Interview mit Wolfram Fischer
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft
in den 1950/60er Jahren"
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Wolfram Fischer, geboren 1928 in Weigelsdorf-Tannenberg
(Schlesien), studierte ab 1947 Geschichte, Philosophie, Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften in Heidelberg, Tübingen, Göttingen und London.
Er promovierte 1951 bei Hans Rothfels in Tübingen über "Das
Fürstentum Hohenlohe im Zeitalter der Aufklärung". 1954 erwarb
er einen weiteren Doktortitel im Fach Wirtschaftswissenschaft mit einer Arbeit
zu "Handwerksrecht und Handwerkswirtschaft um 1800". Seit 1954 wissenschaftlicher
Assistent an der TU Karlsruhe, wurde er 1958 wissenschaftlicher Referent
an der Sozialforschungsstelle der Universität Münster. 1960/61
habilitierte er sich in Heidelberg und Münster bei Erich Maschke und
Walther G. Hoffmann. Anschließend war er zunächst Dozent in Heidelberg
und Münster, bevor er 1963 wissenschaftlicher Rat und Professor in
Münster und 1964 auf den Lehrstuhl für Wirtschafts- und
Sozialgeschichte der FU Berlin berufen wurde, wo er bis zu seiner Emeritierung
im Jahr 1995 lehrte.
Wolfram Fischer lebt heute in Berlin.
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Fischer: "Mein ganzes Leben lang empfand ich bei Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern eine größere Bewegungsfreiheit und geringere Enge als bei Historikern."
Teil 1: Biographische Fragen
Fragen Interviewer/in: Herr Fischer, Sie sind 1928 in Schlesien geboren. Können Sie uns Ihren familiären Hintergrund schildern?
Ich wurde im Mai 1928 in einem kleinen schlesischen Dorf geboren, in dem mein Vater Volksschullehrer war. Das war eine einklassige Schule, in der alle Klassenstufen von eins bis acht unterrichtet wurden, und mein Vater hat sich dann bemüht, in die Nähe der Kreisstadt zu kommen, damit seine Kinder auf höhere Schulen gehen konnten. Denn von diesem Dorf aus wäre das außerordentlich schwierig gewesen - der nächste Bahnhof war eine halbe Stunde entfernt, und von da aus wären es noch etwa anderthalb Stunden Bahnfahrt gewesen. Und das ist der Grund, warum er gegen seine eigene Überzeugung auf den Rat eines guten Freundes, der offenbar ein altes Parteimitglied war, im März 1933 in die NSDAP eintrat. Er war eigentlich überzeugt, daß ein Lehrer keiner politischen Partei angehören solle. Aber der Freund sagte ihm: "Du kommst hier nie weg. Jetzt ist die letzte Gelegenheit - Du mußt in die Partei eintreten." Er hat es später bereut, aber hat immer gesagt, aus eigenem Antrieb hätte er es nie getan. Er habe es wegen der Kinder getan. Das ist schon ein guter Hinweis auf die vielen Motive, die es in dieser Zeit gab. 1934 wurde mein Vater Schulleiter in dem damals noch großen Industriedorf Peterswaldau, bekannt durch die schlesischen Weber, in dem es mehrere Fabriken gab. Wir hatten dann nur noch zehn Minuten Bahnfahrt zur Kreisstadt, und 20 Minuten mußten wir dann laufen und sind im Sommer auch oft mit dem Fahrrad zur Schule, ins Gymnasium, gefahren. Ich bin mit zehn Jahren in dieses Gymnasium gekommen. Ich hatte drei Geschwister und war selbst das dritte Kind. Meine ältere Schwester kam 1934 schon aufs Lyceum, wie es damals hieß, nach Reichenbach in Schlesien und war da bis 1942. Irgendwann, ich weiß nicht, ob es 1942 oder schon etwas früher war, im Alter von 13 oder 14 Jahren, sah ich in einer Zeitschrift, daß es die Möglichkeit gab, in einer "Nationalpolitischen Erziehungsanstalt" Segeln oder Segelfliegen zu lernen. Darauf habe ich offensichtlich aus dieser Zeitschrift ein Bewerbungsschreiben ausgefüllt. Meine Eltern waren doch recht unglücklich, als dann die Zulassung kam, nachdem ich dort eine Aufnahmeprüfung abgelegt hatte, haben mir aber nichts in den Weg gelegt. Ich habe gewählt zwischen Köslin in Pommern, wo man Segeln konnte, und Rottweil am Neckar in Württemberg, wo man Segelfliegen lernen konnte. Ich entschied mich für Rottweil, denn ich hatte mir das auf der Karte angeschaut, und das war auch eine Mittelgebirgsgegend, so wie ich sie von zu Hause kannte, während mir das flache Land in Köslin doch sehr unbekannt war. Hinzukam, daß der Bruder meines Vaters dort häufiger zu tun hatte und uns sagte, daß es eine sehr schöne kleine Stadt sei und er sich dort ein bißchen um mich kümmern könne. Und dann bin ich 1942 im Alter von 14 Jahren dorthin gekommen. Die meisten meiner Schulkameraden waren Schwaben aus der näheren Umgebung. Im Unterschied zu mir waren sie von ihren Eltern geschickt. Mein Vater war ein sehr toleranter Mensch, meine Mutter wollte natürlich nicht, daß ich so weit weg ging. Ich weiß eigentlich bis heute nicht genau, ob es Auseinandersetzungen gab. Man hat es jedenfalls toleriert.
Hatten Ihre Eltern politische Bedenken?
Ja, meine Eltern waren christlich-konservative preußische Kleinbürger. Sie stammten zwar aus Breslau, aber sie kamen aus einfachen Verhältnissen. Mein Vater selber hatte seinen Vater als Kind verloren und war mit vier Geschwistern als Halbwaise aufgewachsen. Er hatte ein Stipendium für ein Lehrerseminar bekommen, war dann im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden. Eigentlich war er ein begeisterter Landschullehrer und wäre das am liebsten auch geblieben. Aber meine Mutter hatte den Ehrgeiz, daß er auch ein bißchen vorankäme. Denn ihr Vater wiederum, der aus sehr kleinen Verhältnissen in dem Weberort Langenbielau gekommen war, hatte etwas ähnliches wie ich gemacht. Er war im Alter von 18 Jahren ausgebüchst, nach Potsdam gegangen und ein sogenannter Zwölfender geworden, d.h. er war in die preußische Armee eingetreten und Unteroffizier geworden - sozusagen aus dem Nichts, ohne jede Voraussetzung und wurde dann, wie das üblich war vor dem Ersten Weltkrieg, nach Ende der aktiven Dienstzeit kleiner Beamter und hat sich dann hochgearbeitet bis zum, heute würde man wahrscheinlich sagen: Oberamtmann. Der Horizont, in dem ich aufwuchs, war also ziemlich eng, und ich kann mich sehr gut erinnern, daß ich mich im Grunde in der Schule gelangweilt habe und daß das ein wesentlicher Grund war, mich an der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt zu bewerben.
Was hat Sie an der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt besonders beeindruckt?
Der Sport. Man konnte vom Boxen bis Segelfliegen alle Sportarten dort betreiben: Leichtathletik, Fußball, Handball, Skifahren. Skifahren hatte ich schon als Kind gelernt, da wir am Rande des Eulengebirges aufwuchsen. Und sonst war die Schule nicht sehr viel anders, die Ansprüche in Latein fand ich sogar höher. Es war eine Heimschule. Später habe ich dann erfahren, daß einige der Lehrer überhaupt nicht in der Partei waren. Denn als Student habe ich unseren Physiklehrer wiedergetroffen und war erstaunt, daß er wieder angestellt war - als Studienrat oder Oberstudienrat. Dann habe ich ihn darauf angesprochen, und er sagte mir, daß er ja nicht in der Partei gewesen sei. Ich fragte: "Wie kamen Sie dann an die NaPoLa?" und da antwortete er: "Ja, der Direktor Hoffmann hat mich interviewt, und ich habe gesagt, ich bin nicht in der Partei. Und darauf entgegnete er, daß er keinen Parteigenossen, sondern einen Physiklehrer suche." Den Direktor selber fand ich sehr autoritär. Der war auch nach 1945 viele Jahre aus der Schule entfernt, ist aber später wieder eingestellt worden und sogar wieder Direktor geworden.
Da im Krieg nach und nach die älteren Jahrgänge eingezogen wurden, blieben nur wir Jüngeren ab Jahrgang 1928 zurück und mußten die ganz jungen Zehn- und Elfjährigen betreuen. Das war eigentlich ab 1943 oder 1944 meine Tätigkeit, denn Schule fand kaum mehr statt. Die anderen aus meiner Klasse, bis auf drei oder vier, waren entweder beim Militär oder bei der Flak. Der Jahrgang 1927 war Flakhelfer, der Jahrgang 1926 war beim Militär. Wir wurden aufgeteilt, um die Kleinen zu betreuen, denn die Lehrer waren auch großenteils eingezogen worden. Zu Weihnachten 1944 bin ich das letzte Mal nach Schlesien zu meinen Eltern gefahren. Die Züge waren nicht nur überfüllt, sondern fuhren große Umwege, weil ganze Bahnstrecken bombardiert worden waren. Und auf diese Weise kam ich das erste Mal nach Berlin zum Umsteigen. Die kürzere Strecke über Dresden war blockiert. Und während ich bei meinen Eltern war, bekam ich meine Einberufung zum Reichsarbeitsdienst nach Österreich. So bin ich im Januar 1945 für drei Monate in den Reichsarbeitsdienst gegangen, wo wir eigentlich nichts anderes lernten als Schießen, was wir ohnehin konnten, weil wir es als Sport in der Schule gelernt hatten. Ich habe mir da die Füße erfroren und kann mich vor allem daran erinnern, daß die Tage kalt, aber sonnig, die Nächte außerordentlich kalt waren.
Wie endete Ihre Zeit beim Reichsarbeitsdienst?
Das dauerte bis März oder sogar bis Anfang April, und dann kam ich wieder nach Rottweil, wo ich den Einberufungsbefehl zum 20. April 1945 zur Waffen-SS nach München-Freimann erhielt.
Ich hatte noch gehört, daß meine Eltern und Schwestern im März Schlesien verlassen mußten. Mein zweieinhalb Jahre älterer Bruder war in Rumänien verwundet worden. Ich erfuhr erst später, was mit ihm geschehen war. Er ist dann in Bulgarien im Lazarett gepflegt und anschließend von den Russen nach Stalino geschafft worden, wo er bis kurz vor Weihnachten 1945 im Bergwerk arbeiten mußte. Zu Weihnachten 1945 konnte das schwedische Rote Kreuz von 2000 Kriegsgefangenen zwei mitnehmen, die in der schlechtesten gesundheitlichen Verfassung waren - und mein Bruder hatte einen Kopfschuß erlitten. So ist er noch vor Weihnachten 1945 als einer der ersten aus russischer Kriegsgefangenschaft freigelassen worden, hat erst versucht, nach Schlesien zu kommen, wurde aber von Polen aus dem Güterzug geholt, verprügelt und zurückgeschickt. In Berlin-Wannsee hatten wir eine Tante, zu der fuhr er dann und erfuhr, daß wir in einem württembergischen Dorf Zuflucht gefunden hatten. Dort tauchte er dann, schwer traumatisiert, kurz vor Weihnachten auf.
Ich selbst bin am 18. oder 19. April per Anhalter nach München gefahren. Ich erinnere mich ganz genau, daß einige der Soldaten - es waren alles militärische Fahrzeuge - mir sagten, daß ich doch verrückt sei, jetzt noch dem Einberufungsbefehl zu folgen. Ich solle mich doch in die Büsche schlagen. Und andere sagten: "Seid ihr verrückt, dem Jungen das zu raten? Wenn die SS ihn findet, hängt sie ihn auf!" Das war die Situation, in der man sich befand - ich war 16 Jahre alt. Und ich muß sagen, für mich war es eigentlich selbstverständlich, daß ich der Einberufung folgte. Wäre ich zu Hause gewesen und hätte den Rat der Eltern gehabt, hätten sie wahrscheinlich gesagt, daß es doch keinen Sinn mache, dorthin zu gehen - obwohl sie sehr preußisch pflichtbewußt waren. Aber die Situation war nicht gegeben. Ich hatte niemanden, an den ich mich hätte wenden können.
Also bin ich nach München gegangen, wo ich noch einmal zehn Tage Ausbildung hatte. Am 30. April 1945 kam der Befehl: "Raus aus der Kaserne! Vorne in die Löcher!", die wir schon ausgehoben hatten, "die Amerikaner sind da!" Am 30. April sind die Amerikaner gekommen und wurden offenbar von der hinter uns liegenden Artillerie oder Flak beschossen. Die Panzer schossen zurück und rückten langsam vor, stoppten aber kurz vor unseren Löchern. Rings um mich herum nichts als Tote.
Ich habe nur überlebt, weil ich offenbar sehr reaktionsschnell war und, als die amerikanischen Panzer schossen und einen Baum direkt vor mir trafen, mich so in mein Loch duckte, daß der Baum über mich fiel und ich nur Streifverletzungen hatte - auch einen Streifschuß, der aber nur an der oberflächlich war.
In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai kam ein Unteroffizier, der mir sehr kriegserfahren vorkam, denn er war in Rußland gewesen und sein Alter dürfte etwa 20 Jahre alt gewesen sein, und holte die wenigen Überlebenden aus ihren Löchern. Er sagte: "Seht zu, daß ihr so schnell wie möglich über die Isar kommt - auf die andere Seite, da sind die Amerikaner noch nicht - und euch Zivilkleider verschafft. Und ab nach Hause!" Ich habe das auch gemacht, unter Lebensgefahr: Wir sind in der Nacht über eine zerschossene Brücke über die Isar gehangelt - es schneite. Wir hatten unsere Brotbeutel und unsere Gewehre dabei, die wir bald abwarfen, damit wir leicht genug waren und uns nicht die Kräfte verließen. Sehr früh am Morgen - es war ein vornehmes Viertel in München auf der anderen Seite der Isar - ich weiß nicht, ob ich geklopft oder geklingelt habe oder ob mich jemand gesehen hat, jedenfalls kam eine Frau aus einem Einfamilienhaus heraus und gab mir die Zivilkleidung ihres Mannes, der im Krieg war. Damals war die Solidarität in dieser Hinsicht sehr sehr groß. Jeder hoffte, daß Väter, Brüder, Söhne, Ehemänner möglichst bald aus dem Krieg zurückkommen würden.
Wenig später standen Amerikaner da, packten mich am Wickel und luden mich auf einen Jeep, und am Ostbahnhof in München wurde ich in Kriegsgefangenschaft genommen. Ich habe mein Tagebuch weggeworfen. Das war noch mein einziges Besitztum. Ich war dann in Gefangenschaft, wurde abtransportiert. Während des Transports bin ich vom Lastwagen heruntergesprungen, als er mal sehr langsam war. Ich konnte mir nicht vorstellen, in meiner Freiheit beeinträchtigt zu werden. Ein ganz wichtiges Gefühl, das ich hatte: "Gefangenschaft - nein, nicht mit mir!"
Und dann kam noch etwas hinzu - vielleicht das Erstaunlichste an diesem Tag: Ich habe mich in einen Graben gelegt und gewartet bis die Lastwagen weg waren. In einem kleinen Bauern- oder Siedlungshaus war das beobachtet worden. Da kam eine Rotkreuz-Schwester in ihrer Tracht heraus und neben ihr jemand mit geschorenen Haaren, in einer Uniform, die ich noch nie gesehen hatte, die aussah wie ein Schlafanzug - es war ein Pole, der am Tag zuvor aus dem KZ Dachau entlassen worden war. Die Krankenschwester machte sich offenbar Sorgen, was er jetzt mit mir machen würde. Und ich werde nie vergessen: Er gab mir seine amerikanische Reisportion während er zu der Krankenschwester sagte: "Ich sehe doch, daß das ein Junge ist." Es war offenbar ein polnischer Lehrer, der im KZ Dachau gewesen war. Es wäre ja naheliegend gewesen, daß er sich den deutschen Soldaten gefaßt hätte. Das werde ich nie vergessen!
Dann ging ich mit in die Küche, um mich zu waschen. Ich hatte noch den Dreck des Gefechts vom Vortag in meinem Gesicht: Schürfwunden und Schmutz.
Und hat man Sie gefragt, woher Sie kamen?
Nein, das war offensichtlich, daß hier jemand ausgebüchst war.
Man hat Sie da selbstverständlich aufgenommen?
Die Rotkreuz-Schwester war offenbar die Tochter des Hauses. Vielleicht hat sie auch in Dachau gearbeitet, das weiß ich gar nicht, das Lager war nur zehn oder 15 Minuten entfernt. Ich weiß nur, daß sie mir helfen wollte und daß dieser Pole mitkam, der möglicherweise in ihrem Hause einquartiert war. Sie hatte Sorge, daß der Pole mir etwas antut, und wollte ihm gut zureden. Nicht, daß er mich geschlagen hätte, sondern daß er vielleicht dafür sorgen könnte, daß ich wieder verhaftet würde. Aber er hat gesagt: "Ich sehe doch, daß das ein Kind ist."
Dann bin ich eine Woche lang zu Fuß durch den Allgäu marschiert, habe in Bauernscheunen geschlafen. Da gab es viele streunende Soldaten, die auf dem Heimweg waren. Die bekamen immer etwas zu essen und zu trinken und eine Schlafstätte in der Scheune. Und wir sind nach Möglichkeit keine Wege gegangen, auf denen man andere traf. Dann mußte ich aber doch durch eine Stadt, das war Landsberg am Lech. Da fiel mir ein, daß ich gelernt hatte - und das wußte ich selbstverständlich -, daß dort "unser Führer" "Mein Kampf" geschrieben hatte. Und wie ich dort gerade so nachdachte, hielt hinter mir ein Jeep, amerikanische Soldaten sprangen heraus, haben mich vorne auf die Kühlerhaube gesetzt und in ein Gefangenenlager gesteckt. Das war eine große umzäunte Wiese im Allgäu. Mein erster Gedanke war wieder: "Nichts wie weg!" Als es dunkel wurde, habe ich mich in eines der Zelte begeben, das ganz am Rande stand, habe mich ein bißchen umgehört und gesagt, daß ich die Idee habe, wegzurennen. Einer erzählte mir, daß hinter dem Hügel ein Bauernhof sei, auf dem er gearbeitet habe.
Vielleicht habe ich "Sie" zu ihm gesagt, vielleicht auch "Du": "Und da sind Sie noch hier?!" Ich kann mich gut erinnern, wie er sagte: "Ich war drei Jahre in Rußland, jetzt werde ich mich doch nicht erschießen lassen. Länger als zwei Jahre kann das nicht mehr dauern." Ich bin dann trotzdem nachts ausgebüchst, unter dem Stacheldraht durchgekrochen und landete einige Tage später in der Nähe von Rottweil, in Tuttlingen, wo die Eltern eines Schulkameraden lebten, der noch nicht zu Hause war. Dort schlief ich in der Nacht vom 8. zum 9. Mai zum ersten Mal wieder in einem Bett. Irgendwann, kurz vor Mitternacht, bin ich furchtbar erschrocken und dachte, daß der Krieg wieder losginge. Da kamen die Eltern und sagten: "Keine Angst, keine Angst, das ist das Freudengeschieße der Franzosen, der französischen Besatzung. Waffenstillstand!" Und da das auch die Nacht vor meinem 17. Geburtstag war, habe ich diese Nacht nie vergessen.
Jedenfalls ging ich dann weiter nach Schwenningen und wurde kurz davor noch einmal von einem französischen Soldaten aufgegriffen. Der hat mich in Schwenningen in die Mauthe-Villa gebracht - Mauthe war einer der Uhrenfabrikanten von Schwenningen -, dort saß der Stadtkommandant. Es war gerade Mittagspause, und die Franzosen nehmen ja ihre Mittagspause sehr wichtig. Der Stadtkommandant ließ sich nicht stören, und wir saßen im Vorzimmer, im Sekretariat des Uhrenfabrikanten. In der Garage vorne saßen die Wachsoldaten und aßen auch. Ab und zu schaute mal jemand nach mir, bis ich merkte, daß immer zwei Minuten vergingen. Und als das sechste oder siebente Mal die zwei Minuten vergangen waren, dachte ich: "Jetzt oder nie!" Ich bin einfach rausmarschiert. Vor dem Tor stand auch ein Wachsoldat - mit weißen Handschuhen. An dem bin ich ganz ruhig vorbeigegangen, und als ich um die Ecke der Gartenmauer war, bin ich gerannt. Das war das dritte Mal, daß ich die Gefangenschaft verlassen habe. Ich war nun dreimal Kriegsgefangener, zweimal bei den Amerikanern, einmal bei den Franzosen - aber insgesamt nicht mehr als 24 Stunden. Das ist etwas, was einem, wenn man älter wird, wieder einfällt, nachdem man es jahrelang vergessen hatte.
Und wie ging Ihre schulische Laufbahn weiter?
Ich marschierte von Schwenningen weiter nach Schramberg im Schwarzwald und wurde zunächst von einer kinderreichen Arztfamilie aufgenommen, die mich zu einem Vetter in den Schwarzwald schickte. Er war Bauer, so daß ich dort Arbeit, Verpflegung und Unterkunft fand. Sonntags habe ich mir immer Bücher aus Schramberg, wohin es ein langer Fußmarsch war, geholt. Ich habe sehr viel gelesen, z.B. Thomas Manns "Buddenbrooks", auf dem Bauernhof geholfen und gehofft, daß die Schule bald wieder losginge, die ich dann in Schramberg besuchen sollte.
Ehe das aber soweit war - den ganzen Herbst gab es noch keine Schule, auch nicht in der französischen Zone, obwohl sie da am ehesten losging -, sah ich eines samstags spät nachmittags auf einmal meine Schwester das Tal hoch kommen. Ich weiß noch genau, was ich gedacht habe: "Die paßt doch überhaupt nicht in die Landschaft." Sie war dort nie gewesen, ich kannte meine Familie nur aus Schlesien.
Meine Schwester war damals gerade 21 und hatte sich auf den Weg gemacht, mich zu suchen, nachdem meine Eltern und Schwestern mit einem Flüchtlingszug gerade eben noch aus der Tschechoslowakei nach Marktredwitz in Bayern gekommen waren. Sie hatte die Adressen meiner Rottweiler Klassenkameraden und ist von einer zur anderen mit dem Fahrrad gefahren, bis sie mich gefunden hatte - ein 21jähriges Mädchen in dieser unsicheren Zeit, in der viele "displaced persons" herummarodierten und ihre neugewonnenen Freiheiten für Mord und Raub nutzten, wovon ich auch noch einiges erlebte.
Wir sind am nächsten oder übernächsten Tag los - alles per Anhalter -, bis zur württembergisch-bayerischen Grenze. Ich hatte mir von den französischen Behörden einen Passierschein geben lassen. Deutsche durften damals nicht weiter als im Umkreis von 30 km reisen. Auf dem Passierschein stand auf französisch, ich hätte das Recht zu meinen Eltern nach Schlesien zu reisen. An der württembergisch-bayerischen Landesgrenze nahmen amerikanische Soldaten die Grenzkontrollen vor. Die kontrollierten, daß nicht geschmuggelt wurde, daß die Leute ihre Passierscheine hatten und alles das. Sie winkten mich vom Lastwagen runter. Meine Schwester durfte weiterfahren: Sie hat einen Moment überlegt, ob sie absteigen sollte. Ich sagte, sie solle weiterfahren und den Eltern Bescheid sagen, wo ich stecke. Ich wurde ins Gefängnis von Forchheim eingeliefert, es war nämlich Wochenende. Der diensthabende Offizier war nicht da, und die Soldaten konnten den französischen Passierschein natürlich nicht lesen. Da habe ich das Wochenende im Gefängnis verbracht, und am Montag früh um acht oder neun wurde ich dem Offizier vorgeführt. Der sprach ganz nett Deutsch und freute sich, daß ich ganz gut Englisch konnte. Und nachdem wir uns ein bißchen unterhalten hatten, hat er mir einen Passierschein ausgestellt und mir viel Glück gewünscht. So kam ich zu meinen Eltern. Das war alles im Herbst 1945. Marktredwitz war von Flüchtlingen überfüllt, und es gab sehr wenig zu essen. Ich benutzte meine Rottweiler Bekanntschaften, in diesem Falle nicht die von Mitschülern, sondern zu einem der Lehrer, dessen Schwester als Pfarrfrau in Waldbach, einem Dorf im Hohenlohischen Kreis Öhringen, lebte. Der Pfarrer selber war noch in Kriegsgefangenschaft. Wir waren die ersten Flüchtlinge in dem Dorf, kamen auf eigene Faust und wurden sehr freundlich empfangen von dieser Pfarrfrau. Wir wohnten eine Weile in dem Pfarrhaus, und meine Schwester und meine Mutter mußten das große Pfarrhaus mit versorgen - das war ja alles Selbstversorgung -, ein großer Garten, Obst, Gemüse. Und die Frau des Pfarrers hatte mehrere kleine Kinder und mußte, weil ihr Mann nicht da war, seelsorgerische Tätigkeiten ausüben: Sie war froh, daß sie Hilfe im Haushalt hatte. Anschließend haben wir im Dorf eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung gefunden. Auf Drängen meiner Eltern habe ich eine Lehre als Gärtner in der nächsten Kreisstadt, nämlich Öhringen, begonnen. Ich bin diese sieben oder acht Kilometer mit dem Fahrrad gefahren. Ich habe aber gemerkt, daß es nicht unbedingt das ist, was ich machen wollte. Es war wohl meine Mutter, die immer etwas romantische Vorstellungen hatte und wie viele der Meinung war, die Deutschen könnten in Zukunft nur noch als Bauern, Gärtner und Handwerker leben, andere Berufe werde es nicht mehr geben. In der Adventszeit band ich viele Adventskränze, hielt aber meine Ohren offen und hörte, daß in der französischen und dann auch in der amerikanischen Zone die Schulen wieder aufgemacht würden. Da habe ich gesagt, daß ich wieder in die Schule gehen will. Warum ich aber nicht dort in die Schule gegangen bin, sondern in Böblingen/Württemberg in der Nähe von Stuttgart, weiß ich nicht mehr genau. Dort wohnte jedenfalls auch ein Rottweiler Mitschüler, dessen Eltern mich zwar nicht aufnehmen konnten, aber ich bekam in Sindelfingen ein kleines Zimmer bei einer Witwe, wie das so üblich war, wie "Studentenbuden" eben waren, und habe dort in ganz kurzer Zeit mein Abitur gemacht - von Januar bis Juni 1946. Wir wurden vor allen Dingen in Deutsch, Englisch, Mathematik und ich glaube Latein unterrichtet. Ich weiß jedenfalls, daß wir in einem Fach nicht unterrichtet wurden, da durften wir nicht unterrichtet werden, das war Geschichte. Geschichte war verboten - und zwar, weil man den Lehrern nicht traute und weil die Schulbücher "nazifiziert" waren.
Nach dem Abitur begann meine akademische Laufbahn damit, daß ich mich an zwölf Universitäten im Westen und in Jena beworben habe und nichts als Ablehnungen bekam. Denn bevorzugt wurden damals ältere Kriegsteilnehmer zugelassen oder aber diejenigen, die im Krieg schon an der Universität gewesen waren - hauptsächlich Frauen, die ihr Studium fortsetzen durften, weil sie es schon begonnen hatten. Die neu Zugelassenen waren vor allem solche, die viele Jahre durch den Krieg verloren hatten. Die Universität Heidelberg hat mich dann über ihre Vorsemesterkurse informiert. Diese führten diejenigen, die nur ein "Kriegsabitur" hatten, zu einem regulären Abitur, und danach hätten mindestens die, die ein gutes Resultat erzielten, Chancen, sich an der Universität Heidelberg immatrikulieren zu dürfen. Ich hatte zwar das reguläre Abitur, aber es war ein "Nachkriegsabitur", und jeder wußte, daß ich von 1943-45 keinen Unterricht besucht hatte. Alle wußten, das ist zwar ein reguläres Abitur, aber da sind große Lücken drin, die ich übrigens bis heute noch spüre. Ich hatte, glaube ich, mittelalterliche Geschichte bis zu Karl dem Großen, dann hörte es auf.
Ich habe dann diesen Vorsemesterkurs in Heidelberg besucht, bin vom Dorf Waldbach immer nach Heidelberg gefahren, habe dort wieder ein kleines Zimmer bezogen. Die Eisenbahnbrücke über den Neckar - über Heilbronn - war noch zerstört, so daß wir immer aus dem alten Zug aussteigen und mit der Fähre auf die andere Neckarseite fahren mußten, und ein anderer Zug brachte mich nach Heidelberg. Ich habe das Vorsemester absolviert mit genau denselben Fächern: Deutsch, Englisch, Latein und Mathematik - das waren die Kernfächer - und habe auch immer ein gutes Ergebnis dabei erzielt. Ab dem Wintersemester 1947/48 durfte ich dann in Heidelberg studieren. Ich bin in Heidelberg in ein Studentenwohnheim, das Collegium Academicum, gezogen. Das lag direkt neben der Universität in einem ehemaligen Jesuitenstift, das nun als Studentenwohnheim verwendet wurde, auch mit dem Zwecke der Erziehung der Studenten zu Demokratie und Selbstverwaltung, ein bißchen in der Tradition der deutschen 20er Jahre, etwas jugendbewegt, was auch an dem damaligen Direktor lag, einem kommunistischen, jugendbewegten Germanisten.
Wie kamen Sie auf die Geschichtswissenschaft?
Ich wollte Lehrer werden, und Geschichte, Deutsch, Englisch und Sport interessierten mich. Die vier Fächer habe ich angefangen zu studieren. Sport habe ich bald aufgegeben aus dem ganz einfachen Grund, daß ich nicht genug zu essen hatte. Die meisten Sportstudenten stammten aus der Umgebung von Heidelberg und brachten von zu Hause - von den Bauernhöfen oder Verwandten - Butter- oder Schmalzbrote mit. Ich habe es physisch einfach nicht durchgehalten. Zum Schwimmtraining oder ähnlichem war ich körperlich nicht in Lage. Hinzu kam, daß diese Sportstudenten nichts anderes als Sport im Kopf hatten, und ich hatte so viele Interessen. Deutsch war eigentlich immer mein Lieblingsfach gewesen, und ich dachte eigentlich daran, Deutschlehrer zu werden - mein Lieblingslehrer war auch der Deutschlehrer gewesen. Bei Paul Böckmann, das war ein Professor, der sehr in der deutschen Tradition der tiefsinnigen Germanistik stand und in unverständlichen Worten bedeutende Sachen oder auch unbedeutende Sachen in bedeutenden Worten vortrug, merkte ich aber sehr bald, was mir nicht so lag.
Ich habe dann einen anderen Deutsch-Professor gehabt, den ich auch persönlich kennengelernt habe, der ganz reizend war, Reinhard Buchwald. Der war Honorarprofessor und nicht habilitiert. Er war Leiter der thüringischen Volkshochschulen gewesen und war schon 1930 von Frick, einem der ersten nationalsozialistischen Landesminister, entlassen worden. Er war, glaube ich, Sozialdemokrat. Und das war ein ganz reizender Mensch, von dem ich viel gelernt habe. Er lud mich auch in seine große Wohnung in der Altstadt von Heidelberg ein, die voll von Büchern war. Er hatte eine zweibändige Schillerbiographie geschrieben, die damals sehr populär war, weil sie jeder verstehen konnte. Sein Credo war: "Wir Germanisten haben doch das Glück, das, was andere in ihrer Freizeit tun, beruflich tun zu dürfen. Und wir sind verpflichtet, denen, die das nur in ihrer Freizeit tun können, Literatur nahe zu bringen!" Das war ganz weit weg von dieser etwas verschrobenen Sprache der wissenschaftlichen Germanistik, die damals noch vielfach üblich war, hat mich aber überzeugt.
Ich war als Erstsemester noch relativ naiv und tat mich schwer mit literaturwissenschaftlichen Referaten. Geschichte aber war etwas anderes: Der Lehrstuhl für Neuere Geschichte war nicht besetzt, da Willy Andreas entlassen worden war. In Mittelalterlicher Geschichte hörte ich bei Fritz Ernst, der zu den Professoren gehörte, die nicht entlassen worden waren. Er war auch der erste oder zweite Nachkriegs-Rektor von Heidelberg. Er war zwar kein bedeutender Gelehrter, wie ich später erfuhr, aber ein großer Didaktiker. Er konnte Anfangssemestern sehr gut die wesentlichen Aspekte der Geschichte beibringen und war einer derjenigen, die Geschichte in Auswahl betrieben, also nur das lehrten, was sie für wichtig hielten. So behandelte er etwa den Investiturstreit mit Hilfe ausgewählter Quellen lateinisch-deutsch und umgekehrt.
Bei ihm machte ich meine erste sogenannte Fleißprüfung, die man machen mußte, wenn man von den Studiengebühren, die damals noch üblich waren, freigestellt werden wollte, worauf ich als Flüchtlingskind rechnen konnte. Und er fragte mich dann in der Prüfung hauptsächlich danach, wie ich mich als Flüchtlingskind so durchs Leben schlug. Einige Wochen später erhielt ich mein "Fleißzeugnis".
Ich erinnere mich auch an die erste Care-Sendung von Amerikanern, die an Heidelberger Studenten vergeben wurden. Ernst wählte mich aus. Ich erhielt eine grüne Hose.
Der Lehrstuhl für Alte Geschichte war von Hans Schaefer aus Breslau besetzt. Er trug immer einen dunkelblauen Anzug: Sein Arbeitstisch stand in der Seminarbibliothek, wo er unter den Studenten saß. Das Besondere an ihm, der eine sehr eindrucksvolle Vorlesung über griechische Geschichte hielt, war, daß er sich mehrmals korrigierte, d.h. er ergänzte oder kommentierte Gesagtes in der nächsten Woche mit neuen Forschungsergebnissen, die er selbst nachtrug. Das hat mir sehr imponiert. Ihn hätte ich mit Sicherheit näher kennengelernt, wenn ich nicht so bald nach Tübingen gegangen wäre.
Mich interessierte Neuere Geschichte sehr, und da es keinen Professor hierfür gab, kam als Vertreter Otto Vossler aus Frankfurt, den ich sehr trocken und eintönig fand. Er war nicht der große Didaktiker wie Ernst und hatte nicht dieselbe Bildung wie Schaefer, was die Welt der Antike betraf. Er lehrte nur politische Geschichte. Fasziniert hingegen war ich von einigen anderen Professoren, wie zum Beispiel Karl Jaspers, der seine Vorlesungen in der Aula hielt und wo viel Stadtpublikum - vor allem die Damen von Heidelberg - saß. Er entwickelte seine Philosophie vor einem großen Publikum und zeigte dabei eine gewisse Eitelkeit, was mich etwas störte. Dennoch hatte man das Gefühl, daß sich dort die geistige Welt öffnete. Er hielt sein Proseminar in seiner Wohnung ab und rief jeden einzelnen Studenten zu sich, ehe er ihn zuließ. Dennoch bestand zwischen ihm und uns eine große Distanz.
Es gab dann noch einige andere dieser Generation wie z.B. den Juristen Gustav Radbruch, der zur SPD gehörte - die Parteipolitik allerdings außen vor ließ - und der auch rhetorisch eine große Figur war. Durch ihn eröffneten sich mir neue Horizonte. Er behandelte Themen wie die Französische Revolution in bezug auf Grundrechte, Völkerrecht, aber auch Strafrecht. In diesem Zusammenhang erörterte er Fragen, ob beispielsweise der Staat die Gesellschaft durch Bestrafung von Verbrechern schützen kann, was ja nicht nur ein juristisches und politisches, sondern auch ein moralisches und praktisches Problem ist.
Mit welchem Interesse studierten Sie Neuere Geschichte und wie kamen Sie schließlich nach Tübingen?
Mir fehlte noch die Neuere Geschichte, also las ich viel in der Bibliothek und entdeckte dabei einen Autor: Rudolf Stadelmann. Im Sommersemester 1949 wechselte ich von Heidelberg nach Tübingen. Tübingen war nun in der französischen Zone, da herrschten andere Gesetze, d.h., daß jeder Student sich einer politischen Aufnahmeprüfung unterziehen mußte. Man wurde vor ein Komitee geladen, bestehend aus drei Personen, darunter ein Theologe, der uns scharf ins Visier nahm. Sie fragten mich über die 'Napola' aus, auf die ich gegangen war, und ich dachte schon, damit sei alles vorbei. Dann gab es eine kleine Beratung, und mir wurde gesagt, ich dürfe studieren, weil ich ehrliche Antworten gegeben habe. Zunächst - so schien es mir - hatte keiner so recht geglaubt, daß ich wegen des Segelfliegens dorthin gegangen sei. Die Lehrer fragten mich hinterher ebenfalls aus.
Jedenfalls kam ich dann nach Tübingen für ein Semester zu Stadelmann. Tübingen hatte nicht sehr viele Studenten, ca. 3000, aber das Seminar Stadelmann war überfüllt. Daher mußten wir schon damals Referatsgruppen bilden, in denen wir dann zu fünft waren. Das war eine Notlösung. Thematisch ging es um das Verhältnis zwischen Bismarck und Parlament. Ich hielt ein Referat über die Zuchthausvorlage, wodurch ich auffiel. Im übrigen hielt Stadelmann dort eine brillante Vorlesung über das Zeitalter des Imperialismus. Davor hatte er über die 1848er Revolution gesprochen und darüber soeben ein Buch veröffentlicht. Das ist noch heute eine vorzügliche Lektüre im Unterschied zu der gleichzeitig erschienenen Geschichte von Wilhelm Mommsen. Stadelmann hatte in die politische Historie die Sozialgeschichte hineingebracht. Ich hatte ein großes Interesse an dieser Richtung, und - ich weiß nicht warum - ich las zu jener Zeit sehr viel über den schwäbischen Pietismus. Vielleicht weil meine Mutter ein bißchen pietistisch angehaucht war. Nun hatte Stadelmann die Gewohnheit, jede Woche ein oder zwei Studenten aus seinem Seminar zu sich zum Mittagessen einzuladen. Nebenbei bemerkt, verkörperte er für mich das Wirtschaftswunder, da er für seine sechsköpfige Familie soeben ein Haus gebaut hatte und mit siebenundvierzig Jahren noch Motorrad fuhr. Wir unterhielten uns also beim Essen, und er erzählte mir, daß er im Begriff sei, etwas über die Sozialgeschichte des Handwerks zu schreiben. Von da an entwickelte sich eine Art von wissenschaftlicher Beziehung, da ich ihm aus meiner Lektüre Interessantes mitteilen konnte. Auch Stadelmann wurde von vielen für eitel gehalten - was er zweifellos war -, aber mich faszinierte seine präzise und engagierte Art, in der er Vorlesungen und Seminare abhielt, Fragen stellte und Studenten einbezog. Demnach würde ich Stadelmann als meinen eigentlichen Lehrer bezeichnen.
Nach dem einen Semester, das ich bei ihm studiert hatte, sprachen wir über eine Dissertation. Wie ich zu meinem Thema kam? Es war bei ihm üblich, einmal jährlich Exkursionen zu veranstalten, und so trafen wir uns in Schwäbisch Hall und fuhren - er mit seiner Frau auf dem Motorrad und wir auf Fahrrädern - durch das Hohenlohesche Land zum Fürsten von Hohenlohe-Langenburg.
Stadelmann schrieb damals an einer Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, und dieser Fürst zu Hohenlohe-Langenburg war einer der letzten, der 1938 auf eigene Initiative versucht hatte, den Frieden durch Verhandlungen mit England zu sichern. Im Rahmen dieser Exkursion sollten wir ihn nun dazu interviewen und besuchten bei dieser Gelegenheit auch das Hohenlohesche Archiv in Öhringen. Aus ganz pragmatischen Gründen, da ich kein Geld hatte, um in Rom oder Paris zu arbeiten, schlug ich Stadelmann - nach dem Einblick in die überschaubaren Akten - vor, über das Fürstentum Hohenlohe im Zeitalter der Aufklärung, die mich auch aus philosophischen Gesichtspunkten interessierte, zu arbeiten. Er stimmte sofort zu. In den Semesterferien 1949 begann ich dann, obwohl ich erst vier Semester studiert hatte, nach heutigen Regeln also gerade reif für eine Zwischenprüfung gewesen wäre, an meiner Dissertation zu arbeiten. Als ich eines Abends im Archiv saß, kam plötzlich der Archivar und sagte bestürzt, daß Professor Stadelmann an einem Hirnschlag gestorben sei. Er habe es eben im Radio gehört. Das hätte das Ende meiner wissenschaftlichen Karriere sein können, aber ich dachte gar nicht daran, die Arbeit aufzugeben.
Ich studierte nun weiter in Tübingen, und einer meiner eindrucksvollsten Lehrer war Eduard Spranger, der aus Berlin gekommen war, wo er sich erst mit den Sowjets und dann mit den Amerikanern überworfen hatte.
Wie und bei wem gelang es Ihnen dann in Tübingen, Ihre Dissertation zu beenden?
1949 erschien die deutsche Ausgabe von Rothfels' Buch über den deutschen Widerstand, die ich sofort verschlang. Aber erst einmal kam zur Vertretung des Stadelmannschen Lehrstuhls Willy Andreas, der mir wegen seiner Eitelkeit - er pflegte ständig sich selber zu zitieren - und Oberflächlichkeit gar nicht gefiel. Ich hatte damals eine Unterschriftenaktion gestartet zur Verbesserung der Situation in den Seminaren, und infolgedessen lud mich der Dekan, der Archäologe Kurt Bittel, zu einem Glas Wein in seine Wohnung ein. Bei dieser Gelegenheit fragte er mich, ob an den Gerüchten über Andreas etwas dran sei, was ich ihm bestätigte. Damit war die Tätigkeit von Andreas in Tübingen beendet.
Man hörte, daß Rothfels als Nachfolger vorgesehen war; er zögere aber, nach Deutschland zu kommen. Ich kannte damals nur sein Widerstandsbuch und wußte, daß er Kriegsversehrter war. Wir Studenten beschlossen daraufhin, ihm einen Brief zu schreiben und ihn zu bitten, nach Tübingen zu kommen. Er erzählte uns später, daß dies für ihn ausschlaggebend gewesen sei. Als er erst ein paar Tage in Tübingen war, besuchte ich ihn, gab ihm meine Dissertation zum Lesen und begleitete ihn auf dem für ihn beschwerlichen Weg in seine Pension. In seiner bedächtigen Art sagte er leicht stöhnend, daß dies nun wohl seine erste Amtshandlung in Tübingen sein werde. Später nahm mich seine Frau an die Seite und sagte mir, daß sie meine Dissertation ebenfalls mit großem Interesse gelesen habe, auch deshalb, weil ihr Hausmädchen, das sie in Chicago hatten, aus Öhringen kam. Das war im Sommersemester 1951. So wurde ich Rothfels' erster Tübinger Doktorand.
Ich gehörte dennoch nicht zum engeren Kreis um Rothfels, obwohl er mich als Doktoranden, meine ich, etwas anders behandelte. Trotzdem blieb eine gewisse Distanz. Er wirkte konservativer als Stadelmann, war distanzierter, und - was mir unbehaglich war - er hatte einen moralischen Unterton. Rothfels kam quasi als Erzieher zurück und meinte, uns über Dinge wie die deutsche Schuld belehren zu müssen, die wir schon kannten, da wir sie zum Teil am eigenen Leibe erfahren hatten. Er meinte wohl, uns umerziehen zu müssen. Das hatten bei mir aber schon andere getan. Dies war zumindest mein Eindruck. Dennoch war er ein sehr fairer Mann. Er sorgte später auch dafür, daß ich meine erste Assistentenstelle bekam. Diese war in Karlsruhe an der TH bei Walter Peter Fuchs, dem Doktorvater Helmut Kohls.
Was Rothfels aber auszeichnete war seine verständnisvolle und hilfreiche Art, wobei er einem Grenzen aufzeigte; als ich mit 23 Jahren Dr. phil. war, fragte er mich, was ich nun tun wolle. Und ich antwortete, daß ich noch Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften studieren wolle, da kein Neuzeithistoriker - meiner Meinung nach - ohne Kenntnisse von Recht und Wirtschaft auskomme. Er gab mir eine sehr kluge Antwort, indem er mir zu der seltenen Kombination von Geschichte und Wirtschaftswissenschaften riet. Durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, für die er mich empfahl, konnte ich schließlich mein Zweitstudium aufnehmen. Noch vor Beendigung auch dieses Studiums fragte er mich erneut, und ich eröffnete ihm meinen Plan, nachdem ich als Stipendiat der Studienstiftung ein halbes Jahr in England gewesen war, nun mit Hilfe der DFG nach Frankreich, Italien oder Spanien zu gehen. Das gefiel ihm gar nicht, und er reagierte sehr kühl mit der Bemerkung: "Ihnen ist geholfen worden."
Ich empfand seine totale Ablehnung als sehr engherzig, denn er schien zu meinen, ich hätte mich jetzt genügend im Ausland umgesehen. Immerhin: Kurz ehe ich 1954 zum Dr. rer. pol. promoviert wurde, empfahl er mich nach Karlsruhe.
Gab es weitere Persönlichkeiten, die für Sie in Ihrer Zeit in Tübingen interessant waren?
Eindrucksvoll war der Althistoriker Joseph Vogt - sehr schwäbisch, in anderer Weise gelehrt als Schaefer in Heidelberg. Er wirkte auf mich sehr bodenverbunden, das Schwäbische wirkte auf mich ein bißchen - nicht ungebildet, aber es paßte nicht so recht zu der Weite seiner Vorlesungen. Stadelmann war auch Schwabe, aber der sprach Hochdeutsch in der Vorlesung. Vogt war ein großer Kenner der Römischen Geschichte und hat sehr viele hervorragende Studenten hervorgebracht: Karl Dietrich Bracher hat bei ihm promoviert, weil Stadelmann ihm nicht ganz geheuer war. Vogt war ihm zuverlässiger, da wußte er, was er von ihm zu halten hat. Franz Georg Maier, der auch 1951 promovierte, war sein Assistent, als ich damals bei ihm studierte. Vogts Vorlesungen waren brechend voll, seine Seminare ebenfalls. Er war die Verbindung von solide und interessant, aber nicht brillant wie Stadelmann. Offenbar beeindruckte mich, daß er ein problemorientierter Historiker war. Ich kann das im einzelnen nicht rekonstruieren, weil ich bei ihm nicht gründlich genug studiert habe. Aber man lernte von ihm sehr viel, und die Studenten hielten von ihm sehr viel. Was das Politische betrifft, kann ich nichts sagen, aber da er, soviel ich weiß, ununterbrochen Professor war, kann er jedenfalls nicht zu denen gehört haben, die sich im Dritten Reich exponiert hatten. Von Stadelmann hatte ich gehört, daß er im NSKK war. Das hat mich deswegen in gewisser Weise amüsiert, weil ich von zu Hause wußte, daß, wer wegen seines Berufs in irgendeine Organisation der NSDAP eintreten mußte, aber eigentlich nicht wollte, in den NSKK eintrat. Das war ein Sportverband der Motorradfahrer. Und Stadelmann war Motorradfahrer. Er war damals in Gießen als Assistent oder als Privatdozent, und ich fand es ganz verständlich, daß er in den NSKK eingetreten ist, um sich habilitieren und Professor werden zu können.
Hat Stadelmann selbst die Jahre von 1933 bis 1945 thematisiert?
Das war nicht Thema, nein. Er sprach vor allem über gegenwärtige oder zukünftige Arbeiten. Aber ich kannte ihn ja nur ein Semester! Über die Vergangenheit zu sprechen war selbst bei Rothfels nicht üblich. Rothfels hat über Amerika gesprochen. Er hat uns an Amerika erziehen wollen. Gelegentlich erwähnte er Königsberg schon und sprach darüber, daß das dort ein so lebendiger Kreis von Gelehrten war. Und er hat in seinen Vorlesungen oft Ostmitteleuropa behandelt und hat dabei auf seine älteren Veröffentlichungen zurückgegriffen und auch an seinen Anschauungen festgehalten. Seine politisch-moralische Grundhaltung war, daß eine nationale Gemengelage kein Nachteil sei, sondern von Vorteil sein könne, wenn die Menschen nur selber politisch reif genug wären, dies zu begreifen. Er empfahl die "Verschweizerung" Europas, was bei vielen damals Kopfschütteln hervorrief - nicht bei uns.
Wann haben Sie Conze kennengelernt?
Da war ich schon Assistent in Karlsruhe und wollte mich habilitieren und wußte, daß ich mich in Karlsruhe nicht habilitieren kann. Da ich mich in Karlsruhe nicht habilitieren konnte, wandte ich mich an Conze, der 1957 gerade von Münster nach Heidelberg berufen worden war. Conze war sehr hilfsbereit und lud mich sofort nach Hause ein - was Walter Peter Fuchs in den vier Jahren, die ich bei ihm Assistent war, nie getan hat, obwohl er auch oft in unserem jungen Haushalt in Karlsruhe - ich hatte 1956 geheiratet - auf einer Liege übernachtet hat, weil er in Heidelberg wohnte und dann abends manchmal nicht mehr nach Hause wollte. Conze war sehr interessiert an dem, was jüngere Leute machten. Er wollte mich gern in Heidelberg habilitieren, brachte jedoch schon einen Habilitanden aus Münster mit und fürchtete, daß ihm seine Fakultät zwei auswärtige Habilitanden verübeln würde. Allerdings empfahl er mich für eine Stelle an der Sozialforschungsstelle in Dortmund, die ich zwar nicht deswegen bekam, weil Conze mich seinem Lehrer Ipsen empfohlen hatte, denn mit dem kam ich sofort in Streit, sondern weil Walther G. Hoffmann, der Ökonom und Direktor der Sozialforschungsstelle war, mein Arbeitsvorhaben über die Industrialisierung des Ruhrgebietes überzeugend fand, während Ipsen ganz andere Vorstellungen hatte. Der hatte mehr ein soziologisch-kulturalistisches Konzept. Mit der von Conze vorgeschlagenen Habilitation in Münster bei Kurt von Raumer, der ja auch aus Königsberg kam, klappte es jedoch nicht. Ich machte zwar meinen Antrittsbesuch, aber Herr von Raumer, der sehr vornehm und sehr distanziert war, sagte zu mir: "Ja, das tut mir leid, aber da müssen Sie noch einige Semester warten. Denn ich werde niemanden habilitieren, bevor sich nicht mein Assistent Rudolf Vierhaus habilitiert hat." Als ich das später Vierhaus - den habe ich dann erst kennengelernt - erzählte, war er entsetzt darüber. Das entsprach gar nicht seinem Stil. Aber so war es. Das war für mich nicht weiter schlimm, denn Hoffmann war bereit, die Verantwortung zu übernehmen, daß ich, wenn ich mich in Wirtschafts- und Sozialgeschichte habilitiere, eine Stelle an seiner Fakultät bekomme, die, was ich damals nicht wußte, plante, einen Lehrstuhl des Faches zu beantragen.
An diesem Punkt kam ein Netzwerk ins Spiel, was ich wirklich erstaunlich finde. Conze telefonierte, wie ich heute weiß, mit Schieder und Carl Jantke. Diese drei beschlossen, daß ich mich in Heidelberg habilitieren sollte, wo inzwischen Erich Maschke nach langer russischer Kriegsgefangenschaft eingetroffen war und aufgrund des Gesetzes, daß ehemalige Beamte wieder einzusetzen seien, einen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte bekommen hatte, obwohl er gar kein Ökonom war. Weil es schon einen Mittelalter-Historiker gab, hat man ihn zur Wirtschaftsgeschichte abgeschoben. Maschke wollte keine Konkurrenz und war ganz vorsichtig. Jedenfalls haben Conze, Schieder, Jantke und Schelsky, der kurz darauf den Ruf auf einen Lehrstuhl für Soziologie nach Münster, verbunden mit der Leitung der Sozialforschungsstelle in Dortmund, annahm, Maschke garantiert, daß ich ihm nicht zur Last fallen würde. Er solle mich nur habilitieren - pro forma. In Wirklichkeit hat es Conze betrieben, der nur vorsichtig war, weil er seinen Habilitanden aus Münster, der dort durchgefallen war, weil ein Theologe dagegen war, in Heidelberg habilitieren wollte.
Conze war nicht mein Lehrer, er war ein älterer Kollege, der mir nicht nur in fairer, sondern in außerordentlich initiativreicher Weise geholfen hat.
Schieder lernte ich nur ganz kurz kennen. Seine Bücher und seine Aufsätze habe ich gern gelesen, aber habe nicht bei ihm studiert. Natürlich war Schieder einer von denen, die man als junger Mann kannte. Ich glaube allerdings, daß Stadelmann die Nummer eins und Schieder die Nummer zwei unter den Neuhistorikern dieser Generation gewesen wäre, wenn Stadelmann länger gelebt hätte. Stadelmann war für mich, das ist mein persönlicher Eindruck, der beste Historiker, den ich erlebt habe, der eindrucksvollste und derjenige, der mich wirklich begeistert hat.
Sie wurden dann 1960 in Heidelberg mit einer Studie über die Rolle des Staates und die Anfänge der Industrialisierung in Baden habilitiert. Wie ging es dann beruflich weiter? Haben Sie vielleicht gelegentlich erwogen, keine Hochschullaufbahn zu verfolgen und in die Wirtschaft zu wechseln?
Nach meiner Habilitation in Heidelberg wurde ich sofort nach Münster umhabilitiert, wo die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät für mich zunächst eine Diätendozentur, dann eine wissenschaftliche Ratsstelle beantragt hatte, alles wohl in Vorbereitung auf einen Lehrstuhl, der dann auch 1965 eingerichtet worden ist und auf den ich einen Ruf erhielt, knapp ein Jahr nachdem ich in Berlin Professor geworden war. Zunächst aber ging ich erst einmal für ein Jahr mit einem Rockefeller Stipendium nach den USA, und zwar nach Harvard und Berkeley. Insgesamt lagen zwischen Habilitation und dem Ruf nach Berlin nur reichlich drei Jahre, von denen ich zwei - also vier Semester - in Münster gelehrt habe. Den Wechsel in eine andere als die Hochschullaufbahn habe ich vor meiner Habilitation erwogen, besonders als sich dabei Schwierigkeiten anbahnten, da ich ja keinen eigentlichen Lehrer in meinem Fach der Wirtschafts- und Sozialgeschichte hatte.
Zwischen Ihre Habilitation und der Berufung zum Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte hier an der Freien Universität 1964 lagen knapp vier Jahre. Welche Chancen boten sich Ihnen in diesen Jahren als 'frischgebackener' Privatdozent?
Eine Chance, die ich nutzen konnte, war der schon erwähnte einjährige USA-Aufenthalt. Mehrere andere Chancen, z. T. schon vor der Habilitation, zerschlugen sich jedoch. So hatte ich eine Anfrage aus Göttingen, ob ich das dortige Handwerksinstitut übernehmen wollte, das dann jedoch Professor Abel zusätzlich zu seinem Lehrstuhl übernommen hat. Auch fragte mich Prof. Hoffmann in Münster, ob ich Interesse daran hätte, das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung zu leiten. Man nahm dann aber richtigerweise einen vollen Ökonomen und nicht einen Wirtschaftshistoriker. Später erfuhr ich, daß ich während meines Aufenthalts in den USA auf die zweite Stelle einer Liste für einen Lehrstuhl in Marburg gekommen war, und 1963 hatte ich eine Anfrage aus Berkeley, ob ich als Nachfolger von David Landes, der nach Harvard ging, dessen Lehrstuhl übernehmen möchte. Dort brach inzwischen jedoch die Studentenrevolte aus und der Kollege, der dies betrieb, Henry Rosovsky, ging ebenfalls nach Harvard. Erst sehr viel später erfuhr ich, daß man auch deshalb zögerte, weil mit Hans Rosenberg bereits jemand da war, der vor allem deutsche Wirtschaftsgeschichte betrieb, und man sich daher nach jemandem umsah, der andere europäische Länder abdeckte. Sidney Pollard bekam dann den Ruf, lehnte ihn aber ab.
Hatten Sie das Gefühl, daß Ihre damaligen Themen und Interessen quasi 'en vogue' waren, gleichermaßen bei den Historikern und Ökonomen begierig aufgenommen wurden?
Das Gefühl, daß meine damaligen Themen, vor allen Dingen die frühe Industrialisierung "en vogue" waren, hatte ich eigentlich nicht, obwohl es einige Historiker und auch einige Ökonomen gab, die sehr daran interessiert waren. Viel größer schien mir das Interesse im westlichen Ausland zu sein. Ich gehörte sehr früh zur "International Community of Scholars" in Wirtschaftsgeschichte. Das Gefühl, daß meine damaligen Themen, vor allen Dingen die frühe Industrialisierung "en vogue" waren, hatte ich eigentlich nicht, obwohl es einige Historiker und auch einige Ökonomen gab, die sehr daran interessiert waren. Viel größer schien mir das Interesse im westlichen Ausland zu sein. Ich gehörte sehr früh zur "International Community of Scholars" in Wirtschaftsgeschichte.
Aus den Gesprächen mit einigen Ihrer Kollegen wissen wir, daß sie die Arbeitsatmosphäre an der FU damals als liberal, offen und konstruktiv im Vergleich zur Situation an vielen westdeutschen Universitäten empfanden. Deckt sich dies mit Ihren Eindrücken? Wie waren Ihre Lehr- und Forschungsbedingungen als junger Professor Mitte der 1960er Jahre?
Ob die Arbeitsatmosphäre an der FU damals liberaler, offener und konstruktiver im Vergleich zur Situation an westdeutschen Universitäten war, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. In Münster war in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät die Atmosphäre ebenfalls sehr offen, das hing aber wohl von der Fakultät ab. Mein ganzes Leben lang empfand ich bei Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern eine größere Bewegungsfreiheit und geringere Enge als bei Historikern.
Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Freien Universität, an die ich berufen wurde, war sehr heterogen. Sie reichte von sehr konservativen Betriebswirten bis zu radikalen Politologen. In der Mitte standen Volkswirte und Soziologen. Man genoß als Lehrstuhlinhaber große Freiheit. Wie man sie nutzte, hing von der eigenen Initiative ab, aber auch vom Wohlwollen des Kurators, der die Mittel bewilligen mußte. Dieser war am Anfang eher engherzig, weil er der Meinung war, daß die jungen Professoren zu hohe Ansprüche stellten. Als Beispiel nannte er mir in den Bleibeverhandlungen, die ich führte, als ich einen Ruf nach Münster zurück erhielt, Ralf Dahrendorf, den er als "feinen Pinkel" bezeichnete und der den Ruf an die FU auch abgelehnt hat. Mir bot die Fakultät sofort an, das Fach Wirtschaftsgeschichte zum Pflichtfach erklären zu lassen, was ich jedoch ablehnte, weil ich wußte, daß höchstens 10 % der schon damals rund 1500 Studenten Interesse an dem Fachgebiet haben würde, und man sich als einzelner dann mit sehr vielen Studenten abplagen müßte, die nur kommen, weil sie müssen. Alle anderen Fachgebiete hatten damals schon mehrere Professoren.
Haben Sie das studentische Aufbegehren um das Jahr 1968, das ja an der FU früher als an anderen Hochschulen einsetzte und auch radikalere Formen annahm, als Zäsur empfunden? Haben Sie sich qua hochschulpolitischer Funktion, etwa durch die Bekleidung eines Amtes, positionieren müssen oder blieb Ihr Lehr- und Forschungsalltag davon weitgehend unberührt?
Das studentische Aufbegehren begann in Berlin nicht erst 1968, sondern 1965. Ich habe es in der Tat als die größte Zäsur in meinem Berufsleben empfunden. Als Dekan von 1968 bis 1970 stand ich im Mittelpunkt zahlreicher Aktionen an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Kollegen und ich selbst wurden mit Farbeiern beworfen, das Fakultätsgebäude wurde unter Wasser gesetzt, Fenster wurden eingeschlagen, Examina verhindert, das Dekanat besetzt, viele Lehrveranstaltungen unmöglich gemacht, Fakultätssitzungen gesprengt, so daß wir immer wieder in andere Räumlichkeiten ausweichen mußten. Ich selbst habe dabei viel Einfallsreichtum entwickelt, unter der Devise "schlauer als die, bist Du allemal". Daher sind meine eigenen Lehrveranstaltungen auch immer durchgeführt worden, wenn auch unter Schwierigkeiten. Zwei Jahre lang habe ich praktisch keine eigenen Forschungen treiben können. Das Institut, da es in einer kleinen Villa untergebracht war, blieb davon unberührt. Assistenten und Sekretärinnen haben von den Stürmen kaum etwas bemerkt und sich auch nicht sehr viel darum gekümmert.
Pichts Artikelserie über 'Die deutsche Bildungskatastrophe' erschien Anfang der 60er Jahre. Wie haben Sie die einige Jahre später einsetzende Öffnung und Expansion der Hochschulen empfunden? Empfanden Sie sich als Professor eines jungen, als innovativ wahrgenommenen Faches anfänglich als Trendsetter oder 'Expansionsgewinner'?
Daß die deutschen Hochschulen expandieren müßten, wußte ich schon vor Picht, dessen Artikel ich nicht besonders geschätzt habe. Aber als ich als Student Anfang der 50er Jahre in England war, war dort die Expansion gerade im Gang, und ich war seitdem der Meinung, daß auch Deutschland mehr Hochschulen braucht, z. B. im Ruhrgebiet. Ich war nicht dafür, die bestehenden Hochschulen überlaufen zu lassen. Die Expansion an der Freien Universität hielt ich immer für übertrieben, da dadurch die ohnehin schon bestehende Massenuniversität noch stärker wurde. Jedoch schien es mir richtig, Universitäten in Konstanz, Bochum, Bielefeld und an vielen anderen Stellen zu gründen. Als Trendsetter habe ich mich jedoch nie gefühlt, als Expansionsgewinner schon eher. In Berlin war ich ein Gegner der Integration der Pädagogischen Hochschule in die bestehenden beiden Universitäten. Ich hielt es für besser, die Pädagogische Hochschule zu einer dritten Universität auszubauen, wenn auch ohne Medizin und andere teure naturwissenschaftlich-experimentelle Fächer. Dieser Meinung bin ich übrigens heute immer noch.
Thematisch stand für Sie die Geschichte der Industrialisierung einschließlich der Voraussetzungen und Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft in 1960er und frühen 1970er Jahren im Zentrum. So haben Sie u.a. auch als Herausgabe der 'gelben Reihe', also an der Kanonisierung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, mitgewirkt. Wie entwickelte sich das Fach dann weiter? So haben Sie über Jahre aktiv im 'Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte' mitgewirkt? Hatten Sie teil an der Konzeption der doch schon stark sozialgeschichtlich ausgerichteten Institute der neugegründeten Reformuniversitäten z.B. in Bochum oder Bielefeld?
Das Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte entwickelte sich seit den 60er Jahren vor allem dadurch, daß viele neue Lehrstühle geschaffen wurden. Dadurch wuchs das Fach in die Breite; zwar beschäftigten sich viele vor allen Dingen mit dem 19. Jahrhundert, aber auch die Wirtschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, die Agrargeschichte, auch des Mittelalters, und schließlich die Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere Inflation und Große Depression, wurden immer intensiver erforscht.
Ich war nicht nur im Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte aktiv, wo ich zu den Junioren gehörte, sondern war auch Mitbegründer der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die von Lütge in München und Abel in Göttingen gegründet wurde. Zum Leidwesen dieser älteren Kollegen ließ ich mich von meinem Berliner Kollegen Helmut Arndt, der damals Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik - Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften - war, dazu überreden, den Ausschuß für Wirtschaftsgeschichte wieder zu begründen, was Lütge und Abel als Konkurrenzunternehmen ansahen. Arndt überzeugte mich jedoch davon, daß es für Wirtschaftshistoriker wichtig sei, im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften präsent zu sein und nicht nur als separate Gesellschaft. Ich habe dann vier Jahre lang den Vorsitz geführt und über viele Jahre lang haben jährliche Sitzungen dieses Ausschusses in unserem Institut in der Hittorfstraße 2-4 stattgefunden, bis die Gesellschaft befand, daß man den Ort auch einmal wechseln müsse und die Reisen nach Berlin zu teuer würden (damals bezahlte die Gesellschaft den Teilnehmern noch die Reisekosten, was heute nur noch für die Referenten der Fall ist). In diesem Ausschuß trafen sich vor allen Dingen ökonomisch orientierte Wirtschaftshistoriker, während in der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte alle, auch Geographen, vertreten waren. Darüber hinaus gab es und gibt es aber viele andere wirtschaftshistorische Vereinigungen, denen ich von früh an angehörte: Der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, der Gesellschaft für Bankengeschichte, der Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte, der Gesellschaft für Agrargeschichte, dem Hansischen Geschichtsverein; auch die Historische Kommission für Westfalen, in die ich schon in meiner Münsteraner Zeit gewählt wurde, und die Historische Kommission zu Berlin, in die ich sehr bald gewählt wurde, betrieben und betreiben Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Im Mittelpunkt stand für mich jedoch immer die International Economic History Association, an deren Sitzungen ich regelmäßig teilnahm und in der ich die Bundesrepublik Deutschland acht Jahre lang in Comitee, das die Sitzungen vorbereitet, vertreten habe. An den Konzeptionen für Bochum und Bielefeld habe ich direkt nicht mitgewirkt, doch hatte ich einen Ruf nach Bochum und hätte einen nach Bielefeld haben können. Die Internationalität der FU und meines familiären Umkreises im "amerikanischen" Dahlem wollte ich jedoch nicht aufgeben. Meine Kinder gingen z. B. in eine deutsch-amerikanische Schule.
In Ihren Schriften haben Sie frühzeitig die Grenzen Deutschlands überschritten und sich dem Industrialisierungsprozeß im europäischen Kontext oder Fragen des internationalen Handels und der historischen Entwicklung der Weltwirtschaft zugewandt. Hängt diese erweiterte Perspektive auch mit Auslandsaufenthalten und den dabei entstandenen Kontakten insbesondere zu anglo-amerikanischen (Wirtschafts-)Historikern zusammen?
In der Tat hängt mein Interesse für die internationale Wirtschaftsgeschichte mit meinen Auslandsaufenthalten zusammen. Man könnte es auch umgekehrt formulieren: Weil ich Interesse an internationalen Zusammenhängen hatte, habe ich Auslandsaufenthalte und internationale Kontakte immer wahrgenommen. Daß sich dabei eine Präferenz für die anglo-amerikanische Seite entwickelte, hing zum Teil damit zusammen, daß ich Gelegenheit hatte, in England zu studieren und schon von der Schule her gut englisch konnte, während aus kriegsbedingten Gründen ich in der Schule nicht französisch lernte; aber auch zu französischen Kollegen habe ich sehr früh Kontakte entwickelt und bis heute behalten.
Eine letzte Frage bevor wir zu den Standardfragen kommen. Im Unterschied zur Sozialgeschichte ist es der Wirtschaftsgeschichte nicht gelungen, die historischen Institute thematisch wie personell zu 'unterwandern'. Wir haben im Gegenteil den Eindruck, daß heutigen Geschichtsstudenten wirtschaftshistorische Fragen und Themen im Laufe ihres Studiums kaum noch begegnen. Wie erklären Sie sich den Bedeutungsverlust der Wirtschaftsgeschichte hierzulande?
Wirtschaftsgeschichte ist von Historikern mit Ausnahme wohl der Agrargeschichte immer mit einer gewissen Reserve betrachtet worden. Das trifft übrigens weniger für das Altertum und das Mittelalter zu, um so stärker aber für die neuere Zeit, wo man ohne Statistik nicht auskommt. Vor der Statistik fürchten sich aber viele Historiker. Wirtschaftshistoriker der neueren und neuesten Zeit sind daher eher in wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichen tätig als bei Historikern. Nur in Bochum hat man mit der Gründung versucht, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowohl bei den Historikern wie bei den Soziologen und bei den Ökonomen zu verankern, was freilich auch nicht ganz gelungen ist. In Berlin dauerte es viele Jahre, bis ich auch das Prüfungsrecht bei den Historikern erhielt. Daß es einen Bedeutungsverlust der Wirtschaftsgeschichte in Deutschland gegeben hat, kann man so allgemein kaum sagen. Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften kam er viel früher, nämlich mit dem Ende der historischen Schule in den 1920er und 30er Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zunächst einen Aufstieg. In den letzten Jahren dominieren die theoretischen Fächer wieder sehr viel stärker. Offenbar gibt es hier "lange Wellen", so wie auch in der Wirtschaft selbst. Innerhalb der Geschichtswissenschaft hat man es mit sozialhistorischen Themen leichter. Sie wirken nicht so fremd und abschreckend wie eine strenge Wirtschaftsgeschichte. Vielleicht kommt noch hinzu, daß konservative Historiker unter Wirtschaftshistorikern oft Marxisten vermuten, weil besonders nach dem Zweiten Weltkrieg die marxistisch interpretierte Geschichte oft mit Wirtschaftsgeschichte verwechselt wurde. Interessant ist, daß unter den westdeutschen Wirtschaftshistorikern kein einziger wirklicher Marxist war. Ein einziger gebärdete sich gelegentlich marxistisch, vermutlich weil sein Vater Vorstand in einem Großunternehmen war. Wenn sogenannte allgemeine Historiker einen Bedeutungsverlust der Wirtschaftsgeschichte wahrnehmen, so liegt das wohl vor allen Dingen daran, daß sie die Spezialisierung, die auch in der Geschichtswissenschaft stattfindet, nicht akzeptieren.
Teil 2: Standardisierte Fragen
1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?
Sicher gab es einige wenige Vordenker und Mittäter, aber die Mehrzahl war - wenn überhaupt - Mitläufer, wobei man berücksichtigen muß, daß das geistige Klima der Zwischenkriegszeit, der 1920er und frühen 1930er Jahre, durch das fast allgemein verbreitete Ressentiment gegen Versailles, aber auch durch die große Rolle, die die romantische Jugendbewegung für viele dieser Historiker gespielt hat, geprägt war.
Der Nationalsozialismus war für viele vermutlich eine Überraschung, die aber ihrem Denken nicht völlig fremd war. Daß sie aktiv darauf hingearbeitet hätten, daß Hitler an die Macht käme, das trifft auf nur ganz wenige zu, aber viele ließen sich mitreißen. Ich kann das direkt von meinem Lehrer Rudolf Stadelmann sagen, der sicher kein Nationalsozialist im engeren Sinne gewesen ist, der aber in einem Handbuchartikel über die Reformation, der 1935 erschienen ist, dieser Reformation die Überschrift gegeben hat "Die Reformation als Deutsche Revolution". Das war ganz deutlich der Zeitgeist, der hier sprach. Trotzdem ist das ein sehr interessanter und guter Handbuchartikel geblieben.
2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?
Mir ist nicht ganz klar, ob der Terminus "intellektuelle Entgleisungen'" wirklich zutrifft, vor allen Dingen, ob er wirklich auch auf Werner Conze zutrifft. Conze war noch sehr jung und stand am Anfang [seiner wissenschaftlichen Karriere], und wenn ich mich richtig erinnere - es ist lange Zeit her, daß ich seine Dissertation gelesen habe -, so war gerade seine Dissertation eigentlich bemerkenswert frei von solchen "Entgleisungen". Daß es Denkschriften wie die von Schieder gegeben hat, war für mich auch eine Überraschung, und ich würde doch meinen - wenn Sie gerade auf Conze und Schieder zu sprechen kommen -, daß deren gesamtes Werk, das, was an "Entgleisungen" vielleicht vorhanden war, so weit überragt, daß man ihre Persönlichkeit nach ihrem Lebenswerk und nicht nach - möglicherweise frühen - "Entgleisungen" beurteilen sollte.
3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?
Ich glaube nicht, daß es "braune Wurzeln" waren, sondern es waren Wurzeln, die in die Romantik und bis zu Herder zurückgehen und auch in der Jugendbewegung ihren Ursprung haben und im romantischen Volksverständnis, das auch beim Nationalsozialismus vorhanden war, aber eben nicht nur beim Nationalsozialismus. Insofern ist die Grundlage dafür eben eine breitere, und es gibt einige Fälle, in denen sich Menschen vom Nationalsozialismus ferngehalten haben, obwohl sie selbst auf diesen romantischen Wurzeln aufbauten.
4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?
Ich habe zunächst eigentlich eher Diskontinuität erlebt. Ich habe erlebt, daß in Heidelberg, wo ich anfing zu studieren, der Lehrstuhl für Neuere Geschichte nicht besetzt war, weil der Lehrstuhlinhaber entlassen worden war. In anderen Universitäten war Kontinuität vorhanden, aber gerade diejenigen, die Sie erwähnt haben, die rückten eigentlich als relativ junge Leute an die Stelle solcher, die früher da waren. Insofern waren Kontinuität und Diskontinuität unterschiedlich verteilt. In Berlin z.B. war Hans Herzfeld an der Freien Universität tätig, dem 1938 die Lehrerlaubnis entzogen worden war, obwohl er durchaus seiner geistigen Herkunft nach den anderen sehr nahe stand und in seinen Lebenserinnerungen z.B. dem Ersten Weltkrieg einen großen Platz einräumte. Alle waren erstaunt, als wir diese nicht fertig gewordenen Lebenserinnerungen lasen, daß das Kriegserlebnis für ihn so enorm wichtig gewesen ist. Er war "Halbjude", wenn ich richtig informiert bin, nach nationalsozialistischer Definition, und mußte daher seine Lehrtätigkeit einstellen. Er steht in gleichem geistigen Zusammenhang wie viele andere auch, aber man kann nicht sagen, hier war eine Kontinuität gegeben - da war ein Bruch. Ähnlich war es bei Hans Rothfels, der aus dem gleichen Milieu kommt - beide sind übrigens erheblich älter als Conze oder Schieder. Sie erlitten einfach aus der Tatsache heraus, daß sie jüdische Vorfahren hatten, ein anderes Schicksal, obwohl ihre Weltanschauung der der anderen nicht so fern stand.
5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?
Ich glaube, der wichtigste Grund war Nicht-Wissen. Ich bin aber nicht sicher, ob es der einzige Grund war. Unter den Beteiligten der gleichen Generation, die sich gegenseitig gekannt hatten - sagen wir, meine Lehrer -, war natürlich ein Grund, daß man sich gegenseitig nicht die Augen auskratzen wollte, daß man sich gegenseitig achtete und daß man auch Respekt hatte, wenn einer vielleicht das getan hatte, was man als "Jugendsünden" ansehen würde.
Ich glaube aber auch und habe Anhaltspunkte, daß doch einige dieser Historiker, die nicht oder erst später wieder eingestellt wurden, von den anderen mit einer gewissen Distanz betrachtet worden sind. Sowohl Ernst Anrich als auch Günther Franz und Willy Andreas beispielsweise sind nach meinem Eindruck nicht völlig isoliert worden, aber man hat doch eine gewisse Distanz zu ihnen bewahrt.
6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?
Die Geschichtswissenschaft nimmt gern Einfluß auf politische Entscheidungen - nicht nur in Deutschland. Historiker sind oft verhinderte Politiker oder sehen sich als Berater der Politiker - nicht alle. Sicher gibt es solche, die eine strikte Trennung von Wissenschaft und Politik, mindestens theoretisch, für sich vornehmen. Aber wenn man sich beruflich mit der Vergangenheit der Politik oder sogar vorwiegend der Politik beschäftigt, dann ist es nur natürlich, daß man auch die gegenwärtige Politik nicht nur als Bürger, sondern auch in der Eigenschaft als Wissenschaftler betrachtet und sich in gewisser Weise zur Politikberatung berufen fühlt. Das war bei Heinrich von Treitschke so, das war bei Theodor Mommsen so, das ist natürlich bei vielen der politischen Historiker meiner Generation so. Die glaubten natürlich, auch als Historiker mit ihren Mitteln und ihrer Kenntnis für eine bessere Fundierung der deutschen Nachkriegsdemokratie eintreten zu sollen. So ähnlich wie viele Wirtschaftswissenschaftler die Wirtschaftspolitik beraten wollen. Es gibt aber auch da einige, die sagen, die Wirtschaftstheorie sei eine "reine" Wissenschaft und was die Politiker machen, sei etwas ganz anderes. Aber viele Ökonomen betrachten sich auch als wirtschaftspolitische Berater, und die meisten Wissenschaftler der Sozialpolitik betrachten sich als Berater der Sozialpolitik. So könnte man noch andere anführen, z.B. Staats- und Völkerrechtler.
Zum Umgang mit den Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich: Das kommt auch auf das engere Fachgebiet an. Ob das Mittelalter- oder Althistoriker für ihre Fächer sehr stark verarbeitet haben - das ist nicht so deutlich. Für jeden, der Zeitgeschichte behandelt hat, stand das natürlich im Mittelpunkt, möglicherweise sogar zu sehr im Mittelpunkt. Als ich mit dem Studium fertig war, wurde das Institut für Zeitgeschichte gegründet, und das war etwas, was ein Gutteil der Jüngeren, die Neuere Geschichte betrieben, vordringlich beschäftigte, so wie in der Zwischenkriegszeit die Bismarckzeit: Bismarck als Person, die gesamte Bismarckzeit und auch die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nahm damals einen großen Stellenwert ein. Die unmittelbare Zeitgeschichte, das, was noch an Geschichte lebendig ist für die jeweils lebende Generation, wird wahrscheinlich immer einen besonderen Stellenwert einnehmen. Und da war der Nationalsozialismus nun noch besonders hervorgehoben, zumal - das darf man nicht vergessen - ständig neue Quellen zugänglich wurden, ähnlich wie jetzt bei der DDR-Geschichte, weil eben vieles sehr schnell bekannt wurde, während normalerweise 30 Jahre oder mehr vergehen, bis man bestimmte Quellen überhaupt einsehen darf. Insofern war da ein professioneller Reiz gegeben - abgesehen vom politischen -, eine Geschichte, die man erforschen kann, auch wirklich zu erforschen und dann auch die Konsequenzen daraus zu ziehen - in der Lehre oder auch in der Verbreitung durch Volkshochschulen oder in der Weiterbildung der Lehrer. Ich glaube, daß das eine große Rolle gespielt hat.
7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?
Von Zeit zu Zeit werden solche Emotionen geweckt, wenn es irgendwie überraschende, neue Funde gibt. Ich würde nicht direkt von Mode sprechen, aber etwas Modisches ist immer dabei. Das war z.B. so, als nach dem Krieg das Buch "Der SS-Staat" von Eugen Kogon erschien, als Darlegung dessen, was viele nicht gewußt haben oder nicht haben wissen wollen oder nur zum Teil gewußt haben können. Das Zweite war dann die Debatte um Fritz Fischer vor und während des Berliner Historikertages von 1964, in der auch Emotionen geweckt worden sind und wo Fritz Fischer einen seiner engsten Hamburger Fakultäts-Kollegen besonders angriff, der den Imperialismus und insbesondere den deutschen Imperialismus nicht richtig gesehen oder verharmlost hätte, und wo es sofort eine Art wissenschaftlicher Gegenbewegung gab, die sagte, wenn man das mache, müsse man das auch international vergleichend machen und müsse auch die britische, französische und russische Imperialismuspolitik untersuchen, was Fritz Fischer nicht getan hat. In diesem Fall ist Fritz Stern, als damals noch junger Emigrant, der in Breslau geboren ist und dann als junger Mann Deutschland verlassen mußte und schon ein angesehener Historiker in Amerika war, Fritz Fischer zur Seite gesprungen. Aber die Mehrheit der Historiker fand Fischers Position zu moralisch und zu wenig wissenschaftlich ausgewogen. Und ich persönlich fand es interessant, weil vieles neu war, aber ich hatte sofort das Gefühl: "Was haben eigentlich die Russen da gemacht? Da wissen wir noch so wenig. Wenn Deutschland den ersten Weltkrieg verursacht hat, welche Rolle hat eigentlich Rußland gespielt?" Denn ich hatte von Rudolf Stadelmann gelernt, daß zwar Deutschland eine sehr treibende Kraft war, aber die anderen [Mächte] ihm das Spiel auch ziemlich leicht gemacht haben und ihre Möglichkeiten, den Ersten Weltkrieg zu verhindern, nicht wirklich genutzt haben. Ich spreche vor allem von Rußland, das Serbien nicht gebremst hat. Die Frage, warum Rußland Serbien nicht gebremst und damit nach dem Attentat von Sarajewo die Situation entschärft hat, war damals nicht in gleichem Umfang zu klären, wie die Rolle Deutschlands aufgrund der vorhandenen Akten geklärt werden konnte.
8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?
Nein, eines vorübergehenden Streits in der Historikerzunft vielleicht; aber ich glaube nicht, daß das auf Dauer sein wird.
Ich könnte noch einfügen, daß auch in den achtziger Jahren eine Debatte, der sogenannte Historikerstreit, um Nolte herum stattgefunden hat. Das hat alles eine gewisse Zeit, vielleicht ein Jahrzehnt, angedauert. Aber dann kommt wieder etwas anderes und überschattet dies. Auf die Dauer glaube ich nicht, daß die Historiker sich darüber streiten werden. Es war natürlich - das darf man, glaube ich, nicht vergessen - auf diesem Historikertag in Frankfurt, wo ich selber nicht war, für viele Jüngere eine Art Abrechnung mit der Bielefelder Schule, besonders mit Wehler. Wehler hat - ähnlich wie Treitschke - als "Praeceptor Germaniae" viele Jahre gewirkt. Ich glaube, es hat eine Rolle gepielt, ihm und anderen - auch Jürgen Kocka -, die einen gewissen moralischen Anspruch erhoben hatten, die deutsche Geschichte richtig zu interpretieren und auch pädagogisch auf Gegenwart und Zukunft zu wirken, eins auswischen zu wollen. Es ging voran die Auseinandersetzung um die Alltagsgeschichte, es ging voran die Auseinandersetzung um die DDR - die Frage von zwei deutschen Staaten. Wehler und Kocka waren ja Vertreter der Zwei-Staaten-Theorie. Da gab es für manche vielleicht eine gewisse Freude zu sehen, daß auch sie irgend etwas zu verbergen haben - wobei ich nicht glaube, daß sie etwas zu verbergen haben, weil sie in ihrem Standpunkt immer sehr ehrlich waren und etwa diese Schiedersche Denkschrift wirklich nicht kannten; das darf man nicht vergessen. Warum hätten sie ihn fragen sollen? Sie wußten ja nichts davon. Sie kannten ihn als einen interessanten und integren Gelehrten. Und ich glaube, daß wir alle nicht dazu geneigt haben, nun in der Vergangenheit unserer Lehrer herumzubohren und zu sagen: "Ist vielleicht dann doch dahinter irgend etwas?" Wir wußten ja, daß bei anderen etwas war. Wir kannten ja die eigentlichen Nazis. Warum sollten wir vermuten, daß alle anderen auch Nazis gewesen wären zu irgendeinem Zeitpunkt? Dazu bestand, glaube ich, kein Anlaß, und es kommt hinzu: diese ganze Königsberger Schule war zerstreut. Niemand von uns hatte noch eigene Erfahrungen mit Königsberg. Niemand von uns hatte dort bei ihnen studiert oder sie gekannt, als sie junge Gelehrte waren. Wir kannten sie alle nach 1945, nach 1950 - wann immer wir anfingen zu studieren -, und da erschienen sie uns als durchaus demokratische, wenn auch manchmal etwas konservative Persönlichkeiten. Conze erschien mir als Person immer sehr konservativ, als Historiker sehr liberal und offen. Das ist sehr oft so vorgekommen - auch umgekehrt. Ich kenne sehr viele überzeugte Liberale, die persönlich konservativ sind und umgekehrt Konservative wie Schelsky, der persönlich außerordentlich tolerant und liberal war im Unterschied zu dem anderen großen Soziologen seiner Generation, René König, der emigriert war, der der Vertreter der liberalen deutschen Soziologen war und persönlich sehr autoritär sein konnte.
Herr Fischer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Ort des Interviews: | Hittorfstr. 2-4 (FU-Berlin) |
Datum: | 18.05.99, 10-12 Uhr und 29.06.99, 14-15 Uhr |
Interviewer/in: | Schäfer, Steinbach-Reimann |