Schirmer, Jan: Die Lettner des 13. und 14. Jahrhunderts in Elsass-Lothringen. (Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters, Bd. 2); Verlag: Duehrkohp & Radicke Göttingen 1998, 1 CD-ROM, ISBN: 3-89744-025-3, Preis: DM 39,-.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Sven Lembke

Laien hassen Priester und das schon von alters her (1). So lautet zumindest eine Feststellung des berühmten spätmittelalterlichen Predigers im Straßburger Münster, Geilers von Kaysersberg (1445-1510). Geilers Aussage radikalisierte eine alltägliche Wahrnehmung seiner Zeit, in der sich Laien und Kleriker hinsichtlich der spezifischen Lebensführung und der daraus resultierenden persönlichen Qualität in geradezu elementarer Weise voneinander unterschieden. Eine deutliche Abgrenzung zwischen Laien und Klerikern vergegenständlichte sich seit dem Hochmittelalter im Lettner. Der Lettner stellte eine oft mit Bildern und Figuren verzierte und mit Durchgängen durchbrochene Mauer dar, die die im Chor zelebrierenden Kleriker von den andächtigen Laien im Kirchenschiff trennte oder jene über die Zuschauer erhöhte, wenn Priester für kultische Handlungen auf den Lettner stiegen.

Jan Schirmers Untersuchung über Lettner des 13. und 14. Jahrhunderts in einem geographischen Gebiet, dessen Teile wir uns angewöhnt haben, mit Elsass oder Lothringen zu bezeichnen, bietet im wesentlichen nichts anderes als die auf CD-ROM gebrannte Textdatei seiner Magisterarbeit. Diese kunsthistorische Abschlußarbeit wurde in der vorliegenden Form 1993 bei Prof. Dr. Antje Middeldorf-Kosegarten in Göttingen angefertigt. Der argumentative Stil des Textes ist geprägt von der akademischen Situation, in der er entstand. Die Auseinandersetzung mit der Forschung strukturiert die gesamte Darstellung. Der eigene Standpunkt des Autors wird gleichsam zurückgehalten.

Jan Schirmer befaßt sich mit der Frage, nach welchen Kriterien sich die von ihm untersuchten Lettner in elsässischen und lothringischen Kirchen des 13. und 14. Jahrhunderts typisieren und chronologisch ordnen lassen. Seine Typologie basiert auf der Hervorhebung einiger baulicher Merkmale. Er spricht von Kanzellettner, Hallenlettner, Schrankenlettner, Bettelordenslettner und den für die Typologie etwas merkwürdig konzeptionalisierten "Nicht näher zu bestimmende[n] Lettner[n]". Wahrgenommen werden Lettner lediglich als architektonische Lösungen und nicht als baulicher Ausdruck einer sozialen oder liturgischen Funktion. Andere "Abschrankungen" des Chores vom Raum der Laien können aufgrund dieses Ansatzes weder als funktionale Äquivalente untersucht noch unter einer gemeinsamen Fragestellung subsumiert werden. Fragen, warum sich gerade in dieser Zeit ein klerikales Bedürfnis nach Abgrenzung ausbildete und im Lettner und anderen baulichen Formen niederschlug, bleiben unbedacht. In dieser Hinsicht wird man eher auf die auch für Schirmer weithin maßgebliche Dissertation Kirchner-Doberers zurückgreifen (2). Oder man läßt sich von Duby dafür sensibilisieren (3), in welchen Formen sich in der fraglichen Zeit die Beziehung zwischen Gläubigen und Klerikern im kirchlichen Raum - bis hin zur relativen Berührbarkeit zwischen Laien und Priester - ausgestaltete.

Wie gut, daß der Autor auf eine so gründliche Arbeit wie die von Erika Doberer, damals noch Doberer-Kirchner, zurückgreifen kann. Ihre Dissertation über "Die deutschen Lettner bis 1300" (4) bietet ihm eine Fülle von Bemerkungen, Zitaten aus dem mittelalterlichen Schrifttum und Beobachtungen älterer Forschung, die er zur Darstellung verwendet (5). (Dem über 40 Seiten langen Literaturverzeichnis, in dem Doberers einschlägige Beiträge versammelt sind, mag man lediglich ihren Artikel "Lettner" im Lexikon des Mittelalters hinzufügen (6).) Schirmer löst sich vor allem negativ von ihr, indem er Doberers Bemühungen um eine vielfältige Kontextualisierung des Lettnerbaus in gesellschaftliche Zusammenhänge ausschließt.

Das eigentliche Problem eröffnet sich für den Autor dadurch, daß ihm das für eine kunsthistorische Arbeit konstitutive schöne Objekt fehlt. Die von ihm beschriebenen Lettner stehen heute nicht mehr. Ihre einstige Gestalt läßt sich nur noch durch alte Abbildungen, teilweise auch schriftliche Bemerkungen und Analogieschlüsse rekonstruieren.

Säkulare Umorientierungen motivierten die Zerstörung der Lettner. Eine veränderte Wahrnehmung erlaubte Umgestaltungen im kirchlichen Raum nicht nur zur Zeit der Reformation und des Tridentinums, sondern auch im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen. Nicht bei der Einführung des protestantischen Kultes 1529 wurde der Lettner im Straßburger Münster beispielsweise abgebrochen, sondern erst im Zuge der Rekatholisierung 1681, als der Bischof Wilhelm Egon von Fürstenberg ein Jahr später den Chor auf Kosten des Lettners vergrößern ließ.

Neben der Analyse der Forschungsliteratur sowie der Erfassung der erhaltenen Monumente und Fragmente in Verknüpfung mit der stilistischen Analyse des Materials bezeichnet Schirmer es anfänglich als das wesentliche Ziel seiner Arbeit, erstmals eine relative Chronologie der nachweisbaren Lettner des 13. und 14. Jahrhundert im Elsass und in Lothringen zu erarbeiten. Dennoch wird die Rekonstruktion der Lettner den größten Raum in dieser Arbeit einnehmen.

Kirchner-Doberer hat bereits eine Typologie entworfen, die das Gerüst für den Katalog von Kirchen abgibt, die Schirmer untersuchen will. Diese Typologie will Schirmer noch präzisieren. Die Interpretation der baulichen Gestalt und - soweit erschließbar - der figürlichen Ausstattung der Lettner soll ihm dabei helfen. Schirmers Arbeit teilt sich in mehrere aufeinander aufbauende Kapitel, aus denen inhaltlich zwei hervorragen. Ersten wird die Lettnertypologie auf phänomenologischer Basis in Auseinandersetzung mit der maßgeblichen Arbeit von Doberer-Kirchner entfaltet. Zweitens wird ein umfangreicher Katalog von Kirchen ausgearbeitet (7), deren Lettner in dieser Arbeit rekonstruiert und typisiert werden. Der Leser erhält viele Informationen zur Baugeschichte dieser Kirchen, aber auch über die der Kathedralen in Chartres und Paris, die ausführlich zum Vergleich herangezogen werden.

Im Anschluß an die Formgeschichte der rekonstruierten Lettner verspricht das Inhaltsverzeichnis, daß, anders als der Zeitrahmen des Titels nahelegt, eine These über die Entstehung der Lettnertypen im späten 12. (sic!) und 13. Jahrhundert formuliert werden soll. Ihre Entstehung wird - das kann nach den methodischen Entscheidungen zur typologischen Darstellung nicht mehr verwundern - nicht mit dem Umbruch der klerikalen Organisation, der gern ereignisgeschichtlich als Ende des Investiturstreites bezeichnet wird, oder mit der institutionellen Reflexivität des kirchlichen Betriebs (Gregorianische Reform) Verbindung gebracht. Selbst die liturgische Funktion bleibt ein untergeordneter Gesichtspunkt. Schirmer leitet die verschiedenen Formen der Lettner aus dem Zusammenwachsen je verschiedener kirchenbaulicher Elemente ab, z.B. soll der Kanzellettner aus der "Verbindung einfacher Schranken" erwachsen sein und aus dem Wunsch nach einem erhöhten Leseplatz. Die Publikation schließt mit einem reichen Abbildungsteil (128 Tafeln zählt der Autor).

Ein typisierender Blick, der von den Bedingungen für die Entstehung kultureller Objekte absieht, verführt zu anachronistischen Assoziationen. Schirmer spricht sicherlich in aller Unschuld, in der Sache aber wie aus reichsdeutscher Perspektive, vom "elsässisch-lothringischen" Raum. Elsass-Lothringen ist keine historische Landschaft. Der Autor selbst schildert, wie im Hochmittelalter Diözesan- und Herrschaftsgrenzen seinen Betrachtungsraum zergliederten. Besonders unglücklich sind Begriffsbildungen, die wie der Ausdruck "elsässisch-lothringischer Lettner" neben der (nicht bestehenden) räumlichen eine mentale Einheit postulieren. Der Autor scheitert mit dem Versuch, die praktische Beschränkung seiner Untersuchung auf Kirchen im Elsass und in Lothringen mit sachlichen Strukturen zu rechtfertigen.

Schirmer versucht, in einer zeitlosen formbetrachenden Anschauung der Objekte Lettner, deren Ikonographie und bauliche Vorbilder zu rekonstruieren. Die Bildsprache erhält keine Grammatik, sie wird in ihrer Form nicht erklärt, sondern zusammengepuzzelt. Bauliche oder ästhetische Analogien werden chronologisch aufgereiht, so daß das frühere Objekt die Form des später entstandenen "erklärt" (8). Die verschiedenen Figuren beim Straßburger Figurenschmuck muten den Autor so an, daß er sie nicht in die Pariser Tradition stellen will. Sie werden nicht mehr nach ihrer Bedeutung für die Typologie des Lettners befragt, sondern selbst zum Gegenstand eines kunsthistorischen Kommentars. Die Plausibilität der rekonstruierten Teilobjekte (Bildprogramme) vermindert sich eminent, wenn man nicht die impliziten ästhetischen Kategorien des Autors teilt (9).

Die Untersuchung mutiert zuweilen zu einer Huldigung gegenüber den schönen Gegenständen. Die wesentlichen Argumente beziehen sich auf subjektive Anmutung und objektive Assoziation. Schirmer liefert einen Kommentar zu den Lettnerbauten; eine Einordnung in den historischen Kontext unterbleibt.

Installation und Handhabung der CD-ROM selbst sind einfach. Die Systemvoraussetzungen dürften den gängigen Ausrüstungen (Windows 3.xx oder höher, kompatibler PC ab 486 oder Apple Macintosh, jeweils mit mindestens 8 MB Arbeitsspeicher) entsprechen. Über die mißliche oder unnötige Darstellung auf CD-ROM kann ich mich kurz fassen, weil Produkte des Verlages in dieser Liste bereits vorgestellt wurden. Besonders ist auf Regula Schmidts Rezension der thematisch naheliegenden CD-ROM Beckermanns über das Grabmal Heinrichs III. in Goslar zu verweisen.(10)

Am einfachsten bewegt man sich durch den Text, nachdem man ihn durch einen Ausdruck wieder zu einem Buch gemacht hat. Wie groß die Affinität zum Buch ist, signalisiert der vorab schon eingegebene Druckbereich der ganzen Arbeit (S.1-295). Noch nicht einmal die in der Darstellung als Beweismittel zitierten Abbildungen sind durch ein Kontextmenü aufzurufen. Der Leser wird gezwungen, eher umständlicher als im Buch die Bilder über die Ansicht "Lesezeichen und Seite" zu suchen und das gewünschte Bild sichtbar zu machen. Der Export von Textpassagen ist möglich, aber wenig komfortabel.

Nachdem dem Rezensenten Zweifel gekommen waren, welche inhaltlichen Gründe es geben könnte, diese Arbeit als CD-ROM zu vertreiben, hat sich durch eine Nachfrage beim Verlag Folgendes ergeben: Die Kosten seien für den Autor minimal, so beschied der Verlag, und zudem biete die Arbeit mit einer Textdatei gegenüber einer gedruckten Textseite den spezifischen Vorteil, eine Suchfunktion anwenden zu können. Gerade bei modernen Autoren, bei denen man davon ausgeht, daß Autor und Leser mit ähnlichen Kategorien die Wahrnehmung der Wirklichkeit organisieren, sollte der Verzicht auf ein - zugegeben zeitaufwendig herzustellendes - gutes Register gerechtfertigt und nicht als Zugewinn gepriesen werden. Ein gutes Register erfaßt und strukturiert die Datenmenge besser, als wenn der Leser mit Hilfe des Suchbefehls versuchen muss, zu bestimmten Inhalten zu gelangen. Aufgrund der typologischen Gliederung kann der Leser auch für das rein praktische Nachschlagen nicht mit einem Blick auf das Inhaltsverzeichnis erfassen, wo die für ihn relevante Kirche behandelt wird, und gleichfalls nicht, wo sich Auskünfte zu spezielleren Sachverhalten wie z.B. den Bildprogrammen der Lettner befinden. Die CD-ROM empfiehlt sich damit als Medium nicht aus technischen, sondern aus finanziellen Gründen. Sie erleichtert den Zugang zum Markt der Fachliteratur.

Schirmers Arbeit erweist sich als kenntnisreich und informativ für denjenigen, der sich für die einstige Gestalt der Lettner in den in der chronologischen Übersicht (11) aufgelisteten Kirchen interessiert. Wer dagegen beansprucht, Erklärung und Einordnung dieser baulichen Manifestationen im kirchlichen Raum zu erhalten, wird enttäuscht. Die Entscheidung für das Medium der CD-ROM rechtfertigt sich nicht durch die Art der Darbietung; sie signalisiert nur neue publizistische Möglichkeiten.

Anmerkungen:

(1) Das Zitat lautet korrekt. "Ir leyen hassen uns pfaffen / und ist auch ein alter hass zwischen euch und uns." Vgl. Johann Geiler von Kaysersberg, Die Emeis. Dis ist das buch von der Omeissen, und auch der Herr der koennig ich diente gern, Straßburg Johann Grüninger 1516, 28v. Zur Stelle vgl. Bob Scribner, You hate us priest, in: Peter A. Dykema and Heiko A. Oberman (Hgg.): Anticlericalism in late medieval and early modern Europe, Leiden ; New York ; Köln : Brill, 1994, (Studies in medieval and reformation thought ; 51), S.167-207.

(2) Kirchner-Doberer, Erika: Die deutschen Lettner bis 1300, Diss. Wien 1946, S.148ff.

(3) Duby, Georges: Das Zeitalter der Kathedralen, Kunst und Gesellschaft 980-1420, Frankfurt a.M. 1992, S.394.

(4) Kirchner-Doberer, Erika: Die deutschen Lettner bis 1300, Diss. Wien 1946.

(5) Schirmer, Lettner, S.19 bietet inhaltlich nichts anderes als eine Umstellung von Doberer-Kirchner, Die deutschen Lettner, S.142.

(6) Doberer, Erika: Artikel "Lettner", in: Lexikon des Mittelalters, Bd.5, Sp.1914-1915.

(7) Alle Namen der behandelten Kirchen aufzuzählen, wäre sehr aufwendig, ich nenne einige wichtige: ehemalige Benediktinerinnenkirche Sainte-Richarde (heute Saints-Pierre-et-Paul) in Andlau, die Kirchenbauten in Colmar, die ehemalige Dominikanerkirche in Gübwiller, die ehemalige Benediktinerkirche in Marmoutier (heute Saint-Étienne), Kirchenbauten in Metz, die ehemalige Benediktinerkirche in Murbach (heute Saint-Léger), Saint-Florent in Niederhaslach, ehemalige Abteikirche (jetzt Sainte-Marie et Sainte-Gundelinde) in Niedermünster, Kathedrale Saint-Étienne in Toul, Notre-Dame in Rouffach, Saint-Georges in Sélestat, die großen Straßburger Kirchenbauten, Kathedrale Notre-Dame in Verdun, Kirchenbauten in Wissembourg innerhalb des geographischen Rahmens.

(8) Schirmer, Lettner, S.48: "Eingestellte feine doppelte Dreipaßarkaden ohne Vierpaß finden sich bereits am Chartreser Lettner, doch wird aus diesen Beispielen ersichtlich, daß der Straßburger "Lettnermeister" die aktuellsten Gestaltungsformen der Pariser Architektur seiner Zeit gekannt haben muß. Ein Vergleich mit der bekannten Lettnerarchitektur der Mitte des 13. Jh. bestätigt diese Aussage. Der Chartreser Lettner ist nach heutigem Wissen über den erhaltenen Denkmälerbestand sicher das Vorbild für nachfolgende Hallenlettner des 13. Jh. (s. Taf. 19)."

(9) Schirmer, Lettner, S.62: "Im Jahre 1415 wurde auf dem Lettner ein großes Silberkreuz aufgestellt, das jedoch nicht mehr existiert. Ein Kruzifix auf einem Triumphbalken wurde 1489 angebracht. 1529, im Jahr der Protestantisierung des Münsters, wurde es bereits wieder entfernt und ist heute nicht mehr nachzuweisen."

(10) Schmid, Regula: Rezension der CD-ROM: Beckermann, Wolfgang: Das Grabmal Kaiser Heinrichs III: in Goslar, (Beiträge und Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters, 3), Goettingen: Duehrkohp und Radicke 1998, in H-SOZ-U-KULT am 11.5.1999.

(11) Schirmer, Lettner, S.34f.

Rezensiert fuer H-Soz-u-Kult von:

Sven Lembke, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Email: <slembke@ruf.uni-freiburg.de>


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Sven Lembke" <slembke@ruf.uni-freiburg.de>
Subject: Rez. CD-Rom: Lembke ueber "Schirmer: Die Lettner ..."
Date: 12.10.99


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