab es auch Stipendien. In Italien, in Frankreich war das dagegen ganz schwierig, auch in England gab es damals noch wenig Möglichkeiten. Es war nicht so leicht, in den 60er Jahren schon länger herauszukommen.

Inwiefern spielte es in Bezug auf Ihr Verhältnis zu Conze eine Rolle, daß Ihr Vater Theodor Schieder war? Die beiden kannten sich ja.

Die beiden waren befreundet - natürlich. Das war aber bei meiner Suche - damals war ich ja gar nicht in Köln - aus dem einfachen Grunde nicht ausschlaggebend, daß ich bis dahin Conze nicht persönlich kannte.

Hat Ihr Vater in Gesprächen hinsichtlich Ihres Studiums stark Einfluß genommen?

Nein, er hat sich eher zuviel zurückgehalten, weil er zumindest bis zu meinem Examen mißbilligte, daß ich Geschichte studierte, was auch damit zusammenhing, daß ich dadurch immer mehr gefragt habe. Je mehr ich in der Geschichte professionalisiert wurde, desto mehr konnte ich auch begründete Fragen stellen, was mein Vater nicht akzeptiert hat. Er hat mich eigentlich überhaupt nicht beraten. Sonst wäre es mir ja nicht passiert, daß ich als Sohn eines Historikers nach Freiburg ging, um dort bei Gerhard Ritter zu studieren, und dort feststellte, daß der emeritiert wird. Das hätte mein Vater eigentlich wissen müssen, nehme ich jedenfalls an. Da sehen Sie, daß das Einwirken meines Vaters relativ gering war. Er hat eher abgewehrt und dazu nicht weiter Stellung genommen, auch nicht zu meiner Wahl, ob ich nun zu Conze, Fritz Fischer oder Karl Dietrich Erdmann ging. Das hätte auch eine geringe Rolle gespielt, da er zu Erdmann auch ein gutes Verhältnis hatte. Fischer kannte er weniger, aber auch. In der Historikerzunft kannten sich ja damals alle, weil es nicht so viele waren. Das war nicht so wie heute.

Sie haben angesprochen, daß Sie Ihrem Vater Fragen zu dessen Vergangenheit gestellt haben. Haben Sie auch Conze zu seiner Zeit im Nationalsozialismus befragt?

Natürlich, es gab auch einen ganz konkreten Anlaß. Wir waren mehrere Assistenten und wurden 1969 vor die Tatsache gestellt, daß Conze als letzter Rektor der alten Universität mit Fakultäten und Ordinarien eine neue Verfassung durchgesetzt hatte - im Zuge der 68er-Zeit natürlich -, die auf der Mitbestimmungs- und Gruppenuniversität beruhte, so daß jetzt Assistenten, Studenten und nichtwissenschaftliche Mitarbeiter auch im Senat und in den Fakultäten repräsentiert waren. Nach dieser neuen Satzung kandidierte er nun wieder und wollte der erste "Reform-Rektor" in Heidelberg werden. Das konnte von Anfang an nicht gutgehen - das haben wir ihm auch gesagt -, weil die Mehrzahl der Professoren jetzt restlos gegen ihn war. Die konservativen Professoren hielten ihn für viel zu konzessionsbereit. Aber bei den Studenten kam er auch nicht an, weil er in der 68er-Bewegung als reaktionär galt. Einige der führenden Studenten, SDS-Leute, waren Geschichtsstudenten, die wir alle gut kannten. Daher wußten wir Assistenten gut Bescheid, und Conze eigentlich auch. In dieser Situation passierte es nun, daß Flugblätter auftauchten, in denen Zitate von Conze enthalten waren, die einen mehr oder weniger eindeutigen antisemitischen Charakter hatten. Das sind alles die Zitate, die Götz Aly jetzt glaubt entdeckt zu haben. Es sind überwiegend Zeitschriftenaufsätze gewesen. Conze hat sich zwischen 1939/40 publizistisch geäußert. Da brauchte man eigentlich nur nachzusehen - was wir nicht gemacht haben, muß ich in diesem Falle einräumen. In diesem Moment haben wir es natürlich gleich getan, d.h. wir haben die Aufsätze, soweit wir sie in Heidelberg fanden, überprüft und haben dann versucht, mit Conze darüber zu reden. Das ist uns aber eigentlich nicht recht gelungen, nur insoweit, daß Conze immer sehr ins Allgemeine abgelenkt hat und über Grundsatzstrukturen von Vernichtungskrieg, NS-Regime oder Wissenschaft gesprochen hat, aber eigentlich nicht über sich selbst. Wie sollten wir das erzwingen? Es gab zwar ein sehr ernsthaftes Gespräch, auch weil da diese aufgeregte Wahlsituation war. Aber zum Schluß sahen wir, daß das zu nichts führe. Wir konnten ihm nur noch abraten, weiter als Rektor zu kandidieren, auch aus diesem Grund - nicht nur, weil er sowieso nicht gewinnen konnte. Aber er kandidierte trotzdem, weil er im preußisch-protestantischen Geist "Hier stehe ich und kann nicht anders!" dachte, und verlor die Wahl haushoch. Es gab auch später noch hin und wieder einmal Gelegenheiten zu ähnlichen Gesprächen. Kurz vor seinem Tod haben Rainer Lepsius und ich in Bad Homburg in der Werner-Reimers-Stiftung mit ihm über den Krieg geredet, die Kriegserfahrung in Rußland und wann er dort etwas über die Judenvernichtung erfahren hatte. Da hat er erstmals darüber berichtet, aber eher - wie soll ich sagen - annalistisch. Er hat eben erzählt, ohne daß er sich selber kommentiert hätte. Wir konnten keine Kommentare erzwingen, denn schließlich waren wir nicht das Hohe Gericht.

Also können Sie nicht sagen, daß z.B. diese militärische Haltung - er war ja von 1939 bis 1945 Soldat oder noch Hauptmann der Reserve - durchschien?

Natürlich schien das durch, das ist klar. Das merkte man immer. Er hatte eine aufrechte Offiziershaltung in seinem ganzen Habitus und auch in seinem sonstigen Verhalten. Jetzt geht es ja darum, ob man solche Gespräche geführt hat und warum man keine Antworten bekam. Ob das die Ursache war, weiß ich nicht. Es könnte sein, aber das haben wir nie so ganz erfahren.

Ein anderer Punkt sind die methodischen Gespräche, die wir geführt haben. Conze hat selbst einmal versucht seine Aufsätze zu erläutern, in denen es um die "Entjudung" von Dörfern, "Marktflecken" oder von polnischen Städten geht. Das kann man, wenn man die politischen Rahmenbedingungen wegläßt, in einem gewissen Sinn als Ansätze sozialgeschichtlicher Volksgruppenanalyse betrachten. Dahinter stand die Auffassung, daß es in den polnischen Städten Elend gab und daß es den Polen und auch den Deutschen schlecht ging, weil die Juden in Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil dort zu viel Macht und zu viele Positionen, z.B. als Ärzte und Rechtsanwälte, besetzt hatten, was auf die Dauer zu einer Destabilisierung der polnischen Volksgruppen führen konnte - so steht das alles in den Aufsätzen, so hat er uns das auch erklärt. Conze zeigte uns einen Aufsatz, der damals nicht gedruckt wurde, weil er zu polophil war - zwar antijüdisch, aber polophil. Das stimmte auch, wenn man das so las. Wenn dort "Entjudung" stand, dann war 1939 darin noch nicht Auschwitz enthalten, obwohl es darauf hinlief, sondern dann war das gewissermaßen eine abstrakte Beschreibung von Zuständen. Daß man deren enorme Implikationen vorher hätte ahnen bzw. wissen müssen, liegt freilich auf der Hand.

Er hat das also ganz sachlich als "Schichtenmodell" gedeutet?

Ja, Conze hat das so dargestellt. So hat er auch gearbeitet. Er ist eigentlich insofern ein Außenseiter in der Historie gewesen, als daß er gar nicht in der Geschichtswissenschaft alleine sozialisiert worden ist, sondern bei einem dieser "deutschen" Soziologen, bei Gunter Ipsen, in Königsberg. Dort hat er sozialwissenschaftliche Methoden und Demographie gelernt und mit dem Rechenschieber gearbeitet, was damals soviel bedeutete wie ein Computer heute. Das machte kein Historiker, mein Vater übrigens auch nie. Er hat im Gegensatz zu Conze diese Methoden nie behandelt und nie benutzt. Conze galt im Dritten Reich bei vielen mehr als Soziologe denn als Historiker, obwohl er das nicht wollte. Er wollte immer Historiker sein, hat aber seine ersten beiden Arbeiten sehr soziologisch geschrieben. Hinterher erklärte er, wie das, was er geschrieben hatte, gemeint war. Er wollte klarmachen, daß Juden, Polen und Deutsche, vielleicht auch Ukrainer und Weißrussen, in einer Gemengelage zusammenlebten, die "ungesund" sei, und daß dies zur Destabilisierung beitrage - man muß dabei selbstverständlich auf jedes Wort achten. Ich erzähle das nicht zu seiner Entlastung, ich will das nur beschreiben.

Ein Thema waren auch die Konflikte der Zwischenkriegszeit, das Trauma des Ersten Weltkriegs und des Versailler Vertrages und daß die Konflikte nie behoben würden, wenn die Völker weiter in dieser Form zusammenlebten. Also müsse man "umvolken". Das Furchtbare an der Geschichte ist, daß das am Ende sogar gestimmt hat: Nachdem die Deutschen die Juden umgebracht und die Polen die Deutschen vertrieben haben, leben jetzt alle schön getrennt. Es klingt zynisch, wenn ich das sage, aber es ist so. Darüber haben wir auch mit Conze diskutiert.

In welchem Rahmen haben Sie das diskutiert?

Eigentlich mehr im kleineren Kreis, wenn man abends beim Bier zusammensaß. Conze diskutierte gern in seinem Zimmer, wenn noch Zeit war, vor oder nach dem Seminar, also zu diesen typischen Gelegenheiten, die der wissenschaftlichen Kommunikation dienen und die es auch heute noch gibt oder jedenfalls geben sollte.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Von den Historikern als Kollektiv kann man sowieso nicht sprechen. Man müßte von vornherein sehen, daß es die unterschiedlichsten Gruppierungen gab und daß sich das keineswegs über einen Leisten spannen ließ. Es war zunächst eine Generationsfrage, daß es ältere etablierte Historiker gab, die im Dritten Reich alle mehr oder weniger ihren Lehrstuhl behielten. Es gab eine prominente Ausnahme: Hermann Oncken in Berlin, der seinen Lehrstuhl verlor, weil er als zu liberal galt. Dann muß man an die Vertreibung der jüdischen und nicht-jüdischen demokratischen Historiker denken, die ihre Lehrstühle verloren haben. Das waren wirklich erschreckend viele. Gerade die vorwiegend jüdischen Schüler von Friedrich Meinecke mußten alle emigrieren. Sie fielen schon einmal heraus. Übrig blieben die Konservativen, und was nachkam, war eine neue jüngere Generation. Je nach fachlichem Schwerpunkt muß man sehen, daß die Mediävisten und Althistoriker dem Zeitgeist nicht ganz so stark geöffnet sein mußten wie die Neuhistoriker. Ob es Vordenker waren? Ich würde eher sagen, es sind "Mitdenker" gewesen. Dieses "Vordenken" ist mir ein viel zu ideengeschichtlicher, altmodischer Ansatz: zu sagen, Nietzsche war der Vordenker von Hitler - das stimmt natürlich irgendwo, aber das kann mich nie überzeugen, weil das komplexe ideengeschichtliche Prozesse sind. Das müßte dann sehr konkret im Hinblick auf - Sie haben gerade das Stichwort genannt - die Politikberatung betrachtet werden. Sie ist in vielen einzelnen Fällen eingefordert worden durch diese Forschungsgemeinschaften, die außerhalb der Universitäten gebildet wurden und die dann verschiedenen Dienststellen - dem "Amt Rosenberg", der SS, Himmler - und unterschiedlichen Ministerien auf Anforderung zugearbeitet haben. Das ist dann nicht mehr Vordenken, sondern hier wird Politikberatung eingefordert, und da ist sicher ein großer Teil der Historiker zwangsläufig hineingeraten. Vor allem diejenigen, die im Osten und im Westen gelehrt haben, in Königsberg oder Straßburg, also an den West- und den Ostgrenz-Universitäten oder auch im Süden, z.B. in Wien. Das Zentrum war selbstverständlich immer noch Berlin. Ob und inwieweit die Nazis überhaupt auf Historiker und auf ideologische Legitimation angewiesen waren, müßte man erst einmal genauer feststellen. Denn so, wie die ganze Debatte über die Entstehung des Prozesses, der zur Judenvernichtung führte, heute zu beurteilen ist, ist das eigentlich Dramatische oder Fürchterliche daran, daß dies nicht unbedingt ideologisch gesteuert wurde - jedenfalls nicht bei der Masse der Exekutoren, bei Hitler selbst selbstverständlich -, so daß die Exekutoren dafür keine wie auch immer geartete Rechtfertigung brauchten. Insofern muß man sich fragen, ob das Konzept "Vordenker" und "Ideologen der Vernichtung" überhaupt sinnvoll ist. Daß man in Einzelfällen viele Zusammenhänge finden wird, ist eine ganz andere Frage. Aber die Historiker als Kollektiv ganz bestimmt nicht. Man sollte Historiker auch heute nicht überschätzen.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Das Wort "kompensieren" gefällt mir nicht an dieser Frage. Es sieht ungefähr so aus, als ob man vor Gericht stünde und dann mildernde Umstände und eine Bewährungsstrafe bekäme. Ich würde immer sagen, daß man einer Persönlichkeit insgesamt gerecht werden muß, gerade auch weil ich mit meinem Vater in diesem Punkt im Konflikt gelegen habe und mit Conze nicht überein gekommen bin. Die Tatsache, daß sie den größeren Teil ihres Lebens nach 1945 verbracht haben und dann als liberale Hochschullehrer gewirkt haben - wenn man schon so argumentiert -, muß für die Beurteilung ihrer jeweiligen Persönlichkeit natürlich eine Rolle spielen, zu welchem Urteil man auch immer kommen wird. Wir persönlich, wenn wir dort als Doktoranden oder Assistenten waren, haben nur gemerkt, daß wir uns mit einem besonders hohen Maß an Liberalität konfrontiert sahen, was sonst in der Regel in den 50er oder beginnenden 60er Jahren nicht üblich war. Um nur ein Beispiel zu geben: 1962 haben wir Assistenten in Heidelberg eine große Unterschriftenaktion zur "SPIEGEL-Affäre" gegen die Maßnahmen der damaligen Regierung, gegen Strauß und Adenauer, organisiert. Da sind wir zum ersten Mal politisch geworden. Das hat Conze zutiefst mißbilligt. Als Assistenten an der Universität eine politische Aktion zu initiieren, das ist nicht akademisch. Aber er hat uns selbstverständlich gewähren lassen. Wir haben auch eine Reihe Professoren gefunden, die unterschrieben haben. Er hat nicht unterschrieben. Es war eigentlich typisch für ihn, daß er das akzeptiert hat. Es ist eine Frage der historischen Gerechtigkeit, daß man das in irgendeiner Weise zu einem Gesamtbild zusammenfügt, das man dann von der jeweiligen Person gewinnt.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Da ist jedes Wort, das hier verwendet wird, problematisch: Was ist innovativ, was ist Volk und was ist Geschichte oder Geschichtswissenschaft in dem Zusammenhang? Das ist sehr schwer zu beurteilen. Ich würde erstens die theoretische Zielsetzung und die angewandten Methoden unterscheiden. Zweitens würde ich sagen, die Volksgeschichte war außerordentlich unterschiedlich strukturiert. So wie sie Conze betrieben hat - gewissermaßen der sozialwissenschaftliche Ansatz -, war sie etwas völlig anderes als bei Heinrich von Srbik oder auch bei Hans Rothfels, die rein ideengeschichtlich orientiert blieben. Bei Otto Brunner war die Volksgeschichte auch Sozialgeschichte. Das sind verschiedene Komplexe, d.h. man konnte mit unterschiedlichen Methoden Volksgeschichte schreiben, und es mußte keineswegs sein, daß die Volksgeschichte nun zur Sozialgeschichte wurde. Es gab die verschiedensten Volksgeschichten. Sie waren sich einig in der Zielsetzung, daß man in irgendeiner Form die "völkischen Grenzen" Deutschlands erweitern sollte, um es sehr allgemein auszudrücken. Es gab eine politische Verständigung über die Zielsetzungen. Aber in den Methoden - danach fragten Sie ja eben - konnte man unterschiedlich vorgehen. Wenn man sich die Ergebnisse bei einigen ansieht, würde ich sagen, daß das innovative Methoden waren. Wenn der Rechenschieber in die Geschichtsforschung eingeführt wird, ist das eine innovative Methode. Daraus mußte nicht zwingend die moderne Sozialgeschichte entstehen. Es gibt noch ganz andere Ansätze, die nach dem Krieg eine Rolle spielten, die übrigens auch von Conze wieder mit bewirkt wurden. Conze hat schon Anfang der 60er Jahre Fernand Braudel nach Heidelberg eingeladen, so daß von der französischen modernen Sozialgeschichte schon sehr früh viel rezipiert worden ist. Ferner möchte ich noch Hans Rosenberg nennen, der z.B. für Hans-Ulrich Wehler ganz entscheidend gewesen ist und der als deutscher Emigrant in Amerika jemand gewesen ist, der viele aus meiner Generation angezogen hat. D.h. es gab verschiedene Wurzeln.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Erst einmal müßte man dann feststellen, ob es die überhaupt in vollständigem Maße gab. Es gab ja nun die wirklichen Hardliner in der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich, die man dadurch definieren könnte, daß sie in der SS waren und über die SS Geschichte betrieben, wie z.B. Günter Franz, Theodor Mayer, Ernst Anrich oder Erwin Hölzle. Sie alle sind nach dem Krieg nicht mehr Professoren gewesen oder geworden, sondern haben sich privat durchgeschlagen, so ähnlich wie seit 1989 viele Historiker in der DDR. Das sind zunächst einmal nicht gerade wenige. Am Anfang verloren sehr viel mehr ihren Lehrstuhl, die dann durch das berühmte 131er-Gesetz später wieder als Beamte eingestellt wurden, so daß die personelle Kontinuität relativ hoch ist. Es gab eine personelle, aber keine institutionelle Kontinuität. Von daher gesehen war es nicht so, daß das Licht wieder angeknipst wurde und alle saßen immer noch auf ihren Lehrstühlen, sondern das waren Prozesse - Diskussions-, Bewertungs- und auch Rechtfertigungsprozesse. Dann gab es die Entnazifizierungsverfahren, die das überlagerten. Man muß bedenken, daß diejenigen, die im Dritten Reich schon in irgendeiner Form wissenschaftlich tätig gewesen waren - das gilt nicht nur für die Geschichte, sondern für alle anderen Fächer auch -, in welcher Form auch immer, mit dem Regime verbandelt waren. Sie wurden nicht nur instrumentalisiert, sondern waren Teil des Regimes. Das galt für sämtliche Funktionseliten. Das galt für die Wirtschaftseliten, für die militärischen Eliten - das Problem beim Aufbau der Bundeswehr - und für die Verwaltungseliten, für die Beamten in den Ministerien. Da hätte man sich ein neues Volk suchen müssen, um es mit Bertolt Brecht auszudrücken. Das gab es ja nicht. Also mußte man zunächst einmal wahrnehmen, daß dieser Demokratisierungsprozeß von den Alliierten ernst gemeint war - von den Amerikanern allemal, aber auch von den Franzosen, und das hat auch Wirkungen gehabt. Das hat hineingewirkt in die Erziehung, die Schulen, die Änderung des Unterrichtes und auch in Erziehungsprogramme in den Universitäten, so daß von daher gesehen die personelle Identität nicht heißt, daß die Identität der Anschauung, der politischen und auch der wissenschaftlichen, von vornherein mitgeliefert wurde, sondern die Bundesrepublik hat sich allmählich demokratisiert und die Eliten an den Universitäten größtenteils auch.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Es gibt die berühmte These des Philosophen Hermann Lübbe, daß ohne diese, ich glaube das Wort benutzt er auch, "Schweigespirale" der moralische Wiederaufstieg der Deutschen nach 1945 gar nicht möglich gewesen wäre. Wenn man das heute vergleichend sieht, haben wir ähnliche Phänomene etwa in Polen oder in Spanien, wo die Gesellschaft und die Politik sich nach den Umbrüchen, der Abkehr von Diktaturen, einig waren, zunächst einmal alles zu beschweigen. Dort gibt es keine Diskussionen. Ich würde allerdings auch sagen, daß das auf die Dauer nicht gutgeht. Die Einrichtung einer "Wahrheitskommission", so wie in Südafrika, ist eine hervorragende Idee. Wie weit sie zur Versöhnung beiträgt, kann man jetzt noch nicht sagen. In Spanien bricht es jetzt gerade auf. Die "Schweigespirale", die sie sich selbst verordnet haben, funktioniert irgendwann nicht mehr. Das sieht man dort, und das wird in Polen sicher auch so sein. Ich will das nicht alles gleichsetzen, aber man kann die Situation vergleichen. Die hatten wir 1945 in Deutschland auch, und wir hatten sie auch in Italien, wo ich das ziemlich genau kenne. Damit, daß die Historiker nicht gefragt haben, unterschieden sie sich kaum von allen anderen gesellschaftlichen Gruppen, auch nicht von anderen Wissenschaften - mit gewissen Ausnahmeerscheinungen -, sondern eigentlich nur von einzelnen Figuren. Die deutschen Universitäten haben in den 60er Jahren mit Vortragsreihen über die Wissenschaft im Dritten Reich begonnen, die auch publiziert wurden. Das Problem ist, daß man der Aufgabe intellektuell größtenteils nicht gewachsen war mit Ausnahme derjenigen, die Emigranten gewesen waren und aus Amerika zurückkamen. Wenn sie diese Vortragsreihen heute lesen, spiegelt das alles eine merkwürdige Betroffenheitskultur über das Schreckliche, die Katastrophe und das Unglück wider, das über die Deutschen gekommen sei. So ist der Tenor dieser Vorlesungsreihen. Es waren deutsche Professoren, die diese Vorträge hielten. In Tübingen und auch in Gießen gibt es verschiedene Reihen, die Sie lesen können. Davon unterschieden sich die Historiker überhaupt nicht, aber es ist nicht so, daß die Historiker nicht weiter gefragt hätten. Es gab seit den 60er Jahren schon eine Reihe von Untersuchungen, etwa von Karl Ferdinand Werner über die Mediävistik im Dritten Reich. Das ist ein kleines, aber kritisches Büchlein, das schon 1967 erschien und große Wirkung hatte. Anfang der 70er Jahre erschien das Buch von Volker Losemann über die Althistoriker, das ich selbst in einer Buchreihe mit publiziert habe. Und es gibt natürlich dieses dicke Buch von Helmut Heiber über das Reichsinstitut für Geschichte. Das ist leider vollkommen mißlungen, weil es völlig unlesbar ist. Damit war aber nun, so schien es, das Zentrum der nationalsozialistischen deutschen Wissenschaft, denn das war das zentrale NS-Institut, das nach dem Willen der NS-Regierung gegründet wurde, abgehandelt. Darum gab es keinen richtigen Anlaß, in dieser Richtung weiter nachzufragen. Es spielte sicherlich auch eine Rolle, das wird heute nicht anders sein, daß kein Doktorand oder Habilitand sich seine eigene Zukunft damit verbauen wollte, daß er über seine eigenen Lehrer forschte. Das ist auch in anderen Fächern so gewesen. Natürlich hätten es die Betroffenen selber tun können, aber die waren einer Sprachlosigkeit unterworfen - immer mit Ausnahmen, zu denen etwa Hermann Heimpel zu rechnen ist, der nach dem Krieg schwerkrank, depressiv, war (was für meinen Vater partiell übrigens auch gilt), oder Erich Maschke, der Mediävist, der viel darüber gesprochen, aber nicht darüber geschrieben hat. Das ist schade, er hätte das tun können. Er wurde nach dem Krieg von den Russen verhaftet und zu 25 Jahren Straflager verurteilt und kam erst 1955 aus Rußland zurück. Er hatte in diesen Jahren Zeit zum Nachdenken gehabt und war der einzige, den ich kennengelernt habe, der mit größter Offenheit und Ruhe über das redete, was er im Dritten Reich gemacht hatte. Und er hatte nun wirklich zehn Jahre im Lager, im Gulag, dafür gebüßt. Aber sonst - eine volle Erklärung kann ich Ihnen auch nicht geben, haben Sie die von anderen Kollegen gehört?

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Zur letzten Frage: Es wäre schön, wenn Erfahrungen verarbeitet worden wären, da bin ich nicht so sicher.

Die Geschichtswissenschaft ist immer involviert in die Politik. Das ist nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern so, und man würde seine Rolle und Aufgabe auch falsch verstehen, wenn man sich selber zum unpolitischen Stubengelehrten und Aktenwurm erklärte, was ein Teil der Historiker freilich immer gerne macht. Die Stilisierung zum unpolitischen Historiker stellt eigentlich das eigene Fach in Frage. Denn - in welcher Weise auch immer - das Urteil von Historikern wird eingefordert. Das ist auch heute ständig der Fall, wird in Zukunft so sein und ist letztlich in allen Ländern so. Das Problem ist nur, und das ist vielleicht die Lehre, die man aus dem Dritten Reich ziehen kann: Wie können Historiker verhindern, daß sie in Diktaturen, und zwar in solchen Vernichtungsdiktaturen, wie es das Dritte Reich war, auch ähnlich einbezogen werden und diese vielleicht auch noch mit vorantreiben, ohne zu merken, daß ihre Rolle dadurch ganz anders als in einer demokratisch-offenen Gesellschaft ist? Ich meine damit nicht, daß sich die Historiker von vornherein auch politisch so engagieren sollten, daß sie in jedem Falle, was in unserer Gesellschaft eigentlich naheläge, in politische Parteien eintreten. Ich habe das nie gemacht. Das heißt nicht, daß man nicht auch öffentliche Erklärungen abgeben kann, die nicht direkt aus der Forschung, sondern aus der Erfahrung der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit kommen und durchaus eine bestimmte politische Richtung haben. Aber ob man weiter gehen soll, weiß ich nicht. Es gibt natürlich eine ganze Menge Kollegen, die das tun. In unserer Gesellschaft ist das auch nützlich, weil verschiedene politische Standpunkte, Gruppierungen und Parteien möglich sind. Wir können heute in der Bundesrepublik auch wunderschön sehen, daß wir in allen Parteien Historiker haben, bis hin zur PDS neuerdings, und das ist auch gut so. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange dieser Pluralismus gesichert ist. Aber in Diktaturen ist das nicht der Fall, und darum haben wir das Problem mit der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Das hat wohl nicht primär etwas mit der Geschichtswissenschaft zu tun. Das hat damit etwas zu tun, daß bestimmte Phasen der Geschichte immer wieder neu in das Bewußtsein einer Gesellschaft eintreten, besonders wenn sie eine besonders unangenehme Erinnerung sind, und das ist das Dritte Reich ja nun einmal. Das kommt in gewissen Wellen, ich habe erst vom Auschwitz-Prozeß erzählt. Von Anfang der 60er Jahre bis heute gibt es immer wieder bestimmte Wellen der Auseinandersetzung. Das hat damit zu tun, daß neue Generationen nachwachsen, aber auch damit, daß wir in unseren Lebensverhältnissen und Lebensbedürfnissen auf unterschiedliche und auch neue Fragen kommen, die man sich früher gar nicht gestellt hat. Die Historiker haben sich nun wirklich intensiv mit dem Dritten Reich befaßt. Das ist, wenn Sie die Zahl der Bücher und Aufsätze ansehen, die am besten erforschte Epoche der gesamten deutschen Geschichte. Daran gibt es gar keinen Zweifel. Und trotzdem gibt es plötzlich neue Fragen, und es werden auch später wieder neue Fragen kommen, und die sind zwischendrin immer schon gekommen: die Frage nach dem Widerstand, nach dem Alltag im Dritten Reich, nach der Herrschaftsstruktur - Polykratie oder nicht -, und jetzt sind wir in einer Phase, in der wir nach der Rolle von intellektuellen Eliten fragen, und das ist ein größerer Zusammenhang. In der Wehrmachtsausstellung geht es um die militärischen Eliten. Dann ging es in der Diskussion um die Industrie im Dritten Reich, jetzt werden auf einmal die Wirtschaftseliten diskutiert. Und es geht um die intellektuellen Eliten in den Universitäten. Wenn Sie so zurückschauen: Historikerstreit, Wehrmachtsausstellung, Goldhagen-Debatte - im Grunde geht es immer um dieselbe Problematik: Wie kommt es, daß das Dritte Reich sich mit den Deutschen verbunden hat, daß die Deutschen den Nationalsozialismus hervorgebracht haben und halb Europa mit Terror und Vernichtung überzogen haben? Das wird noch lange so sein: Wir werden immer wieder darauf kommen, ob es daran oder hieran gelegen haben kann. Es gibt nicht die monokausale Erklärung, aber doch viele Erklärungsansätze. Im Augenblick scheint es mir besonders notwendig und wichtig zu sein, daß man über die Rolle der Intellektuellen im Dritten Reich intensiv nachdenkt und darüber auch ebenso intensiv forscht.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Ich halte es für ein Symptom bestimmter öffentlicher oder gesellschaftlicher Bedürfnisse, daß die Information und auch die Diskussion über das Dritte Reich immer wieder stattfindet. Glücklicherweise ist die Diskussion kontrovers, denn jede Art von Wissenschaft lebt auch von kontroversen Standpunkten. Wenn es die nicht mehr gäbe, wäre es traurig. Daß manche sagen, das sei nicht wichtig oder interessiere sie nicht - also gut, man kann auch den Kopf in den Sand stecken. Ich würde sagen, das ist nicht sinnvoll. Es gibt natürlich immer wieder Beispiele auch von Historikern, die sich einfach von solchen Auseinandersetzungen, die auch letzten Endes häufig überhaupt nichts mehr mit wissenschaftlicher Auseinandersetzung zu tun haben, abwenden. Die ganze Goldhagen-Debatte z.B. hatte nichts mit Wissenschaft zu tun, denn Goldhagen hatte eigentlich keine neuen Ergebnisse. Das hatte nur etwas mit der öffentlichen Erwartung und der öffentlichen Aufregung zu tun. In diesem Falle waren sich die Fachhistoriker auch alle ziemlich einig, daß das nicht sehr sinnvoll war. Im jetzigen Fall, wenn man von intellektuellen Eliten redet, ist die Diskussion wichtig. Wir werden dabei unterschiedliche Meinungen haben, und das ist auch gut so.

Herr Schieder, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Magnus-Haus, Am Kupfergraben (Berlin-Mitte)
Datum: 12.03.99, ca. 14.15 bis 15.15 Uhr
Interviewer/in: Schäfer, Steinbach-Reimann


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