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From: Peter Schoettler <PeterSchottler@compuserve.com>
Subject: Die Volksgeschichte der NS-Zeit
Date: Mon, 16 Jun 1997 08:28:06 -0400


Peter Schöttler

Deutsche Historiker im Nationalsozialismus - 10 Thesen

Zur Podiumsdiskussion in der "Arbeitsstelle für vergleichende Gesellschaftsgeschichte", Berlin, am 9.6.1997

1. Historiker und Historikerinnen sollten sich nicht zu Richtern aufschwingen - oder wie Marc Bloch sagte: Die Geschichtswissenschaft ist kein strafender Erzengel. Das gilt für die Ständekämpfe im alten Rom ebenso wie für die Religionskriege, Klassenkämpfe und "Völkerschlachten" der Neuzeit. Ja es gilt auch - zumindest im Prinzip - für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Statt moralische Urteile abzugeben, sollten Historiker als Wissenschaftler versuchen, zu "erklären", zu "verstehen" und zu "analysieren" (das genaue Wort und die epistemologischen Differenzen tun hier nichts zur Sache).

2. Dennoch wirft die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Shoah ein besonderes Problem auf: a) weil die damit verbundenen Verbrechen alle anderen Völkermorde der Geschichte in den Schatten stellen - also zunächst unbegreiflich erscheinen - , und b) weil dieses nahezu Unbegreifliche erst vor 50 Jahren zu Ende ging, also noch immer betroffene Akteure oder direkte Nachkommen unter uns sind. Sogar zivil- und strafrechtliche Konsequenzen sind immer noch möglich. Stärker als jede andere historische Forschung, erfordert daher die Analyse des Nazismus eine permanente Selbstanalyse der Historiker, die ihre zeitliche und emotionale Nähe zu ihrem "Objekt" selbtskritisch reflektieren müssen.

3. Zwar stellt sich dieses Problem für alle Historiker, doch in besonderem Maß für jene, die durch ihre familiale bzw. nationale Herkunft mit den Tätern und Opfern des Nazismus verbunden sind, also ein sei es noch so winziges persönliches "Interesse" am Ergebnis der betreffenden Forschungen haben könnten. Ungekehrt ergibt sich daraus die besondere Versuchung, sich als als Richter, Staatsanwälte oder auch als Strafverteidiger zu betätigen. Je nach geographischem Ort, nationaler Zugehörigkeit oder politischer Konjunktur ist nämlich auch das Gegenteil des "Verurteilens" denkbar - und eben dies hat es in Deutschland immer wieder gegeben : das "Entschuldigen", das Verharmlosen, ja das Verschleiern und Negieren.

4. Wenn also deutsche Historiker am Ende des 20. Jahrhunderts anfangen, über deutsche Historiker unterm NS zu sprechen, liegt es auf der Hand, daß sie sich in ganz besonderem Maße vor Voreingenommenheit hüten müssen - vor allem vor einem massiven Vorurteil zugunsten ihrer eigenen Berufsgruppe, ihrer eigenen "Zunft", wie sie sie ja nicht zufällig nennen, darüber hinaus zugunsten ihrer eigenen Lehrer und Doktorväter - die manchmal sogar Verwandte sind - und nicht zuletzt zugunsten ihrer eigenen Biographie und Identität, so wie sie sich in den letzten Jahren oder Jahrzehnten unter dem Einfluß dieser historiographischen Vätergeneration herausgebildet hat.

5. Als Andreas Hillgruber 1986 in seinem Büchlein Zweierlei Untergang seinen Lesern, aber auch seinen Kollegen vorschlug, sich in die sogenannten "Hoheitsträger" des NS-Regimes einzufühlen, um ihren Entscheidungsspielraum kurz vor dem sogenannten "Zusammenbruch" besser verstehen zu können, reagierten viele - leider nicht alle! - Historiker entsetzt. Was jedoch das Verhalten der Geschichtsprofessoren im "Dritten Reich" angeht, war eine solche retrospektive Identifikation schon immer das vorherrschende Interpretationsmuster. Nicht nur die Historiker, die im "Dritten Reich" mitmachten, haben nach dem Krieg ihre Praxis verharmlost, ja verleugnet, auch die Generation ihrer Schüler hat sich fast ausnahmlos mit dem Pseudo-Argument abgefunden und es an uns weitergegeben, daß unter den gegebenen "Umständen" leider kein anderes Verhalten möglich gewesen sei. Zur Veranschaulichung sei hier ein Satz von Rudolf Vierhaus zitiert, der gewiß kein unkritischer Historiker ist, aber dennoch zu jener Schülergeneration gehört, die sich nicht von den Vätern distanzieren wollte oder konnte. 1968 schrieb er in einer Rezension des Buches von Helmut Heiber (Walter Frank und sein "Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschland"), "daß es kein Verdienst ist, dreißig Jahre später promoviert worden zu sein, zu forschen und zu lernen als andere (...). Es gibt wenig Grund anzunehmen, daß sie, die Jüngeren, damals nicht auch überstark emotional engagiert gewesen wären, nicht auch die Revision von Versailles gefordert, das Großdeutsche Reich als Erfüllung der deutschen Geschichte angesehen, (...) Lebensraumvorstellungen und der politischen Romantik einer Neuordnung Europas durch Deutschland angehangen hätten" (HZ, 207, 1968, S. 617). Alle Kritiker werden damit von vornherein als Aufschneider beschämt. Auch hat man in Wahrheit jenen Historikern ja keineswegs nur "übererstarke Emotionalität" vorzuwerfen - in einer solchen Formulierung steckte bereits deren eigene Entschuldigung. Schockierend ist nicht allein die fehlende "Rationalität" von Wissenschaftlern (wobei darüber zu diskutieren ist, ob sie sich nicht geradezu "zweckrational" verhielten... ), sondern das fehlende Mitgefühl für die damals Verfemten und Verfolgten. Sogar nach 1945, als dies völlig ungefährlich war, wäre mehr davon nötig gewesen. Insofern hätte sich sowohl im Sinne der Gerechtigkeit und Selbstkritik wie auch der wissenschaftlichen Objektivität spätestens zu diesem Zeitpunkt die Forderung nach einer vollständigen und schonungslosen Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte ergeben müssen.

6. Das Gegenteil war bekanntlich der Fall. Die Generation der Mitmacher, die dem Regime teilweise sehr konkret zugearbeitet hatte - durch Publikationen und Expertisen, aber auch durch SS-Schulungskurse und nicht zuletzt im Rahmen der sogenannten "volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" (VFG) - , hat nach dem Krieg hartnäckig geschwiegen und verharmlost. Nationalsozialistische Historiker, so wurde unablässig beteuert, habe es eigentlich kaum gegeben. Allenfalls einige Fanatiker wie Walter Frank hätten sich dem Regime angedient und seien mit ihm untergegangen. Hans Rothfels z.B. sprach von "wildgewordenen Studienräten oder Außenseitern". Dabei wußte er durchaus, was seine ehemaligen Schüler und Kollegen innerhalb und außerhalb der Partei - sogar ein Walter Frank war nie "Parteigenosse"! - für den großdeutschen Expansionismus geleistet hatten. Noch Anfang der 80er Jahre schrieb Werner Conze, der die Praxis dieser Historikergruppe ebenfalls genau kannte, weil er ihr selbst angehörte und 1943 dafür eine Professur an der "Reichsuniversität Posen" erhielt: "Eine Auseinandersetzung mit der NS-Geschichtswissenschaft hielt ich (nach 1945) für unnötig, da die wenigen NS-Historiker damals durch Tod oder durch Amtsverlust aus der Öffentlichkeit ausschieden." Bei allem Verständnis für den Hang jedes Menschen zur autobiographischen Beschönigung, können wir heute nicht umhin, solche Stellungnahmen als Lebenslügen und bewußte Desinformation zu begreifen. Als Lebenslügen im Sinne jener Selbstdiskulpierung, die Primo Levi eindringich vorgeführt hat: "Beschreibt man (einen) Ablauf oft genug gegenüber anderen und sich selbst, verliert die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge allmählich ihre Konturen, und der Mensch glaubt schließlich mit voller Überzeugung an seine Geschichte (...); aus dem anfänglichen ´Wider-besseres-Wissen´ ist ´Treu-und-Glauben´ geworden. Der lautlose Übergang von der Lüge zum Selbstbetrug ist nützlich: wer auf ´Treu-und-Glauben´ lügt, lügt besser, spielt seine Rolle besser, findet leichter Glauben beim Richter, beim Historiker, beim Leser, bei seiner Frau und bei seinen Kindern." (Das Erinnern der Wunde). Aber zugleich auch als bewußte Desinformation: Denn nicht zuletzt diese Ablenkungen haben dazu geführt, daß jahrzehntelang das Verhalten der Historiker im "Dritten Reich" kein ernsthaftes "Thema" war. Kein Doktorand und erst recht kein Habilitand wäre auf die Idee gekommen, darüber zu forschen. Hatte Helmut Heiber in seinem Mammutwerk nicht schon alles gesagt, indem er uns aus der Schlüssellochperspektive an den Skandalgeschichten um Walter Frank partizipieren ließ? Ein Nestbeschmutzer - und ein Tor - , wer es anschließend noch gewagt hätte, die eigentliche NS-Geschichtsschreibung zu erforschen, nämlich die VFG als Transmissionsriemen einer agressiven, völkischen, ja rassistischen "Volksgeschichte". Teilweise bestanden diese Netzwerke ja auch nach 1945 - und bis heute - weiter (Herder-Forschungsrat, Arbeitsgemeinschaft für westdeutsche Landes- und Volksforschung usw.), und ihre Sprecher und Mitarbeiter gehörten zu den mächtigsten Ordinarien der Bundesrepublik. Darüber nachzudenken und zu publizieren, konnte zunächst nur in der DDR oder im Ausland gewagt werden. (Rudi Goguel, Über die Mitwirkung deutscher Wissenschaftler am Okkupationsregime in Polen..., 1964; Michael Burleigh, Germany turns Eastwards, 1988).

7. Deshalb läßt sich die Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte unterm NS heute von der Aufarbeitung ihrer Verdrängung nach 1945 nicht mehr trennen. Conzes Behauptung, daß die "wenigen NS-Historiker (...) durch Tod oder Amtsverlust ausschieden", ist offensichtlich falsch, doch welche Berufungskartelle und welche Beamtenseilschaften in den Kultusministerien sorgten dafür, daß die ihrer Lehrstühle verlustig Gegangenen in kürzester Zeit wieder an die Universitäten zurückkehrten oder zumindest an finanziell gleichwertige Institutionen gelangten? Und wie erreichte man, daß darüber möglichst wenig gesprochen wurde, wie entstand jener Konsens des "Beschweigens" (Hermann Lübbe) ausgerechnet in einer Berufsgruppe, die sich obsessiv mit Geschichte beschäftigt? Hier wird man u.a. die diskrete Regie des Historikerverbandes und den offensiven Lobbyismus der Ranke-Gesellschaft untersuchen müssen, die als pressure group der ehemaligen NS- und SS-Mitglieder fungierte und deren Tagungen, Buchreihen und Zeitschriften (etwa Das Historisch-Politische Buch) keineswegs nur harmlose Foren der politischen Resozialisierung waren, sondern eine "Gemeinschaft" bildeten, in der sich überwintern ließ, bis "alles vergessen" war. Wie effektiv und teilweise auch konspirativ solche Netzwerke von Ehemaligen funktionierten, hat erst kürzlich der Fall des SS-Germanisten Schneider-Schwerte in Aachen demonstriert.

8. Während die "Entdeckung" der VFG als den eigentlichen Trägern einer regimekonformen Geschichtsschreibung die Legende von der gescheiterten Gleichschaltung der Historiker endgültig zerstört hat, wird seit einigen Jahren viel darüber diskutiert, ob die sogenannte "Volksgeschichte" nicht dennoch einen "innovativen Reformansatz" im Vergleich zur seinerseits üblichen politischen Historie dargestellt habe, aus dem sich nach 1945 - über Umwege und mit westlichen Ergänzungen - die "moderne deutsche Sozialgeschichtsschreibung" entwickeln konnte (Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodologische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, 1993). Diese These, die auf die Debatte um die spezifischen "Modernität" des NS verweist, setzt jedoch voraus, daß man innerhalb der "Volksgeschichte" zwischen reaktionärer Hülle und innovativem Kern unterscheiden kann. Auch ist einzuwenden, daß die bloße Verwendung statistischer oder kartographischer Techniken oder die Durchführung von interregionalen bzw. internationalen Vergleichen noch nicht ausreicht, um einem ansonsten völkisch oder rassistisch argumentierenden Text eine "innovativen Ansatz" zu bescheinigen. Vielmehr entsteht der Eindruck, als ob angesichts der offenkundigen personellen und ideelen Kontinuität v.a. zur frühen Nachkriegssozialgeschichte aus der Not eine Tugend gemacht und in retrospektiver Teleologie fast um jeden Preis nach "Reformansätzen" gesucht würde. Text und Kontext, Begriff und Methode, Sprache und Denken müssen dafür auseinandergerissen und neu "sortiert" werden. Dabei ist dies genau genommen dasselbe Verfahren, mit dem auch neokonservative Verharmloser, "Postives" und "Negatives" in der Geschichte des Hitler-Regimes zu entmischen versuchen. Demgegenüber ist gegenüber NS-Historikern ein doppeltes methodisches Korrektiv angebracht: Erstens müssen ihre Schriften in ihrem praktischen Zusammenhang betrachtet werden, und zweitens müssen sie als Texte ernster genommen und wirklich gelesen werden. Die scheinbar innovativen Schriften eines Petri oder Conze oder Brunner lesen sich anders, wenn man weiß, daß sie im Auftrag oder Zusammenhang der VFG entstanden sind. Doch sie lesen sich auch anders, wenn man sie "von innen" dekonstruiert und ihren wissenschaftlichen Anspruch unter Berücksichtigung der schon damals üblichen bzw. denkbaren Kriterien überprüft.

9. Historiker sind keine Richter, aber daß ausgerechnet die deutschen Historiker sich zu Wahlverteidigern der deutschen Historiker unterm NS machen, ist nicht länger hinzunehmen. Zwar ist der alte Vorwurf der "Nestbeschmutzung" gegenüber Kritikern inzwischen vom Tisch, doch bis heute wird immer wieder betont, "daß wir nach aller Wahrscheinlichkeit vor 1945 ähnlich gehandelt hätten" (Peter Lundgreen). Das klingt ehrlich und verdient durchaus Respekt. Doch in der Konsequenz ergibt sich daraus oft die Empfehlung, sich in der Radikalität der Aufarbeitung bitte etwas zurückzuhalten. Obwohl ja auch die umgekehrte Annahme denkbar wäre: Wie viele von uns hätten damals vielleicht anders gehandelt und wären wegen demokratischer Aktivitäten entlassen (Berufsverbot), vielleicht sogar verhaftet worden? Warum gilt diese Frage als Anachronismus, die andere dagegen nicht? Jedenfalls erinnert jener "hilflose Antifaschismus" (W.F. Haug) auf fatale Weise an das bei allen Ehemaligen beliebte Argument, daß eigentlich nur "urteilen" dürfte, wer selbst "dabei" gewesen sei. Den Opfern gegenüber ist dies blanker Zynismus. Wenn Historiker darauf zurückgreifen, obwohl sie damit, genau genommen, ihre eigene Wissenschaft für unmöglich erklären, liegt der Verdacht nahe, hier gehe es tatsächlich um Apologie.

10. In seinem Buch "Endlösung" hat Götz Aly 1995 die Frage aufgeworfen, warum sich der deutsche Historikerverband noch immer nicht ausdrücklich zur Mitschuld von Historikern an der völkermörderischen Politik des Nationalsozialismus bekannt und die Opfer bzw. ihre Nachkommen um Verzeihung gebeten hat. Man sollte diesen Vorschlag aufgreifen und dem nächsten Historikertag einen entsprechenden Antrag vorlegen. Desgleichen sollte der Historikerverband auf vielfältge Weise die Erinnerung an die ermordeten oder vertriebenen Kolleginnen und Kollegen wachhalten. Er könnte z.B. seine Preise für die besten geschichtswissenschaftlichen Bücher oder Aufsätze nach ihnen benennen, etwa nach Sigmund Hellmann oder Hedwig Hintze. Damit wären alle deutschen Historiker geehrt.


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