Interview mit Rudolf Vierhaus
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Rudolf Vierhaus, geboren am 29.10.1922 in Wanne-Eickel, promovierte 1955 über das Thema "Ranke und die soziale Welt" und war nach seiner Habilitation bei Kurt von Raumer ab 1961 Privatdozent in Münster. 1964 wurde er ordentlicher Professor in Bochum und war seit 1971 Direktor des MPI für Geschichte in Göttingen. Er war von 1990 bis 1997 deutscher Kovorsitzender der Deutsch-Tschechoslowakischen, dann der Deutsch-Tschechischen und der Deutsch-Slowakischen Historikerkommission.

Rudolf Vierhaus wurde 1990 emeritiert und lebt heute in Göttingen.

Vierhaus: "Ich stellte fest, daß ich die pathetische Sprache von Nation, Vaterland, Heldentum nicht mehr sprechen, nicht mehr in Gemeinschaften leben, nicht mehr im Chor singen konnte und wollte."

Teil 1: Biographische Fragen

Fragen Interviewer/in: Herr Vierhaus, Sie sind 1922 in Wanne-Eickel geboren. Können Sie das soziale Umfeld, in dem Sie aufgewachsen sind, näher schildern?

Ich bin in einer ausgesprochenen Bergbaustadt großgeworden. Mein Vater war Zechenhandwerker, der zum Zechenbeamten aufstieg. Meine Mutter starb, als ich drei, mein Bruder vier Jahre alt war. Erzogen wurden wir von einer Großmutter. Das familiäre soziale Milieu war kleinbürgerlich, das städtische durch die Arbeiterschaft bestimmt. In der Stadt herrschte politisch die Sozialdemokratie vor mit wachsender Stärke der Kommunisten, insbesondere in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Die Familie und der engere Bekanntenkreis hielten sich politisch eher in der Mitte und rechts auf (DVP, DNVP, Stahlhelm, Jungdeutscher Orden), lange ohne Sympathie für die NSDAP, die vor allem in der Gestalt der SA in Erscheinung trat. Nicht unbeträchtlich war die zum Teil scharfe Ablehnung der radikalen Linken bei Weltkriegsteilnehmern, für die die Ruhrkämpfe in den Nachkriegsjahren wie auch die französische Ruhrgebietsbesetzung traumatische Erinnerungen hinterlassen hatten. Von Bedeutung war auch der katholische Bevölkerungsteil, der, politisch bis tief in die Arbeiterschaft hinein, der Zentrumspartei seine Stimme gab. Ihm gehörten viele "Ruhrpolen" an (in Wanne-Eickel gab es bis 1933 Gottesdienste in polnischer Sprache und auch eine polnische Zeitung). Politische Gegensätze, wirtschaftliche Krisen, Arbeitslosigkeit, soziale Spannungen waren sozusagen allgegenwärtig, insbesondere in der Zeit von 1929-33.

Zum sozialen Umfeld ist noch zu sagen, daß ich in unserer Familie der erste war, der das Abitur ablegte, und nach den Vorstellungen der Familie Beamter werden sollte.

Wie haben Sie die NS-Zeit erlebt? Gab es politische Prägungen aus dem Elternhaus und wie haben Sie die Zeit politisch wahrgenommen?

Meine frühesten Erinnerungen: Wir wohnten am Marktplatz des Stadtteils Eickel, wo im Jahre 1932 zahlreiche politische Kundgebungen und Aufmärsche der KP, der SA, des Republik-Schutzbundes "Schwarz-Rot-Gold" in Uniformen, mit Fahnen, Musik, Sprechchören und auch Zusammenstößen stattfanden. Während eines Krankenhausaufenthaltes im gleichen Jahr habe ich mit Aufmerksamkeit rabiaten Streitgesprächen zwischen NS- und KP-Anhängern zugehört. Mein Vater, dessen stärkstes Erlebnis der Erste Weltkrieg war, war und blieb parteilos; er mochte weder "die Linken" noch die Nationalsozialisten, war national gesinnt ('schwarz-weiß-rot'), in das "bürgerliche" Vereinsleben (Kriegerverein, Gesangsverein) integriert. In unserem örtlichen Wahlbezirk wechselte er sich im Vorsitz mit dem jüdischen Textilkaufmann S. Baum ab. Welcher Partei er seine Stimme gab, weiß ich nicht. Späteren Bemühungen, ihn zum Eintritt in die NSDAP oder eine ihrer Organisationen zu bewegen, hat er immer widerstanden.

Ich selbst bin, mit meinem um ein Jahr älteren Bruder, als "Oberschüler" (ich denke 1934) für das "Deutsche Jungvolk" "gekeilt" worden und habe ihm auch, nachdem ich mit 14 Jahren eigentlich in die "Hitler-Jugend" überführt werden mußte, weiterhin angehört. Für mich bedeutete das die Zugehörigkeit zu einer Jugendbewegung. Ich habe ihr bis zu meiner Einziehung zum Militär 1941 angehört und war zuletzt noch mehrere Monate Lagermannschaftsführer im Zuge der "Kinderlandverschickung" aus dem Ruhrgebiet.

Hat sich Ihre Einstellung zum Nationalsozialismus während dieser 12 Jahre in irgendeiner Weise geändert?

Bis dahin lebte ich zwischen Haus, Schule und "Staatsjugend" mit ihren zahlreichen, zunehmend Pflicht werdenden Veranstaltungen. Zur häuslichen Sphäre gehörte eine gemäßigte protestantische Kirchlichkeit mit einem Konfirmationsunterricht im Sinne der Bekennenden Kirche; zur "Oberschule" eine nachlassende Reserve der Studienräte gegenüber den Ansprüchen der Staatsjugend und das Eindringen nationalsozialistischen Gedankengutes. Widerstand der Lehrer dagegen, soweit er vorhanden war, fand allenfalls in indirekter Weise, durch Festhalten an älteren Unterrichtszielen und Leistungsanforderungen statt und ist mir z.T. erst nachträglich deutlich geworden. So übrigens auch die Bedeutung der Tatsache, daß zwei jüdische Mitschüler nach dem Abschluß der Quinta nicht zurückkehrten und es nur hieß, daß die Familien ausgewandert seien. Daß sie in der Klasse schlecht behandelt worden seien, kann ich mich nicht entsinnen.

Wie schlug sich das geistige Klima für Sie im Schulunterricht nieder?

Einige Lehrer allerdings identifizierten sich mit dem Nationalsozialismus, einige waren auch in Parteiämtern aktiv. Gute Noten in Sport oder auch in Biologie wurden hoch bewertet; aus dem Lehrplan des Deutschunterrichts verschwanden Heine, Hofmannsthal, expressionistische Lyrik, selbst Rilke; in der Prima wurde "Volk ohne Raum" gelesen, im Musikunterricht kam der Name Mendelssohn nicht vor, der Geschichtsunterricht, schon in der Republik national-patriotisch, wurde zunehmend ideologisiert, wobei den Lehrern immer noch der Spielraum unterschiedlicher Akzentuierung blieb. Mein geschichtliches Interesse wurde weniger durch den Schulunterricht als durch eigene, freilich wenig angeleitete Lektüre geweckt und gefördert.

Meine Einstellung zur nationalsozialistischen Bewegung wurde bei zunehmendem Alter durch Abneigung gegen primitive Propaganda, stereotype Schlagworte, wichtigtuerische politische Funktionäre auf lokaler Ebene, sogenannte "Alte Kämpfer" bestimmt. Man spottete über sie, wobei gelegentlich der Gedanke mit im Spiel war, jüngere Nachfolger würden die Spießigkeit des Systems überwinden.

Was änderte sich für Sie mit dem Beginn des Krieges?

Den Kriegsbeginn hat in meiner Erinnerung niemand begrüßt; Ältere, die den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatten, waren mehr oder weniger bedrückt: eine Haltung, die weniger durch Propaganda und Mobilisierung als durch die Erfolgsmeldungen, die nun für Jahre in Presse und Rundfunk dominierten, überlagert wurde, wenn auch nicht verschwand. Verstärkt wirkte nun allerdings die Angst vor "defätistischen" Äußerungen, die der Polizei oder dem Sicherheitsdienst bekannt werden könnten. Direkt habe ich davon wenig erfahren. Ich hatte mich freiwillig zur Luftwaffe gemeldet, um als Soldat zu einem Truppenteil nach Wunsch und Wahl zu kommen. Im November 1941 eingezogen, bin ich bis zur Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Frühherbst 1946 nur ganz selten im "Reich" gewesen, habe deshalb nur wenig von der Stimmung im Inland selbst erfahren. Zu meiner Enttäuschung bin ich nicht zum fliegenden Personal der Luftwaffe gelangt, vielmehr nach der Grundausbildung in Belgien mit einer Flughafenkompanie in Südrußland bis nach Krasnodar gekommen, dann im Partisanenkampf im Mittelabschnitt der Ostfront eingesetzt gewesen, nach längerem Lazarettaufenthalt über Südfrankreich an der niederländischen Kanalküste und in Belgien eingesetzt gewesen - bei der Infanterie - und schließlich als Leutnant im Kampf mit amerikanischen Truppen an der Mosel im Herbst 1944 schwer verwundet worden. Nach langer Wiederherstellung, aber noch erheblich gehbehindert, geriet ich in Marburg in amerikanische Gefangenschaft - zunächst im Offizierslager St. Mère Eglise, dann freiwillig in einem Arbeitslager in Cherbourg.

Die Erfahrungen seit der Mitte des Jahres 1944, die Beobachtung einer sinnlosen Kriegsführung, die zunehmend schlecht ausgebildeten und ausgerüsteten Truppen gegen die besser ausgerüsteten Amerikaner mit absoluter Luftüberlegenheit einsetzte, wie auch die Beobachtung des Rückzugs aus Frankreich, schließlich das Durchstehen langer Lazaretttage und -nächte bei guter Versorgung, aber sehr schlechtem Befinden, dann der militärische Zusammenbruch und die anderthalb Jahre Gefangenschaft sind für mich von entscheidender Wichtigkeit gewesen: als eine Zeit tiefer Niedergeschlagenheit, offener Zukunft und voller Selbstzweifel und Zweifel an den Deutschen. Und als ich dann nach der Entlassung und dem Studienbeginn 1947 in Münster noch wegen einer schweren Lungenkrankheit (Kriegsfolge) etwa zwei Jahre in Krankenhäusern und Sanatorien verbringen mußte und mit 70 % Erwerbsunfähigkeit entlassen wurde, war ich fest entschlossen, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen. Ich habe diese Zeiten eigentlich nur mit unablässigem Lesen von allem, was ich in die Hand bekam, und mit der Hilfe meiner späteren Frau überstanden.

Ich stellte fest, daß ich die pathetische Sprache von Nation, Vaterland, Heldentum nicht mehr sprechen, nicht mehr in Gemeinschaften leben, nicht mehr im Chor singen konnte und wollte. Ich bin keiner studentischen Verbindung, keinem Verein, keiner politischen Gruppe oder Partei beigetreten. Bei ungefestigter Gesundheit, unter dem Eindruck verlorener Jahre und unsicherer Berufsaussichten wollte ich nur an mich denken, was mir allerdings weder gelungen und auch nicht Vorsatz geblieben ist.

Sind Sie mit der verbrecherischen Seite des NS-Regimes persönlich konfrontiert worden?

Von den nationalsozialistischen Rechtsbrüchen und Gewaltsamkeiten - von der "Schutzhaft" gleich nach der Machtergreifung über den Röhm-Putsch und Maßnahmen gegen katholische Klöster bis zu der zunehmenden Entrechtung der Juden und der Behandlung "erbkranken Nachwuchses" - wurde wenig und gleichsam wie vom Hörensagen gesprochen, auch von den Gegensätzen in der evangelischen Kirche zwischen "Deutschen Christen" und "Bekennender Kirche". Den Dingen auf den Grund zu gehen, wurde nicht gewagt. Die für totalitäre Regime kennzeichnende Mischung von Propaganda und Terror wirkte alltäglich und prägte das Verhalten auch derjenigen, die keine Systemgegner waren. Als Soldat habe ich keine Massenerschießungen erlebt, keine verhungernden russischen Kriegsgefangenen gesehen, von Vernichtungslagern nichts, jedenfalls nichts Konkretes gehört. Die barbarischen Maßnahmen der Partisanenbekämpfung in Rußland habe ich nur kurz erlebt; an das Riesengetto in Lodz, das ich nur einmal flüchtig gesehen hatte, hat mich eine Großaufnahme in Yad Vashem in Jerusalem erinnert. Im besetzten Ausland habe ich mich immer als Fremder gefühlt, der nicht dorthin gehörte. Es war eine Erfahrung, die sich in amerikanischer Gefangenschaft in Frankreich fortgesetzt hat, daß Besatzung, Besetzte und Besatzer korrumpierten. In der Gefangenschaft erfuhr ich dann mehr über die NS-Verbrechen, auch aus US-Zeitungen; die Filme über die Vernichtungslager sind uns übrigens nicht gezeigt worden.

Nach Ihrer Genesung haben Sie sich dann für ein Studium in Münster entschieden. Was sind die prägenden Eindrücke Ihrer Studienzeit?

Ich belegte Geschichte, Germanistik, Philosophie, zeitweilig Geographie, Englisch; Studienziel Höheres Lehramt. Geschichte stand im Vordergrund; für mich wichtige Anregungen erhielt ich vor allem von der Philosophie im interdisziplinären Kreis um Joachim Ritter. In der Geschichte waren für mich vor allem der Neuhistoriker Kurt von Raumer, der Mediävist Herbert Grundmann, dann auch Werner Conze wichtig. Dieser brachte Zeit-, Sozial- und Bevölkerungsgeschichte nach Münster, wies uns auf Otto Brunner, andererseits auf die "Strukturgeschichte" Fernand Braudels hin. Ich selbst habe mich für ein historiographisches Thema meiner Dissertation entschieden, die von K. v. Raumer betreut wurde, habe aber auch zeitweilig dem von Conze geleiteten "Arbeitskreis für Sozialgeschichte" in Heidelberg angehört. Alle Historiker in Münster, wo ich nach der Promotion als wissenschaftlicher Assistent bis zur Habilitation blieb, waren bereits vor 1945 als Hochschullehrer tätig. Von ihrer Tätigkeit, ihren Erfahrungen, ihrem Engagement in jener Zeit haben sie allenfalls nebenbei und in Anspielungen gesprochen, soweit ich es gehört habe und mich erinnere. Wir haben sie nicht danach gefragt, auch nicht im Doktorandenkreis um Kurt von Raumer, obwohl wir fast alle Kriegsteilnehmer gewesen waren, wie wir auch nicht von ihm nach unseren Erfahrungen befragt wurden. Von mir aus habe ich - und das gilt bis heute - sehr ungern von meinen Erfahrungen gesprochen; sie erschienen mir gegenüber dem, was tatsächlich zwischen 1933 und 1945 geschehen war, nicht wichtig genug; auch empfand ich eine bis heute wache Skepsis gegen "Zeitzeugen"-Berichte, die ich nicht überprüfen kann: für den Historiker wohl eine notwendige Einstellung.

Zwei allgemeine Bemerkungen sind hier angebracht: Die Sprachlosigkeit über das in den ersten Nachkriegsjahren in seinem vollen Umfang erst bekannt werdende Geschehen in der NS-Zeit war die Folge von Betroffenheit, Verlegenheit, wohl auch schlechtem Gewissen, Vergessenwollen und der Verdrängung, aber auch der schwierigen Bewältigung des Alltags unter den Bedingungen von Besatzung, Hunger, Wohnungsnot, Flüchtlingselend, später Rückkehr der Kriegsgefangenen etc., und auch der Suche nach neuer Sinnorientierung.

An den Universitäten waren die Lehrenden stark absorbiert von den Aufgaben des Wiederaufbaus und von ihrem eigenen Bemühen, durch intensive Arbeit in der Lehre, Publikation und Forschung entweder zu beweisen, wie wenig sie vom Nationalsozialismus beeinflußt worden waren, oder aber ihre Verstrickung durch Leistung zu kompensieren. Wir älteren Studenten und Doktoranden, die Krieg und Gefangenschaft hinter sich hatten, wurden von ihnen sehr viel anders als junge Studenten behandelt und vielfach gefördert. Wir waren in der Tat - obwohl nach oft mangelhaftem Schulunterricht und langen Unterbrechungen unserer Kenntnisdefizite bewußt - unabhängiger, keine Schüler mehr, und die Professoren für uns nicht schon durch ihr Amt Autoritäten. Schließlich: Wichtiger als das Gespräch mit den Professoren wurde für uns das Gespräch unter "uns", das heißt: den Doktoranden, Assistenten, Habilitanden sowohl im eigenen Fach wie über die Fachgrenzen hinweg. Der Assistentenkreis der "Mondkälber" in Münster hat durch die spätere Karriere der Mitglieder einen gewissen Ruf erlangt. Hier wurde auch über die Reform der Hochschule, über neue Curricula, Interdisziplinarität - natürlich auch über Politik, Gesellschaft und Kultur diskutiert und gestritten. Für mich, der ich erst 1949 mit dem Studium wirklich beginnen konnte, waren die 50er Jahre, vor allem nach der Promotion (1955), eine Zeit der Entscheidung für Wissenschaft als Beruf, des zunehmenden Engagements in wissenschaftspolitischen Fragen, selbstverständlich auch der Beschäftigung mit der so schwer belasteten deutschen Geschichte der Gegenwart. Für die Erweiterung meiner historischen Erkenntnisinteressen an Geschichte waren damals die Arbeiten von Otto Brunner und Herbert Grundmann (Religiöse Bewegungen im Mittelalter), Hans Freyer ("Theorie des gegenwärtigen Zeitalters"), Hans Rothfels, Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter wichtig, um nur einige zu nennen und von philosophischen und literaturwissenschaftlichen zu schweigen, und zwar wegen ihrer Methoden und Fragestellungen. Die Frage, ob und wieweit sie einst dem Nationalsozialismus nahegestanden hatten, war mir damals weniger wichtig.

Was wußten Sie damals von der "NS-Vergangenheit" einzelner Historiker?

Selbstverständlich wußte man von den Historikern, die sich ausdrücklich als Nationalsozialisten bekannt hatten und nach dem Kriege amtsenthoben wurden: Günther Franz, Karl August Eckardt, Karl Richard Ganzer, Kleo Pleyer, Willi Hoppe, Ottokar Lorenz , Reinhard Höhn, Hellmuth Roessler u.a., die zum Teil wissenschaftlich als unwichtig marginalisiert wurden. Ebenso selbstverständlich wußte man, daß die nationale Orientierung der Historiker in Deutschland unter dem Eindruck von 1918 und Versailles sie zum starken Engagement für die Widerlegung der Kriegszielthese, für die Revision des Versailler Vertrags und für den deutschen Wiederaufstieg, oft verbunden mit der Ablehnung oder Reserve gegenüber der Weimarer Republik, veranlaßten. Auch ohne Zustimmung zur Rassenlehre, zu nordisch-germanischen Ideen, auch bei Ablehnung eindeutig nationalsozialistischer Historiker sind die deutschen Historiker in der großen Mehrheit eben wegen ihrer nationalen Orientierung nicht mit dem NS-System in Konflikte geraten - im Gegenteil. Viele haben sich in der Überzeugung, ihren wissenschaftlichen Standards nichts zu vergeben, von dem NS-System in Anspruch nehmen lassen. Diese Überzeugung ist nach dem Kriege zum Rechtfertigungs- und Entlastungskriterium geworden. Hinzu kam, daß die Geschichtswissenschaft aufs neue für die "Aufarbeitung" der katastrophalen deutschen Geschichte gefordert wurde, die "Zeitgeschichte" in den Vordergrund rückte, die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen, nach dem "Sonderweg" der deutschen Geschichte gestellt wurde und nicht nur jüngere, sondern auch die älteren Historiker, zum Teil in Anknüpfung und Fortentwicklung oder Umdeutung von Ansätzen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, nun aber auch in Diskussion und Rezeption französischer, amerikanischer und englischer Forschung neue Wege suchten und einschlugen. Im Prozeß der kritischen Neuorientierung, der theoretischen und methodologischen Selbstreflexion über Sinn und Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist die Frage nach dem Verhalten der älteren Historiker in der NS-Zeit lange außen vor geblieben. Conze leitete den sozialgeschichtlichen Arbeitskreis in Heidelberg und mit Brunner das Großunternehmen des begriffsgeschichtlichen Lexikons, bei dessen Erarbeitung Reinhard Koselleck die moderne Begriffsgeschichte zu einem bedeutenden historischen Forschungszweig entwickelte. Schieder und Wittram haben den Arbeitskreis "Theorie der Geschichte" bei der W. Reimers-Stiftung in Bad Homberg mit ins Leben gerufen, den ich dann organisiert habe. Hans Rothfels in Tübingen und Hans Herzfeld in Berlin förderten entscheidend die zeitgeschichtliche Forschung. Und das hieß: die älteren Historiker förderten die jüngeren, die Lehrer ihre kritischen Schüler, und zwar nicht nur mit ihren institutionellen Mitteln und ihrem Einfluß, sondern auch mit ihrer wissenschaftlichen Kompetenz, ihrem fachlichen Wissen, ihrem persönlichen Ansehen. Um von mir selbst zu sprechen: die wissenschaftliche, auch wissenschaftsorganisatorische und wissenschaftspolitische Leistung, die Anregungskraft, das gelehrte Wissen, die historische Bildung und auch der moralische Ernst akademischer Lehrer bei ihrem gegenwärtigen Tun war mir wichtiger als die Nachfrage nach ihrem Verhalten in der NS-Zeit. Was ich darüber erfahren habe, hat mich in einigen Fällen enttäuscht, in anderen nicht gewundert, in wieder anderen habe ich gelernt, daß nachträgliche Kritik auch die Frage nach den Erfahrungen und Einflüssen, Erwartungen und Bedingungen verlangt, unter denen Menschen sich so verhalten haben.

Insgesamt geurteilt: Die deutsche Geschichtswissenschaft war verwöhnt durch ihr hohes, im 19. Jahrhundert erworbenes wissenschaftliches Ansehen, ihre Geltung als führende Bildungsmacht. Sie verstand sich als Trägerin sowohl des deutschen Nationalgedankens in seiner politischen als auch in seiner kulturellen Gestalt. Gegenüber den Naturwissenschaften und den Sozialwissenschaften hat sie, mit Erfolg, ihre eigenständige Erkenntnisweise behauptet und sich damit lange der kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem sozialen und kulturellen Wandel des Industriezeitalters entzogen. So mangelte es ihr auch an kritischem Potential und an Widerstandskraft gegen den Nationalsozialismus.

Lassen Sie uns noch einmal zu ihrem beruflichen Werdegang zurückkommen. Wo kamen Sie nach Ihrer Habilitation in Münster unter?

Ich bekam schnell eine planmäßige Dozentenstelle, übernahm zwei Lehrstuhlvertretungen und war Nichtordinarienvertreter in der Fakultät. Während der Vertretung des Schnabelschen Lehrstuhls in München erhielt ich einen Ruf nach Frankfurt und wenige Wochen später nach Bochum als ordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Geschichte (1964). Als erster Historiker der neugegründeten, noch nicht eröffneten Ruhr-Universität rückte ich noch in den Gründungsausschuß ein. Das bedeutete für mehrere Jahre intensive Arbeit beim Aufbau des Fachbereiches Geschichte, im Senat, in zahlreichen Kommissionen und Funktionen. Wir haben damals - zusammen mit meinem unmittelbaren Fachkollegen Hans Mommsen - eine Satzung mit funktionierender Drittel-Parität beschlossen, die allerdings nach der Einführung der definitiven Universitätssatzung revidiert werden mußte: Im Herbst 1966 bin ich für zwei Terms als Gastprofessor an das St. Anthony's College in Oxford gegangen. Nach der Rückkehr war ich auch Mitglied der Fachbereichskommission für Geschichte bei der Gründung der Universität Bielefeld. Einen Ruf an die Universität Münster lehnte ich ab, die Möglichkeit, nach Bielefeld zu wechseln, habe ich nicht wahrgenommen, nachdem ich 1968 nebenberuflich Mitdirektor des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen geworden war und 1971 ganz als Direktor dorthin ging. Die Gastprofessur in Bochum habe ich noch jahrelang gleichzeitig mit einer solchen in Göttingen wahrgenommen. Seit der Bochumer Zeit bin ich ordentliches Mitglied der Historikerkommission für Westfalen, später auch der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, seit 1983 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

Anders als viele Ihrer Kollegen habe Sie sich immer auch wissenschaftspolitisch engagiert. Wie kamen Sie dazu?

Schon seit meiner Habilitation gehörte ich einer schnell zunehmenden Zahl von wissenschaftlichen Ausschüssen, Kommissionen, Beiräten im In- und Ausland an, war an der Gründung von wissenschaftlichen Institutionen beteiligt, war Vorsitzender bzw. Vorstandsmitglied von wissenschaftlichen Vereinen. Von 1972 bis 1976 gehörte ich dem Wissenschaftsrat an. Ich bin Ehrendoktor der Eötvös-Universität Budapest, Honorary Member der Hebräischen Universität Jerusalem, Ehrenmitglied eines Institutes der Päpstlichen Jesuitenuniversität in Madrid. Von 1990 bis 1997 war ich deutscher Vorsitzender der Deutsch-Tschechoslowakischen, dann der Deutsch-Tschechischen und der Deutsch-Slowakischen Historikerkommission. Die Schwerpunkte meiner Lehr- und Forschungstätigkeit, die vom späten Mittelalter bis zur Zeitgeschichte reichten, verlagerten sich mit der Zeit auf das 17., 18. und frühe 19. Jahrhundert .

Obwohl ich bei solcher vielfältigen Tätigkeit eine nicht unbeträchtliche Personalkenntnis gewann, so habe ich mich doch nur aus bestimmten Anlässen mit Historikern während der NS-Zeit beschäftigt - u.a. im Zusammenhang mit der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, mit der Geschichte der Göttinger und der Berliner Akademie der Wissenschaften. Ich war wohl auch zu stark auf andere Weise in Anspruch genommen, als daß ich der Frage nach dem Verhalten von Historikern in der NS-Zeit genauer nachgegangen wäre. Wohl dagegen habe ich mich - und bin es noch - mit der Bedeutung der "Gebildeten", insbesondere auch der verbeamteten Gebildeten in der deutschen Gesellschaft seit der frühen Neuzeit befaßt und darüber gearbeitet.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

"Mitläufer" gab es wie in allen wissenschaftlichen Disziplinen, z.T. aus zumindest anfänglicher Überzeugung, aus Opportunismus. Aber doch auch andere, die während der zwölf Jahre ihr Amt wahrnahmen, ohne als "Mitläufer" bezeichnet werden zu können, so Gerhard Ritter, Franz Schnabel, Karl Brandi, Werner Goetz - um nur einige zu nennen. "Mittäter", die nach dem Kriege entlassen, nach wenigen Jahren aber wieder an die Universität zurückkehrten oder ordentlich emeritiert wurden, waren u.a. auch Karl Alexander von Müller, neben Reinhard Höhn auch Günther Franz, und Ernst Anrich. "Aktive Politikberatung": ja, in vielen Fällen, so für die Ziele der Ostpolitik, für die deutsche Vorherrschaft auf dem Balkan oder die Organisation der Wirtschaft in Nordwesteuropa, für die "Umvolkungsmaßnahme" in Polen und in Böhmen und Mähren. Hierfür zogen die Nationalsozialisten vielfach Historiker wegen ihrer Geschichts- und Landeskenntnisse heran.

"Vordenker" waren im weitgespannten Sinne die vielen Historiker, die seit dem Ersten Weltkrieg mit nationalistischem, antiliberalem, antidemokratischem und antisozialistischem Engagement schrieben, für deutsche Raumgewinnung im Osten eintraten. Es war aber in vielen Fällen ein Vordenken ohne Ahnung der Verwendung ihrer Gedanken durch die Nationalsozialisten.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Ja. Man muß die Möglichkeit auf die "Kompensation" solcher "Entgleisungen" (ein unpassendes Wort!) zugestehen. Die Menschen sind darauf angewiesen!

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Die Formulierung "braune Wurzeln" halte ich für ungeeignet. Das innovative Element war nicht der Gehalt, nicht das Ziel der "Volksgeschichte", sondern die Interdisziplinarität landesgeschichtlicher Fragestellungen, die Abkehr von einseitiger "politischer" Geschichtsschreibung . - Wir "jüngeren" Historiker sind fast alle durch Otto Brunner angeregt worden, viele auch, vor allem die Mediävisten, durch die Forschungen und Projekte des Instituts für Rheinische Landesgeschichte.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Nicht als ein Unheil, aber doch als eine Verzögerung der kritischen Auseinandersetzung mit Traditionen und Tendenzen der deutschen Geschichtswissenschaft, der Öffnung zu den Sozialwissenschaften, der Revision noch aufrechterhaltener Legenden (deutsche Kriegsziele im 1. Weltkrieg), einer breiten Beschäftigung mit der Geschichte der NS-Zeit mit ihren Verbrechen, vor allem dem Judenmord und auch der produktiven Auseinandersetzung mit der marxistischen Geschichtswissenschaft. Diese Verzögerung hat indes um so intensivere, kritischere und radikalere Reaktionen durch jüngere Historiker ausgelöst, die, das muß betont werden, von den älteren nicht oder doch ohne Erfolg behindert worden sind.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Die nationalsozialistischen Verstrickungen einzelner Historiker sind zum Teil lange nicht bekannt gewesen. Wichtiger aber waren: berechtigte, im Einzelfall vielleicht heute erschütterte Achtung vor wissenschaftlicher Leistung und Qualität, Dankbarkeit, Förderung, auch wenn sich die "Schüler" in anderer Weise entwickelten und Wege gingen, die die "Lehrer" nicht mehr zu gehen bereit waren.

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Geschichtswissenschaft, genauer: Geschichtsschreibung übt immer und in allen Ländern Einfluß auf das Geschichtsbewußtsein, auf das gesellschaftliche Leben und auf die Politik aus. Dieser Einfluß wird zumeist, auch von den Historikern selbst, überschätzt: eine Folge auch der Tatsache, daß ihnen Verantwortung für die Zukunft oder Schuld für vergangene Katastrophen zugeschrieben wird, daß ihre Geschichtsdeutungen als Argumente für gegenwärtiges Handeln herangezogen oder auch mißbraucht werden. Die Deutsch-Tschechoslowakische Historiker-Kommission, die bereits erwähnt wurde, ist von den Außenministern beider Staaten auf Vorschlag der Historikerverbände berufen worden, um die Erforschung der gemeinsamen Geschichte zu fördern und diese gemeinsam zu deuten, um damit zur Verständigung beizutragen.

Die "Aufarbeitung" der Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik ist zögerlich in Gang gekommen und in vollem Gange. (In der ehemaligen DDR wurde sie sofort in Gang gesetzt, ihre kritische vergleichende Evaluation aber steht erst am Anfang.) Es wäre gewiß besser gewesen, die ältere Generation der aktiv in der NS-Zeit tätigen Historiker hätte als Zeitzeugen, vor allem auch als Zeugen für die gerade für ihre Wissenschaft spezifischen Gefahren der politischen und ideologischen Verwicklung geredet. Ich bin überzeugt, es hätte ihnen nicht geschadet, wenn sie es aus moralischer Verantwortung und mit viel Würde getan hätten - wie Reinhard Wittram.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Die nicht neue fachinterne Diskussion über Kontinuitäten in der deutschen Geschichtswissenschaft, die eine Affinität zum Nationalsozialismus begünstigt habe, erhielt dadurch, daß einige ihrer führenden Vertreter in der Nachkriegszeit wegen ihrer Tätigkeit in der NS-Zeit ins Gespräch gekommen waren, eine neue Aktualität. Die heftige Resonanz erklärt sich indes vor allem aus der neuen Stoßrichtung der Kritik, die sich gegen die arrivierten "Schüler" richtete, weil sie ihre Lehrer nicht nach ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus befragt und durch ihr Schweigen die notwendige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verzögert haben. Ihre Erklärung und Rechtfertigung des Verhaltens der Lehrer wie des eigenen Verhaltens und die Reaktionen darauf haben der Diskussion eine (nicht gerade förderliche) Emotionalität verliehen.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Das nehme ich nicht an, wenn begriffen wird, daß die Geschichtswissenschaft (nicht nur die deutsche) Wichtigeres zu diskutieren hat, nämlich die Neubestimmung ihres wissenschaftlichen Status, ihrer Erkenntnisweisen, ihrer gesellschaftlichen Funktion.

Herr Vierhaus, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: MPI Geschichte, Göttingen
Datum: 27.04.1999, 11.00-13.00 Uhr
Interviewer/in: Hacke, Steinbach-Reimann


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