Interview mit Helga Grebing
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft
in den 1950/60er Jahren"
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Helga Grebing, geboren 1930 in Berlin-Pankow, studierte
an der Humboldt-Universität und der Freien Universität in Berlin
Geschichte, Philosophie, Politikwissenschaft und Germanistik. Nach ihrer
Promotion bei Hans Herzfeld im Jahr 1952 arbeitete sie zunächst als
Redakteurin und Verlagslektorin in München, bevor sie 1961 Referentin
bei der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung wurde. Angeregt
durch Iring Fetscher habilitierte sie sich 1969 an der Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Goethe-Universität in
Frankfurt/M. im Fach Politikwissenschaft. 1972 erhielt sie einen Ruf nach
Göttingen und wechselte 1987 nach Bochum, wo sie bis zu ihrer Emeritierung
1995 lehrte.
Helga Grebing lebt heute in Göttingen.
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Grebing:"Für mich ist das nicht überraschend gewesen, was jetzt auf dem Historikertag herauskam."
Teil 1: Biographische Fragen
Fragen Interviewer/in: Frau Grebing, Sie wurden am 27. Februar 1930 in Berlin-Pankow in eine katholische Arbeiterfamilie geboren, in der Sozialdemokratie und kommunistische Anschauungen im Streit lagen.
Antwort Grebing: Ja, das ist richtig. Der katholische Teil der Familie väterlicherseits stammte aus dem thüringischen Eichsfeld und war eigentlich bigott-katholisch. Im Gegensatz dazu kam meine Mutter aus einer protestantischen Familie, die allerdings auf das Protestantisch-Sein nicht sehr viel Wert legte. Das waren die beiden Welten, die aufeinanderstießen.
Ihr Vater ist 1935 schon früh gestorben.
Ja, er ist in Folge eines Verkehrsunfalls umgekommen. Er ist Maurerpolier gewesen und auf dem Weg von der Baustelle nach Hause von einem Auto angefahren und relativ schwer verletzt worden - aber eigentlich noch nicht lebensgefährlich. Aber dann ist eine sogenannte Wundgasbrandverletzung dazugekommen - damals hatte man noch kein Penicillin -, und damit war eigentlich schon klar, daß jemand, der das hatte, nicht durchkommen würde.
Dann sind Sie mit Ihrer Mutter nach Miersdorf (heute Zeuthen, südostlich von Berlin) gezogen. 1945 sind Sie wieder nach Berlin zurückgekehrt und haben die Handelsschule in Berlin-Neukölln besucht.
Nein, wir haben immer am Rande von Berlin gewohnt. Nach dem Tod meines Vaters sind wir zu Verwandten nach Miersdorf gezogen. Meine Mutter hat in Berlin gearbeitet. Es gab ja schon ausgebaute Eisenbahnstrecken. Meine Familie beiderseits war in Berlin wohnhaft. Wir sind eigentlich nicht aus Berlin weggezogen, sondern haben nur unseren Standort etwas verlegt, und ich bin schon als Achtjährige allein von Berlin nach Zeuthen gefahren und umgekehrt. Das war also im Grunde kein Unterschied. Insofern bin ich auch nicht wieder nach Berlin zurückgekehrt, sondern als nach Kriegsende die sowjetische Besatzungsarmee alle Schienen abmontiert hatte und kein Verkehr mehr nach Berlin existierte, mußte ich mich entschließen, in Berlin bei Verwandten zu wohnen. Auch das ist kein Bruch in der Biographie.
Anschließend haben Sie die Handelsschule in Berlin-Neukölln besucht.
Ja, aber schon vor Kriegsende. Es fing ja mit dem totalen Kriegseinsatz an, als alle Schulen geschlossen wurden. Außerdem war ich zwischenzeitlich ein Jahr auf der Handelsschule. Dann wurde ich Rüstungsfabrikarbeiterin in Wildau bei Schwartzkopf, dem großen Lokomotivenunternehmen. Da habe ich zumindest gelernt, Bauzeichnungen zu lesen, aber sonst habe ich wahrscheinlich nicht viel zur Produktionssteigerung beigetragen. Das war aber damals so: Schulen, Theater, alles wurde zugemacht. Anschließend habe ich wieder die Handelsschule aufgenommen.
Sie haben in einem anderen Gespräch, das in Ihrer Festschrift abgedruckt ist, von Ihrer Zeit als BDM-Mädchen gesprochen. Für Sie war ja gerade das Jahr 1945 auch persönlich eine ganz entscheidende Zäsur, weil Sie sich als 15jährige über die zwölf Jahre Rechenschaft abgelegt haben - in einem Manuskript, in dem Sie sich gefragt haben, was in diesen zwölf Jahren passiert ist. Vielleicht können wir noch einmal zurückgreifen: Was waren die entscheidenden Prägungen, und wie haben Sie Ihre Jugend erlebt?
Nun sind es bei mir nicht zwölf Jahre. Ich fing vielleicht mit Kriegsbeginn an, mir über das, was passierte, bewußt zu werden. Da war ich neun, da fängt man schon an zu begreifen. Vorher waren es mehr Prägungen durch die Erwachsenen, die alle - was ganz wichtig war - in meinem familiären Umfeld, ob nun evangelisch oder katholisch, keine Nationalsozialisten, d.h. keine Mitglieder der NSDAP waren. Mühselig hat der NSDAP-Blockwart meine Mutter dann dazu gebracht, wenigstens in den NSV einzutreten. Das war diese Sozialorganisation, die im Winterhilfswerk immer mit den Klapperbüchsen die Groschen sammelte. Ein Onkel, der zwar kein bekennender Katholik war, aber immerhin Katholik, hat für die in Berlin lebende Familie beschlossen, daß man nicht "Heil Hitler", sondern "Grüß Gott" sagen sollte. Bei Katholiken könnte ja niemand etwas dagegen haben. Ich wußte damals noch nicht, daß irgend jemand aus meiner Familie Sozialdemokrat oder Kommunist war. Das hat man mir wahrscheinlich nicht auf die Nase gebunden.
Auch hatte ich als Kind erlebt, daß bei uns im Haus ein Fräulein Cohn lebte. Es ist heute klar, daß sie eine Jüdin war, die versucht hatte, irgendwie zu bleiben. Fräulein Cohn war mit einem Mal verschwunden und kam auch auf mein Nachfragen hin nicht wieder hervor. Das prägt sich einem kindlichen Bewußtsein ein.
Ich erinnere mich allerdings sehr genau daran, daß ich mal als Vier- oder Fünfjährige - wahrscheinlich ziemlich frech - eine entfernte Verwandte, die immer sehr herrisch auftrat, angebrüllt habe: "Ich sorge dafür, daß Du ins Konzertlager kommst." Konzertlager war der Tarnname für KZ, d.h. in der Familie sprach man davon. Wo sollte ich den Begriff sonst herhaben? Diese antinationalsozialistische Prägung ist also unterschwellig sehr stark gewesen. Meine Mutter redete mir auch immer zu, daß ich noch nicht in den BDM gehen solle, da ich noch zu klein sei. Und wer hört denn gern, er sei klein? Nun wollte ich da gerade hin.
... und wahrscheinlich, weil alle Kameradinnen dabei waren.
Ja, das kam noch dazu. Ich nehme einmal an, daß ich unter den Bauern- oder Kleinbürgerkindern in Miersdorf verhältnismäßig schnell das große Wort geführt habe und deswegen auch beim BDM in eine Führungsfunktion gekommen bin.
Bezeichnend für meine Familie war folgende Geschichte. Ich wollte eine Landkarte von der Ostfront haben, um zu sehen, wo die "große" deutsche Armee steht. Das lehnte meine Mutter ab. Es gab auch kein Führerbild. Ich habe sie dann so gedrängt, daß es ihr wohl zu mulmig wurde und sie mir schließlich eine Karte aufs Klo gehängt hat. Das war damals natürlich in einem Zweifamilienhaus aus den 30er Jahren ein eiskaltes Unternehmen. Jedenfalls mußte ich immer aufs Klo, wenn ich die Fahnen da stecken wollte, und steckte dann nach Stalingrad pausenlos die Markierungen zurück.
Ich würde aber sagen, der entscheidende Moment des Umdenkens kam etwa Ende 1944. Uns erreichten im Winter 1944 die ersten Flüchtlinge aus dem Osten, die zum Teil in offenen Güterwagen ankamen - alte Frauen, kleine Kinder. So wurde mir langsam klar, daß da etwas nicht stimmte. Was uns in den Wehrmachtsberichten erzählt wurde, paßte nicht mit der Realität zusammen. Wir haben die Leute betreuen müssen und auf diese Weise einiges erfahren. Insofern war ich schon vorgeprägt und begriff allmählich, daß an diesen ideologischen Indoktrinationen und an dem, was in "Mein Kampf" stand, irgend etwas nicht stimmen konnte.
Ein weiteres Ereignis im Februar 1945 war wichtig. Wir, d.h. die HJ, der BDM und die Parteileute sowieso, waren vom NSDAP-Ortsgruppenleiter zusammengerufen worden, der uns dann erklärte, es sei der Führerbefehl gekommen, eine "Werwolf"-Organisation aufzubauen. Das war für mich der Moment des inneren Umbruchs. Immerhin hatte ich den Mut zu sagen: "Ohne die Mädchen. Wir machen da nicht mit." Meine Position war auch ganz richtig, denn 14 Tage später war der Ortsgruppenleiter verschwunden. Wo er geblieben ist, weiß ich nicht. Jedenfalls erforderte diese Entscheidung meinen ganzen Mut. Da war eigentlich schon klar, daß ich nicht mehr dazugehören konnte. Ich würde das schon auf den dauerhaften Versuch meiner Familie zurückführen, mich soweit es ihnen eben möglich war, zurückzuhalten.
Das ist das eine, und das andere waren eigene Überlegungen. Die haben sich dann in dem von Ihnen vorhin schon kurz erwähnten Aufsatz niedergeschlagen. Im Grunde wurden wir als gläubige junge Menschen ausgenutzt und instrumentalisiert. Nach dieser Einsicht war der Übergang in die Demokratie für mich nicht mehr allzu schwer - höchstens insofern, als daß ich nun bald wieder indoktriniert werden sollte. Das hat dazu geführt, daß ich bereit war, am Aufbau eines neuen Deutschland mitzuwirken, aber nicht in der KPD oder in der SED, sondern in der SPD, in die ich im Januar 1948 eingetreten bin. Das konnte ich tun, weil Ost-Berlin unter der Viermächteverwaltung von Berlin stand, so daß die SPD dort noch nicht aufgelöst worden war. Dies geschah erst nach dem Mauerbau.
Ich habe die Handelsschule zu Ende gemacht und mich eines Tages aufgrund eines Zeitungsaufrufs für die Vorstudienkurse der Humboldt-Universität beworben - später wurde daraus die Arbeiter- und Bauern-Fakultät. Aufgerufen waren junge Menschen, die aus politischen, rassischen oder sozialen Gründen nicht in der Lage gewesen waren, während der Zeit des Dritten Reiches das Abitur zu machen, geschweige denn mit dem Studium beginnen zu können. Da habe ich mich gemeldet und soziale Gründe geltend gemacht: daß meine Mutter alleinerziehend war, mit einer knappen Rente und sehr wenig Geld, und daß sie selbstverständlich nicht daran denken konnte, mich zum Abitur zu führen oder studieren zu lassen. Ich habe dann die Aufnahmeprüfung bestanden und erinnere mich noch, daß eine Prüferin, die spätere Justizministerin, die schreckliche Hilde Benjamin gewesen ist. Ich wurde als eine der Jüngsten aufgenommen. Im Mai 1946 war ich nämlich gerade 16 geworden.
Und weshalb haben Sie sich später für Geschichte entschieden? Sie hatten wahrscheinlich erst einen anderen Berufswunsch, wenn man an den Besuch der Handelsschule denkt.
Die Handelsschule war kein Wunsch, sondern eine Notwendigkeit, irgend etwas zu tun. In den Kreisen, aus denen ich kam - im Grunde Arbeiterschicht mit ein bißchen Aufstiegswillen -, dachte man beispielsweise an Auslandskorrespondentin, an Übersetzerin oder an einen gehobenen Bürovorsteherposten in einem Rechtsanwaltsbüro. Das gab die Aufstiegsleiter vor, aber kein Studium. Warum Geschichte? Das kann ich nicht beantworten. Ich kann mich nur erinnern, daß ich immer schon Geschichte und Philosophie studieren wollte, was ich ja dann auch gemacht habe. Germanistik war eigentlich nur der Überlegung geschuldet, nachher Staatsexamen machen zu können, um die Lehrbefugnis zu haben. Wenn Sie das Vorwort meiner Dissertation lesen, steht dort bereits, daß ich es als Aufgabe betrachte zu erklären, wie der Nationalsozialismus eigentlich möglich wurde. So habe ich meine Dissertation auch als einen Beitrag zu einer Erklärung aufgefaßt.
Wenn Sie sich an Ihren Studienbeginn erinnern: Wie erlebten Sie Ihre ersten Semester an der Humboldt-Universität?
Im Wintersemester 1947/48 habe ich an der Humboldt-Universität angefangen zu studieren, da war ich 17. Wir hatten schon in der Zeit der Vorstudienanstalt politische Probleme und eine politisch gespannte Situation. Ältere, die Wehrdienst oder Gefangenschaft hinter sich hatten, ließen nicht alle Indoktrinierungsversuche lautlos an sich vorübergehen. Für mich war klar: Indoktrination - nicht mehr braun, jetzt rot - kommt nicht in Frage. Deswegen entschied ich mich für die SPD.
Die ersten drei Semester blieb ich an der Humboldt-Universität. Immerhin lehrten dort Fritz Hartung, der einen großen Ruf hatte, und auch der Mediävist Fritz Rörig, der sich zu Anfang jeder Vorlesung dafür entschuldigte, daß er mal Nazi gewesen war. Nicht zu vergessen: Ernst Niekisch, der aus dem Zuchthaus gekommen war und großartige Vorlesungen hielt. Da er blind war, wurde er immer von jemandem hereingeführt, stellte sich ans Katheder, hielt sich da fest und hat dann seine Dreiviertelstunde geredet.
Welche Themen hat Niekisch behandelt, und an welche Lehrer erinnern Sie sich sonst noch?
Niekisch behandelte vor allem die Weimarer Republik. Er hat wesentlich die Inhalte dessen, was er schon publiziert hatte oder dann später noch publiziert hat, vorgetragen - also seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Bei den Germanisten war es Hermann Kunisch, der aus dem katholischen Lager kam. Das waren Leute, die durch die Themenwahl schon vorgaben, daß man sich auch an der Universität nicht alles gefallen lassen mußte. Im Gegensatz dazu gab es Alfred Meusel und Heinz Kamnitzer. Meusel war erst Sozialdemokrat in der Weimarer Zeit, dann Kommunist und in der englischen Emigration. Bei Kamnitzer war das ähnlich. Meusel hat Arbeitergeschichte gelehrt und Kamnitzer vor allem Bauernkriege. Damit fing schon der Zirkus an: die Frage der ersten bürgerlichen Revolution, die Bauernkriege - Thesen, die nachher sehr verbreitet waren.
Ich wollte eigentlich sofort nach Gründung der Freien Universität dorthin gehen, weil es mir auch aus anderen Gründen an der Humboldt-Universität zu mulmig wurde. Ich war damals schon Mitglied der SPD-Hochschulgruppe, und wir verteilten Flugblätter oder ließen sie auf Klos liegen. Die Situation wurde zunehmend brenzliger. Ich konnte aber nicht gleich weg, weil meine Mutter einen Unfall hatte. Sie war von einem russischen Lastkraftwagen angefahren worden. Da sie ziemlich schwer verletzt war und ich sie nicht allein in Miersdorf lassen konnte, bin ich erst zum Sommersemester 1949 an die Freie Universität gegangen. Sie werden sich die damaligen Bedingungen nicht vorstellen können: Ich lebte noch in der Sowjetischen Besatzungszone bei meiner Mutter, fuhr jeden Tag nach Berlin zur Freien Universität - um nicht entdeckt zu werden, erst bis Friedrichstraße und dann runter nach Dahlem. Das war irre umständlich, spannend und risikoreich. Aber als junger Mensch nimmt man ja Risiken nicht so existentiell wahr. Das klingt im nachhinein abenteuerlich und war es wohl auch, aber man hat es einfach so gemacht.
War die FU für Sie eine andere Welt?
Ein Unterschied war das schon. Aber die Freie Universität bestand ja eigentlich nur aus ein paar Häusern, und da stand "Freie Universität" dran - und das war's. Wir sind in ganz Dahlem rumgezogen bei Leuten, von denen wir vermuteten, daß sie reich wären, und haben gefragt, ob sie Bücher hätten, die sie nicht mehr bräuchten. Aber was wir in Dahlem an Lesbarem gefischt haben, war jämmerlich. Da wir kaum Literatur hatten, bin ich immer in die alte Staatsbibliothek gefahren, wo wir als Studenten der Freien Universität eigentlich nicht bedient werden durften. Doch wir brachten dem Personal Schokolade und Sachen, die es im Osten nicht gab. Man hat dann nicht so genau hingeguckt und uns die Bücher zur Benutzung im Lesesaal zur Verfügung gestellt. Es war klar, daß sie nicht das Risiko eingingen, uns die Bücher auszuleihen.
Zum Seminarbetrieb selbst: Was waren die ersten Veranstaltungen, die Sie an der FU besucht haben? Wer waren besondere Lehrer, und auf welche Themen haben Sie sich konzentriert?
Die Angebote waren schon überwiegend zeitgeschichtlich. Paul Kluke z.B. machte ein Seminar über die Revolution von 1918/19. Das war ein Highlight für die Zeitgeschichte. Hans Herzfeld, der bald kam, hielt damals bereits die großen Vorlesungen vom Kaiserreich bis in die Weimarer Republik. Hans Rosenberg, der methodisch ganz anders orientiert war, nicht mehr im wesentlichen an Politik-, Organisations- und Institutionengeschichte, warf dann sozialgeschichtliche Fragestellungen auf - was mir ja nun nicht fremd war. Ich kam aus einem solchen Milieu. Ich wußte, was Arbeiterbewegung, was soziale Bewegung war. Rosenberg war für mich am anregendsten, das ist gar keine Frage.
Spielte Rosenbergs Status als Emigrant für Sie eine Rolle?
Sicher spielte das eine Rolle. Er hatte auch eine andere Art zu lehren. Auch Kluke war ein spezieller Fall, da seine Frau Jüdin war und er während des Dritten Reiches nicht mehr an der Universität lehren durfte. Er war wohl zunächst Privatdozent und ist dann Lehrer außerhalb Berlins gewesen, um seine Frau zu schützen. Durch den Rückzug ist es beiden gelungen, zu überleben. Darum lag es nahe, daß er zeitgeschichtliche Themen aufgriff. Aber sehr weit über die Weimarer Republik ist keiner hinausgekommen, das muß man ganz deutlich sagen. Es war auch schwierig, bereits Perspektiven für die Interpretation des Dritten Reiches zu entwickeln. Weimar war aber ein fester Bestandteil der Lehre.
Traten Rosenberg oder Herzfeld in ihren Vorlesungen als Zeitzeugen auf?
Rosenberg erklärte uns schon, warum er nun in Amerika war, obwohl er vor 1933 bereits Privatdozent in Köln gewesen war. Er brachte auch diesen etwas anderen, offeneren Stil aus den amerikanischen Universitäten mit. Sonst waren die Professoren damals ehrfürchtige Gestalten, die man kaum anzusprechen wagte. Anders war das bei Rosenberg, der uns als erster auch außerhalb der Lehrveranstaltungen zu sich einlud, so daß man eine andere Art von Gespräch führen konnte.
Wie war Ihr Verhältnis zu Herzfeld?
Herzfeld war für mich wichtig. Ich erinnere mich, daß er mir einmal ausdrücklich sagte, daß er meine politische Betätigung schon seit längerem beobachte und dies durchaus in seinem Sinne sei. Das war schon viel, daß das von jemandem kam, der kein Sozialdemokrat war und der im Gegenteil dieses schreckliche Buch über die Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg geschrieben hatte. Das wollte er, der selbst im Dritten Reich halb Verfolgter, "Vierteljude", gewesen war, mir deutlich sagen. Ich fand es damals bemerkenswert, daß Herzfeld mich in meiner politischen Arbeit bestärkte.
Auf diese Weise wurde ein Umlernprozeß signalisiert. Aber wurde überhaupt thematisiert, welche Schriften der "Lehrer" in der Weimarer Republik oder noch am Anfang des Nationalsozialismus verfaßt hatte?
Nein. Das Buch von Herzfeld habe ich erst im Laufe des Studiums entdeckt und war natürlich ziemlich schockiert. Aber da er mir gegenüber andeutete, daß er die Dinge inzwischen anders betrachtet, mußte ich das so akzeptieren.
Gab es unter den Lehrern auch "Grabenkämpfe"? Hat man gemerkt, wer halbherzig entnazifiziert wurde bzw. wer aufrichtig demokratisch umgelernt hatte?
Nein, das merkte man damals nicht. Abgesehen von Rörig, den ich vorhin erwähnte, habe ich niemanden so offen erlebt. Niekisch hat es nun - umgekehrt - wirklich nicht nötig gehabt. Herzfeld hat sich dem Anschein nach selbst revidiert. Kluke brauchte sich auch nicht zu rechtfertigen, da er in der Nazizeit nichts publizieren durfte. Im Grunde hatte ich Hochschullehrer, die diese Form von Vergangenheitsbewältigung nicht nötig hatten. Es kommt übrigens noch etwas hinzu: Es kamen dann schon die jüngeren Historiker bzw. Politikwissenschaftler wie z.B. Karl-Dietrich Bracher, der schon damals - die Männer waren ja sowieso alle älter als wir Studentinnen - sehr schnell an seinem großen Buch gearbeitet hat. Das war der eigentliche Durchbruch. Damit war schon eine neue Generation in Sicht, mit der wir uns identifizieren konnten.
Wurde die Verbindung von politischer Wissenschaft und Geschichtswissenschaft von Herzfeld gefördert?
Ja, Gerhard A. Ritter schrieb seine Dissertation über die Sozialdemokratie vor 1914. Ich beschäftigte mich mit dem Verhältnis zwischen Zentrum und katholischer Arbeiterschaft und Gerhard Schulz mit den internationalen Perspektiven der alten Arbeiterbewegung. Herzfeld akzeptierte Dissertationen, die wir uns selbst heraussuchten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich irgend etwas über den Kanzler Caprivi, Bismarcks Nachfolger, schreiben sollen. Das hat mich aber nicht interessiert, so daß ich mir mein Thema gewissermaßen selber gesetzt habe. Es war unüblich im deutschen Universitätsbetrieb, daß die Doktoranden vordachten, was sie machen wollten.
Das deutet auch darauf hin, daß wahrscheinlich das Gespräch unter den Studierenden sehr intensiv war.
Es gibt den Roman "Die Studenten von Berlin" von Dieter Meichsner, der auch zu unserer Kohorte gehörte. Er war nachher Hörspielchef beim Norddeutschen Rundfunk und Krimi-Autor. Wir haben ihn immer aufgezogen, weil er in den Seminaren und Vorlesungen nie zuhörte und wir ihm immer alles erzählen mußten. Ich glaube, er hat da schon seine Hörspiele und Romane entworfen. "Die Studenten von Berlin" bezieht sich auf diese Gruppe von Studenten.
Wer gehörte dazu?
Alle, die ich genannt habe: Ritter, Schulz, Grebing, Ansprenger und noch ein paar andere.
Und wie war in etwa das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Studentinnen und Studenten?
Ich habe überhaupt nicht wahrgenommen, daß wir in der Minorität waren - was natürlich der Fall war. Aber sonst hatten wir ein eher kameradschaftliches Verhältnis. Ich sagte ja schon, daß die Männer meistens ein paar Jahre älter waren. Wir haben nie Probleme gehabt. Vielleicht lag das auch daran, daß die Männer froh waren, daß sie nun endlich dem Krieg, der Kriegsgefangenschaft und was ihnen sonst noch alles begegnet war, entronnen waren. Ich erinnere mich nicht daran, daß die Frauen von den Männern in irgendeiner Form majorisiert wurden. Man war gleich, und so gingen wir auch miteinander um. Übrigens haben wir alle erst mühselig das Diskutieren lernen müssen, weil wir das nirgends mitbekommen hatten, wo immer wir in der Schule gewesen waren. Man wartete, bis man gefragt wurde. Den diskursiven Umgang mußten wir alle erst sehr mühevoll einüben. Obwohl ich sonst sehr viel reden konnte und auch schon ziemlich viel geschrieben hatte, mußte ich erst lernen, mich in einem größeren Gremium zu äußern. Wir hatten dazu sogar eigene Diskussionsgruppen eingerichtet.
In Ihrer Dissertation haben Sie sich mit der Zentrumspartei in der Weimarer Republik beschäftigt. Spielt da Ihre katholische Herkunft vielleicht eine Rolle?
Nein. Das würde ich nicht so dezidiert behaupten. Ich hatte an sich vor, etwas über die deutschnationalen Arbeiter zu schreiben. Die Fragestellung war: Warum ist diese, immerhin nicht kleine Gruppe, nie proletarisch oder im Sinne der klassischen Arbeiterbewegung sozialisiert worden? Warum blieb sie ein Faktor innerhalb des nationalistischen Spektrums? Da war die Quellenlage aber nicht gut genug. Deshalb habe ich mich entschlossen, was dann ziemlich nahe lag, das katholische Milieu zu behandeln. Das war fast noch interessanter, weil von der katholischen Soziallehre her alle Voraussetzungen geschaffen waren, sich nun in die Arbeiterbewegung einzubringen.
Nach Ihrer Promotion bei Hans Herzfeld sind Sie in den Verlagssektor übergewechselt.
Ja. In die Schule wollte ich nicht, obwohl ich Staatsexamen gemacht habe. Aufgrund der Tatsache, daß ich früh mit dem Studium anfangen konnte, war ich noch nicht einmal 23 und hatte schon promoviert. Kurz danach habe ich - was man damals noch konnte - die Dissertation als Hausarbeit eingereicht und damit Staatsexamen gemacht. Weil das so leicht war, machte man dies einfach, damit man nicht noch eine zweite Arbeit schreiben mußte. Ich wollte auch nie in die Schule, weil es mich gelangweilt hätte, von Zeit zu Zeit immer wieder dasselbe zu machen. Ich habe mir dann relativ schnell überlegt, ins Verlagswesen zu gehen und Bücher zu machen. Die Idee, an der Universität zu bleiben, hatte ich nicht .Angesichts der geringen Zahl an Stellen konnte man das damals gar nicht. Ich weiß noch, daß Herzfeld eine einzige Stelle zu vergeben hatte. Er besetzte sie mit Gerhard A. Ritter, weil er seine Promotion zwei Monate früher abgeschlossen hatte als ich. Ob es der wahre Grund für seine Entscheidung oder überhaupt ein Kriterium war, habe ich dann nicht mehr in Frage gestellt. Ritter bekam die Stelle, und ich mußte mir etwas anderes suchen. Berlin hatte damals ein schlechtes Arbeitsplatzklima. Ich hatte auch überlegt, in die Senatsverwaltung zu gehen, aber daraus wurde nichts.
Letztlich habe ich mich bei sage und schreibe 80 Verlagen um eine Volontariatsstelle beworben und bekam immerhin von dreien eine Antwort. Die Verlage habe ich mir herausgesucht nach den Büchern, die ich gelesen und die mich interessiert hatten. Auf den Isar-Verlag in München, bei dem ich schließlich landete, war ich gekommen, weil damals schon "Die Geschichte der Parteien" von Ludwig Bergsträsser und "Die deutschen Parteiprogramme" von Wilhelm Mommsen dort erschienen waren. In München war es zunächst nicht ganz einfach, weil ich dort niemanden kannte. Deshalb ging ich zur SPD, wo ich Mitglied war. So wurde ich Juso in München und kurzzeitig Juso-Vorsitzende.
Ich habe erst einmal eine Weile die Universität Universität sein lassen, aber dann angefangen zu publizieren. Sie wissen ja, daß die kleine Schrift über den Nationalsozialismus, die immerhin eine Auflage von 120.000 hatte, dann bei Olzog herausgekommen ist. Martin Broszat und ich hatten auf einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Akademiker vorgetragen. Er sprach über die Entwicklung der völkischen Ideologie, ich über die Anfänge der nationalsozialistischen Organisationen. Daraufhin regte Olzog an, daraus ein Buch zu machen. Vom Geld für das kleine Buch über den Nationalsozialismus habe ich mir mein erstes Auto gekauft.
Dazu muß man sagen, daß sich der Markt für dieses Thema in den 50er Jahren gebildet hat. Nach meinem Verständnis trifft die Einschätzung der 50er Jahre als ausschließlich reaktionär, rückwärtsgewandt und vertuschend nicht zu. Tatsächlich war es - das können Sie auch an anderen intellektuellen Bemühungen abmessen - auch die Vorbereitung der 60er und der Außerparlamentarischen Opposition. Insofern bin ich immer - nicht nur, weil ich damals gelebt und selber aktiv gewesen bin - sehr allergisch, wenn die 50er Jahre nur in dieser Einseitigkeit wahrgenommen werden.
Im Vorwort Ihres Buches über den Nationalsozialismus sagen Sie auch, daß es so etwas wie eine Verpflichtung zur Beschäftigung mit der eigenen Geschichte und zur eigenen Positionierung innerhalb einer Demokratie gebe. Wie kam es dann zu Ihrem Wechsel von der Geschichts zur Politikwissenschaft?
Ein Wechsel in dem Sinne war es nicht. Aber das hängt nun mit ganz konkreten Dingen zusammen: mit dem Band über den Nationalsozialismus, meinen anderen Schriften und mit meiner aktiven politischen Arbeit. Ich war nachher auch eine Zeitlang Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Akademiker in München und habe das erste nichtkonfessionelle, international besetzte Studentenwohnheim geleitet. Es hätte mich kein Historiker habilitiert. Es wäre auch keiner auf die Idee gekommen, mich zu fragen, ob ich das wollte.
Als ich in Wiesbaden für die Landeszentrale für politische Bildung arbeitete, war ich zuständig für das Referat Universitäten und Lehrerfortbildung, was für mich eine sehr spannende Sache war, weil ich wieder näher an die Universität rückte. Dort habe ich auch Iring Fetscher kennengelernt. Lepsius, Fetscher und Herzfeld waren auch diejenigen, die die Gutachten für ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft geschrieben haben, was ich dann auch drei Jahre lang bekam. So bin ich zur Politikwissenschaft gekommen. Allerdings hat mich das auch von der Thematik her gefesselt. Ich fand die Historik zum Teil doch sehr langweilig und sich immer um sich selbst drehend. Ich fürchte, wir kommen jetzt langsam wieder in diese Phase, L'art-pour-l'art-Forschung zu betreiben. Neulich habe ich gehört, jemand mache etwas über die Geschichte der Emotionen. Das paßt mir ebensowenig wie diese Alltagsgeschichtsbesessenheit. Was bringt sie an großer Perspektive? Gar nichts. Auch Frauen- und Geschlechtergeschichte ist mir eigentlich zu wenig allgemeinhistorisch orientiert. Das sind wichtige Bereiche, die man nicht vernachlässigen sollte und die man zum Teil in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt hat. Aber das nun zum Zentrum ganzer Forschungsrichtungen zu machen, halte ich aus meiner Sicht nicht für legitimierbar, denn wir sollten uns lieber mit den Perspektiven Europas beschäftigen und ein entsprechendes Geschichtsverständnis entwickeln. Das halte ich für viel wichtiger.
Warum blieb Ihnen der Weg in die Geschichtswissenschaft zunächst verschlossen?
Mit Conze hatte ich große Probleme. Ludwig Bergsträsser hatte der Parlamentarismus-Kommission vergeblich vorgeschlagen, meine Dissertation zu veröffentlichen. Zu dieser Kommission gehörte damals schon Conze, der mich auch aufforderte, zu ihm zu kommen. Er erklärte dann, daß er meine Arbeit sehr interessant fände und daß man daraus etwas machen könne, aber ich müßte sie völlig umarbeiten und den Teil nach 1930 komplettieren. Im Grunde hörte ich 1930 auf, weil sich von Seiten des Zentrums nichts Neues mehr ergab. Ich fragte ihn, wie ich das eigentlich machen sollte, da ich meinen Lebensunterhalt verdienen mußte. Ich habe meine Dissertation dann nicht umgearbeitet, so daß sie auch nicht gedruckt wurde. Publikationszwang hatten wir ja nicht. Dabei ist es dann geblieben. Trotz allem konnte ich das dort erworbene Wissen in meinen anderen Publikationen nutzen - die "Arbeiterbewegung" beispielsweise hat auch einen Teil zur christlichen Arbeiterbewegung.
Conze war insgesamt schwierig. Er galt als sehr jung im Vergleich mit den Lehrern, die ich in Berlin gehabt hatte. Ich bin nie auf die Idee gekommen, daß man ihn so hätte einordnen müssen, wie es heute offensichtlich der Fall ist. Vielleicht war man naiv oder dumm oder beides. Ich hätte nie daran gedacht, in Conzes Schriften aus den 30er Jahren mal nachzusehen. Ich dachte, wer solch eine große Rolle in der neueren Historiographie spielt - in diesem Sinne war ich dann naiv -, der wird wohl kein Nazi gewesen sein. Ich habe dann später - in den 60er Jahren - Leute kennengelernt, die zur gleichen Zeit in Königsberg gelehrt haben. Sie sprachen anders über Conze und stellten klar, daß die Universität Königsberg der Versuch gewesen sei, von Königsberg ausgehend das neue "Ostland" ideologisch zu begleiten. Es gab nur wenige, die sich nicht an diesen Dingen beteiligt haben, wie den Kunsthistoriker Wilhelm Worringer, den Germanisten Paul Hankamer oder den Osteuropahistoriker Werner Philipp beispielsweise. Rothfels war eine sehr problematische Figur, scheint es mir jetzt im nachhinein. Er war "Halbjude", Weltkriegsteilnehmer und hatte ein Bein verloren. Meine langjährige Freundin, die damals in Königsberg als Kind lebte, sagte: "Ich werde Dir was erzählen. Ich habe mich im Januar 1933 mit den Rothfels-Jungs geprügelt auf dem Königsberger Schloßteich. Da fuhren die nämlich immer mit ihren Schlittschuhen Hakenkreuze ins Eis." Das muß man sich mal vorstellen! Die wußten anscheinend nicht, was sie taten. Für meine Freundin war es natürlich ein Schreck, daß die Rothfels-Jungs so etwas taten, da sie einer Familie entstammte, aus der nachher mehrere ins KZ und ins "Strafbataillon 999" kamen. Insofern war sie politisch völlig anders sozialisiert. Als wir später mal über diese Dinge gesprochen haben, wollten Hans Mommsen und andere Kollegen nicht wahrnehmen, daß man Rothfels nicht nur als denjenigen sehen konnte, der die Arbeit über die deutsche Opposition gegen Hitler geschrieben hatte, sondern daß es eine Vorgeschichte gab. Ich erinnere mich noch, daß Conze irgendwann, als ich noch in Göttingen war, sogar über diese Thematik - die frühere deutsche Osteuropaforschung - einen Vortrag gehalten hat. Da hat er nicht ein Wort über seinen Anteil daran verloren. Er hat die Ergebnisse der Osteuropaforschung sozusagen demokratisch "umfrisiert". Für mich ist das nicht überraschend gewesen, was jetzt auf dem Historikertag herauskam.
Gab es in Bezug auf Conze so etwas wie das "große Schweigen"?
Im großen und ganzen hat man nicht danach gefragt, weil es unvorstellbar war, daß Leute, die eine so hervorragende Rolle in der historischen Wissenschaft der Bundesrepublik spielten, noch ihre Leichen im Keller hatten. Das waren Leute, die in den 30ern anfingen zu schreiben und blutjung waren. Richtige Nazis im Wissenschaftsbetrieb in der Bundesrepublik - es gibt ja diese Reihe "Die 'braune' Universität" - fand man eher bei den Juristen, wo sie massenhaft versammelt waren. Das war auch der Anlaß für mich, die Habilitationsschrift über das Demokratieverständnis der Konservativen in der Bundesrepublik zu schreiben, um zu sehen, wie sie ideologisch verortet sind und welche Thesen sie im Hinblick auf die demokratischen Vorgaben des Grundgesetzes vertreten.
Bezogen auf das Dritte Reich ist es wahrscheinlich wichtig zu unterscheiden, wer nationalkonservativ war und wer völkische Ideen aufnahm. Wie würden Sie die "Königsberger" einordnen?
Im Vorbeigehen wundert man sich über einiges, aber vertieft es dann nicht. Z.B. darüber, daß Leute, die auch in Königsberg waren, schon kapiert hatten, was dort ablief und welche Rolle die Königsberger Universität spielen sollte. Ich kenne in einem anderen Zusammenhang einen Brief des Kurators der Königsberger Universität, der offenbar im Juni 1933 vom Preußischen Kultusminister aufgefordert worden war, sich über die zukünftigen Perspektiven der Königsberger Universität zu äußern. Daraus geht klar hervor, daß Königsberg als Vorposten für den neuen deutschen "Ostlandritt" gedacht war. Offenbar haben "die Königsberger" ihre ideologischen Zuträgerdienste geleistet.
Teil 2: Standardisierte Fragen
1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?
Mitläufer waren sie bestimmt nicht, weil dadurch die Positionen, die sie damals vertraten, verniedlicht werden. Als Vordenker kann man sie schlecht bezeichnen, weil es sich ja meistens um jüngere Leute gehandelt hat, über die wir jetzt reden.
Mittäterschaft, ein gutes Stück Mittäterschaft - das könnte man in dieser Schärfe formulieren. Dazu kommt natürlich: Das waren junge, karrieresüchtige Leute, die sozusagen das Recht der Geschichte auf ihrer Seite glaubten und die damals das geschrieben haben, wovon sie wirklich überzeugt waren.
Übrigens eine Anmerkung: Ich kenne nur einen einzigen der älteren Historiker, der sehr offen über sich selbst gesprochen hat. Das war Hermann Heimpel, der gerade durch seinen Wechsel nach Straßburg und durch das, was er dort gelehrt hatte, stark belastet gewesen ist. Das hing wohl damit zusammen, daß Heimpel damals unter Umständen Nachfolger von Theodor Heuss als Bundespräsident hätte werden sollen. Bei dieser Gelegenheit hat er eindeutig zu seiner Vergangenheit Stellung bezogen. Das war aber mithin der einzige Fall, den ich erlebt habe.
2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?
Nein. Das einzige, was dazu hätte führen können, daß wir Verfehlungen als kompensiert betrachten, wäre gewesen, wenn sie sich irgendwann - und dazu gab es genügend Gelegenheiten - klar geäußert hätten: Das und das steht auch auf unserer Lebensliste. Mich bringt am meisten in Rage - auch wenn ich an den Fall Schneider/Schwerte denke -, daß keiner klar zu seinem Verhalten vor 1945 Stellung bezogen oder öffentlich die Hoffnung ausgedrückt hatte, in seinem weiteren Leben dazu beigetragen zu haben, früheres Fehlverhalten zu korrigieren. Ein solches Bekenntnis wäre allenfalls auf ein betretenes Schweigen gestoßen, aber alle Welt hätte dies damals wahrscheinlich schnell vergessen. Erst in der heutigen Zeit kann dies zu einem Skandal führen.
3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?
Für mich ist die NS-Volksgeschichte als Vorläufer der Sozialgeschichte nie relevant gewesen. Wenn die Sozialgeschichte eine Trendsetter-Funktion gehabt hat, dann durch Leute wie Rosenberg und deren Fragestellungen. Wie sich Leute wie Hans-Ulrich Wehler als jahrelanger Assistent Theodor Schieders zu dieser Frage äußern, ist interessanter. Meine Wurzeln liegen woanders, so daß ich dazu nicht weiter antworten muß.
4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?
Eine Kontinuität hat natürlich bestanden. Sie war aber eher verschleiert. Wir haben jetzt gerade in Göttingen so einen Fall. Da gibt es den sogenannten Göttinger Arbeitskreis, der ostorientiert war, was damit zusammenhing, daß Teile der Königsberger in die Göttinger Universität integriert worden sind. Dieser Arbeitskreis sah es als seine Aufgabe an, die Tradition der Königsberger zu pflegen. Erst mit der Zeit hat man entdeckt, daß diese Leute im Grunde weiterhin "Ostlandforschung" im alten Sinne betrieben haben. Und bis in die letzten Jahre haben sie überdies eine politische Rolle gespielt, indem der Staatssekretär Waffenschmidt, der für die rußlanddeutschen Spätaussiedler zuständig war, den Arbeitskreis benutzt und finanziell unterstützt hat.
5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?
Das ist ein Problem, was uns alle betrifft. Sie finden mich da etwas betreten, denn man hätte früher nachsehen, auch ich hätte mich besser informieren können. Ich habe in einem früheren Aufsatz versucht, Interpretationen zu liefern. Gerade der Abschnitt über Wilhelm Mommsen ist mir nicht leichtgefallen. Er war in der Weimarer Zeit der Hoffnungsträger der Historikerzunft, da er sich von den übrigen abgetakelten Bismarckforschern abhob, fiel dann aber im Dritten Reich um. Nach 1945 hat er auch auf mich durch seine Fragestellungen und neue Orientierung anregend gewirkt. Ja, vielleicht war es bei mir wie auch bei vielen anderen Kollegen, die den Leuten, um die es hier geht, nähergestanden haben, eine gewisse Rücksichtnahme, eine Honorierung dessen, was sie nach 1945 geleistet haben.
Es ist zu viel Rücksicht genommen worden auf diese offenen oder verkappten Nazis. Darüber habe ich mich übrigens auch mit Leuten aus dem ehemaligen Widerstand unterhalten. Sie waren es irgendwann leid, sich immer wieder mit der unbestreitbaren Tatsache auseinanderzusetzen, daß noch Nazis unter uns waren. Ein Faktor kommt hinzu, der - wie wir manchmal ein bißchen leichfertig sagen - mit der Lebenslüge der DDR als antifaschistischem Staat zu tun hat. Denn wir in der Bundesrepublik wollten ja auch nicht herumsitzen als diejenigen, die nun alle Nazis gepachtet hatten - was ja so nicht stimmte. Aber das hat natürlich auch ein bißchen zurückgehalten, in solchen Fragen besonders militant vorzugehen.
6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?
Wenn Sie meine Biographie und meine Arbeiten kennen, dann sehen Sie, daß Geschichtswissenschaft geradezu die Aufgabe hat, zur Stabilisierung der Demokratie beizutragen. Selbstverständlich muß die historische Wissenschaft ihren Beitrag leisten. Aber wer das offen sagt, wird immer noch von einem großen Teil der Historiker als jemand angesehen, der nur politische Interessen vertritt. "Reine" Wissenschaft wird immer wieder eingefordert. Ich dagegen finde einen Mann wie Heinrich August Winkler gut, der zwar politisch ein bißchen rechts von mir steht, aber jedenfalls Stellung nimmt und sagt, wo es seiner Ansicht nach langgehen soll. Der Rückzug in den Elfenbeinturm ist im Grunde nur Mimikry, denn das ist für sich ja auch schon eine politische Aussage.
7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?
Ich glaube, das ist eine Frage der Generationenabfolge. Eine junge Generation, Sie zum Beispiel, befaßt sich nun intensiver mit diesen Dingen, die für Sie zugleich neu, überraschend und niederschmetternd sind. Für die Mittleren spielt vielleicht die Vaterfigurfixierung eine Rolle, die sie jetzt, wie sie langsam einsehen, abbauen müssen, da sie nun selbst "Väter" geworden sind. Die Älteren, zu denen ich mich jetzt einmal zähle, wundert eigentlich nichts mehr. Für uns, die wir die Zeit selbst erlebt haben, sind diese Enthüllungen wenig sensationell. Die wichtigsten Impulse bleiben in meinen Augen die Neugier der Jüngeren auf der einen Seite sowie die Vatermord-Situation, in der sich mancher der mittleren Generation wiederfindet.
8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streits in der Historikerzunft?
Ich glaube nicht. "Gibt es dafür Anzeichen?", wäre meine Gegenfrage. Politischen Sprengstoff kann ich nicht erkennen. Innerhalb der Historikerzunft kann ich das nicht abschätzen. So gut kenne ich die Zunft und die internen Grabenkriege nicht. Davon habe ich mich immer ferngehalten, denn ich habe es immer als Zeitverschwendung empfunden, sich untereinander zu bekriegen. Das fand ich nie interessant.
Frau Grebing, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Ort des Interviews: | Willy-Brandt-Haus, Stresemannstr. 28 (Berlin-Kreuzberg) |
Datum: | 19.01.1999, ca. 11.00 bis 13.00 Uhr |
Interviewer/in: | Hacke, Schäfer, Steinbach-Reimann |