Quelle - email <H-Soz-u-Kult>

From: Joachim Wintzer <jwintzer@urz-mail.urz.uni-heidelberg.de>
Subject: Re: Volksgeschichte der NS-Zeit
Date: Tuesday, July 8, 1997 12:41:13 MET


Mit Interesse habe ich den Bericht ueber die Diskussion zur Volksgeschichte im Nationalsozialismus und die Thesen von Peter Schoettler gelesen. Da ich ueber das Thema selbst nicht gearbeitet habe, wollte ich zunaechst einmal die Reaktionen auf diesem Gebiet forschender Listenmitglieder abwarten. Aber da diese Einstellung anscheinend von allen Abonnenten dieser Liste geteilt wurde/wird, moechte ich jetzt mit den folgenden Ueberlegungen zur Diskussion beitragen.

1. In der oeffentlichen Diskussion werden derzeit die Namen von Schieder, Conze, Erdmann und W. Mommsen teilweise in einem Atemzug genannt. Fuer die zu fuehrende Diskussion ueber die Rolle der Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus sollte vielleicht zwischen Conze und Schieder einerseits sowie Erdmann und W. Mommsen andererseits getrennt werden. Die Vorwuerfe gegen die letzteren sind weitaus weniger schwerwiegend. Da die Geschichtswissenschaft sehr sensibel gegenueber Zeitstroemungen ist, ist es eigentlich nicht ueberraschend, dass sich Historiker im Dritten Reich an den herrschenden Diskursen beteiligt haben, auch und gerade im affirmativen Sinne. Hier scheint ein Vergleich mit der Rechtswissenschaft lohnend. Das Paradebeispiel ist Carl Schmitt, dessen Denken und Wirken vergleichsweise gut erforscht ist. Dirk van Laak hat seine Rolle in der Bundesrepublik Deutschland in einer Studie dargestellt: "Gespraeche in der Sicherheit des Schweigens". Die Geschichtswissenschaft kennt keinen Schmitt, aber die Aufarbeitung koennte in aehnlicher Art und Weise nach dem Vorbild der Studie Van Laaks erfolgen. Einige vorlaeufige Antworten, wie der 'Diskurs des Beschweigens' funktioniert hat, liefert ferner der Artikel von Ulrich Herbert, welcher in der Zeit Anfang des Jahres erschienen ist.

2. Peter Schoettler zitiert aus der Rezension von Rudolf Vierhaus ueber das Buch von Helmut Heiber (Walter Frank und sein "Reichsinstitut fuer die Geschichte des neuen Deutschland"):

"dass es kein Verdienst ist, dreissig Jahre spaeter promoviert worden zu sein, zu forschen und zu lernen als andere (.). Es gibt wenig Grund anzunehmen, dass sie, die Juengeren, damals nicht auch ueberstark emotional engagiert gewesen waeren, nicht auch die Revision von Versailles gefordert, das Grossdeutsche Reich als Erfuellung der deutschen Geschichte angesehen, (.) Lebensraumvorstellungen und der politischen Romantik einer Neuordnung Europas durch Deutschland angehangen haetten" (HZ 207, 1968, S. 617). Alle Kritiker werden damit von vornherein als Aufschneider beschaemt. Auch hat man in Wahrheit jenen Historikern ja keineswegs nur "ueberstarke Emotionalitaet" vorzuwerfen - in einer solchen Formulierung steckte bereits deren eigene Entschuldigung. Schockierend ist nicht allein die fehlende "Rationalitaet" von Wissenschaftlern (wobei darueber zu diskutieren ist, ob sie sich nicht geradezu "zweckrational" verhielten.), sondern das fehlende Mitgefuehl fuer die damals Verfemten und Verfolgten.

Meiner Ansicht nach hat Peter Schoettler hier nicht das beste Beispiel gewaehlt, um seine Kritik zu illustrieren. Das Gedankenexperiment, was man vor 100/50/25 Jahren an der Stelle der damals handelnden und denkenden Menschen getan haette, ist insofern immer problematisch, als haeufig unklar bleibt, welches Wissen und welche Einstellungen man in die Vergangenheit 'mitnehmen' darf. Mit heutigen Massstaeben kann man die von Vierhaus erwaehnten Einstellungen natuerlich kritisieren. Nur welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass wir heute denken, wie wir denken?

Auch scheint mir noch nicht Vierhaus' Behauptung widerlegt, dass es nach unserem Erfahrungswissen zu 'erwarten' war, dass die Revision von Versailles und die Bejahung des Anschlusswunsches Oesterreiches sich gegenueber anderen Diskursen durchsetzen konnte. Funktional gesehen gab es diesen Revisionismus auch in der Bundesrepublik gegenueber der DDR. Dagegen halte ich Schoettlers Kritik an der Apologie der Lebensraumvorstellungen und der politischen Romantik fuer berechtigt. Diese muessen wohl als spezifisch deutsch angesehen werden und koennen nicht unter die 'normale' Unzufriedenheit von Kriegsverlierern subsumiert werden.

Generell sollten wir Historiker uns bezueglich einer moeglichen Identifikation groesstmoegliche Zurueckhaltung auferlegen, weil wir ansonsten Gefahr laufen, uns ueber die Frage der "richtigen" Identifikation zu streiten und weniger ueber das Geschehen selbst. Die Debatte ueber die DDR-Geschichte hat doch gezeigt, dass der anzulegende moralische Massstab haeufig politisch motiviert ist.

3. Man wird die Frage der "Modernitaet" der Volksgeschichte jeweils anders beantworten koennen, je nachdem, ob man sich fuer die Geschichte der Geschichtswissenschaft oder fuer die Intentionen der "Volksgeschichtler" interessiert. Neue Methoden, welche neue Erkenntnisse versprechen und ein bestehendes Paradigma ueberwinden, koennen als innovativ bezeichnet werden.

Dass Conze und Schieder nach 1945 einfach "weitermachen" konnten, zeigt, dass die neuen Methoden (nicht der Diskurs) zukunftstraechtig waren, ansonsten haetten sie sich nicht durchsetzen koennen.

Peter Schoettler plaediert dafuer, dass wir Historiker heute aber diese Sichtweise nicht einnehmen koennen und sollen, da die Volksgeschichte voelkisch und rassistisch argumentiert habe. Fuer die Volksgeschichte als Diskurs und fuer die Volksgeschichtler als Historiker wird dies zutreffend sein, wenn sich Peter Schoettlers Interpretation durchsetzen sollte.

Eine Neubewertung der Sozialgeschichte bundesrepublikanischer Praegung aufgrund der Entdeckungen der letzten Jahre scheint mir nicht notwendig zu sein. Peter Schoettler weist zurecht darauf hin, dass die Annales-Schule auch aehnliche Konzepte wie die Volksgeschichte hatte, die Diskursformen und das Erkenntnisinteresse aber voellig unterschiedlich gewesen sind. So war/ist es doch auch mit der Sozialgeschichte. Es wird jedoch sicherlich interessant zu erfahren sein, was die Schuelergeneration geahnt und gewusst hat. Inwiefern trug sie zu einer "Kultur des Beschweigens" bei? Haben sich Wehler, Gall, Dipper u.a. inzwischen zu ihrem Wissen/Nichtwissen geaeussert? Die tatsaechliche Verstrickung Schieders und Conzes (und anderer, heute weniger bekannter Historiker auch) in den Holocaust wird selbstverstaendlich ohne Scheuklappen aufzuarbeiten sein. Der von Peter Schoettler herausgegebene Sammelband sowie die Arbeit von Ingo Haar koennen eine Grundlage bieten, auf welcher sich weiterdiskutieren laesst.

Joachim Wintzer
Universitaet Heidelberg
Email: <gd9@ix.urz.uni.heidelberg.de>


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