Interview mit Wolfgang  J. Mommsen
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Wolfgang J. Mommsen, geboren 1930 in Marburg, studierte Geschichte, Philosophie, Politische Wissenschaften und Kunstgeschichte in Marburg und Köln. Er promovierte 1958 bei Theodor Schieder mit einer Arbeit über "Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920". Von 1959 bis 1966 war er wissenschaftlicher Assistent in Köln, nach seiner Habilitation 1967 Privatdozent, bevor er 1968 auf den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Düsseldorf berufen wurde. Mommsen leitete von 1977 bis 1985 das Deutsche Historische Institut in London und war von 1988 bis 1992 Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands.

Wolfgang J. Mommsen ist inzwischen emeritiert und lebt heute in Berlin.

Mommsen: "Die Jungen wollen ganz unbefangen die alte Generation in die Pfanne hauen."

Teil 1: Biographische Fragen

Herr Mommsen, Sie sind 1930 geboren und der Sohn eines Historikers, der nach 1945 nicht wieder in den Wissenschaftsbetrieb zurückkehren konnte. Könnten Sie uns Näheres zum sozialen und politischen Milieu erzählen, in dem Sie aufgewachsen sind?

Ich bin in einem ganz typischen akademischen Milieu in Marburg, einer alten Universitätsstadt, aufgewachsen und kannte schon als Junge die Professoren und deren Familien, jedenfalls dem Namen nach. Der berühmte Theologe Rudolf Karl Bultmann und der bekannte Jurist Ennicerus gehörten beispielsweise zur unmittelbaren Nachbarschaft. Für mich war nach 1945 die große Frage: Was tun? Ich erlebte den psychischen und materiellen Zusammenbruch meines Vaters, der es nie verwunden hat, daß man ihn aus der Universität hinausgedrängt hat. Im nachhinein steht er im Vergleich zu anderen deutschen Historikern eigentlich ganz gut da, denn so "braun" war er nicht. Es hat eine Rolle gespielt, daß ein Agent der amerikanischen Besatzungsmacht nach Marburg kam und wohl ursprünglich die Absicht hatte, dem demokratischen Mommsen der zwanziger Jahren einen politischen Job zu verschaffen. Das hat meinem Vater das Genick gebrochen, weil, als dies bekannt wurde, alle seine Gegner die Kanonen durchgeladen haben, um ihn abzuschießen, was ihnen schließlich auch gelang. Als Sohn hat es mich damals sehr betroffen gemacht, daß mein Vater nicht in der Lage war, einfach einen Schlußstrich unter das Vergangene zu ziehen, um neu anzufangen. Er ist im Grunde, auch weil er an seinen Studenten hing, am Verlust seines Lehramts zerbrochen - natürlich auch materiell. Er war Sohn eines Bankiers aus Berlin, und plötzlich mit nur 300 Mark monatlich und vier Kindern zu existieren, war etwas, was er mental nicht verkraftet hat.

Aus eben diesen Gründen war ich damals fest entschlossen, unter gar keinen Umständen Historiker zu werden. Ich begann zunächst Physik und Mathematik zu studieren, was ich dann wieder abgebrochen habe, und arbeitete danach ein halbes Jahr in Lüdenscheid bei Eduard Hueck als Hilfsarbeiter und später als Arbeiter, am Anfang für die fabelhafte Summe von 1,10 DM pro Stunde, später für 1,31 DM. Schließlich erreichte ich den Punkt, an dem mir doch alles egal war, und ich begann ein Studium der Geisteswissenschaften. Damals war ich noch nicht entschlossen, Historiker zu werden. Das hat sich erst später ergeben. Ich habe dann noch zwei Semester in Marburg studiert, wollte aber so schnell als möglich dort weg, um nicht als Sohn meines Vaters herumlaufen zu müssen.

Ist Ihr Bruder länger geblieben?

Mein Bruder ist länger in Marburg geblieben. Er machte damals vornehmlich Germanistik, nicht Historie, und es war eigentlich gar nicht zu erwarten, daß er Historiker würde. Ich bin dann zunächst für ein Semester nach Köln gegangen, eigentlich nur, um den mediävistischen Kontrahenten des von mir hochverehrten Helmuth Beumann, nämlich Karl Löwe, zu hören, aber Löwe war gerade nach Tübingen berufen worden. Ich habe dann zunächst einmal sehr viel Kunstgeschichte gehört, namentlich bei Hans Kaufmann, und fand schließlich in Theodor Schieder den einzigen akademischen Lehrer, der, von Kaufmann abgesehen, intellektuell wirklich faszinierend war. Es hat sich so ergeben, daß ich dort am Historischen Seminar eine studentische Hilfskraftstelle für die fabelhafte Summe von 90 Mark im Monat bekam. Das war so viel Geld, daß ich in Köln blieb, obwohl ich eigentlich nach Freiburg weiterziehen wollte.

Noch einmal ganz kurz zu Ihrem Studienbeginn. Sie sagten, eigentlich habe es Sie nicht zur Geschichte hingezogen. Wer hat Sie denn motiviert, oder woher kam für Sie der Anstoß?

Das kann ich selber nicht sagen. Gut, es war natürlich so, daß ich die Idee begrub, Ingenieur zu werden, nachdem ich ein halbes Jahr Fabrik hinter mir hatte, und mich für die Geisteswissenschaften entschied. Ich habe von der Philosophie bis zu den Sozialwissenschaften alles studiert, was möglich war. Irgendwann schälte sich das Studium der Geschichte in einer Weise heraus, die mir auch nicht mehr ganz klar ist. Es gab nochmal eine Weichenstellung, die Frage, ob ich denn vielleicht Kunsthistoriker werden sollte. Hans Kaufmann weckte allerdings Zweifel in mir, ob denn wohl mein Formengedächtnis gut genug wäre, und eines wollte ich natürlich nie: einfach im Mittelmaß hängenbleiben.

Schließlich landete ich bei Theodor Schieder am Historischen Seminar und habe dort länger als jeder andere "gedient", insgesamt wohl 12 Jahre. Ursprünglich war ich als Hilfskraft tätig, später habe ich dort meine Dissertation über Max Weber geschrieben. Nachdem ich ein Jahr in England bei Asa Briggs in Leeds verbracht hatte, bekam ich nach meiner Rückkehr eine Assistentenstelle, was damals für mich eine unglaubliche Rettung war, denn vorher hatte ich mich meist von einem Job zum nächsten gehangelt, was sehr schwer gewesen ist.

Da Schieder in seinen Seminaren ziemlich steif und zurückhaltend war, haben wir als junge Leute nebenbei unser eigenes Seminar abgehalten. Das war ein Kreis, den ich formal leitete und zu dem die ganze Riege von Schülern Schieders, u.a. Helmut Berding, Dirk Blasius, Elisabeth Fehrenbach, Lothar Gall und Hans-Ulrich Wehler gehörte. Diese Runde war sehr lebendig und intellektuell anregend. Wir lasen Carl Schmitt, Friedrich Meinecke und viele theoretische Texte - in gewisser Weise vielleicht auch als Gegengewicht zu dem "großen Meister". Das war meine intellektuell anregendste Zeit, das ist gar keine Frage.

In Köln gab es zwar noch andere Professoren - Adam Wandruszka, den sehr verehrenswerten Peter Rassow, der jedoch eher zurückhaltend und blaß blieb -, aber die intellektuelle Faszination ging von Theodor Schieder mit seinen unglaublich schwierigen, aber eindrucksvollen Vorlesungen und seinen sehr guten Seminaren aus, in denen beispielsweise Machiavelli oder Nationalitätenprobleme klassische Themen waren. Ich kam als Hilfskraft dorthin, als Schieder ein Seminar über Nationalitätenprobleme der Schweiz und Belgiens, also Staaten mit multinationalen Strukturen, abhielt; das erste, was ich machen mußte, war die flämische Quellensammlung "La Nation Belge" durchzusehen. Schieder verlangte natürlich das übliche Referat, das er in den ersten Jahren auch selber korrigierte. Später habe ich die Referate dann immer für ihn gelesen. Das wußten die Studenten aber nicht. Schieder bekam von mir immer einen Zettel mit einer Inhaltsangabe und meiner Bewertung. Nur einmal hatte ich mich vergeigt und etwas Falsches aufgeschrieben. Aber da hat er mich nicht in die Pfanne gehauen. Er war loyal. Das war eine sehr enge Zusammenarbeit.

Haben die Hilfskräfte einen Großteil von Schieders Aufgaben übernommen?

Nein, das kann man nicht sagen. Die Assistenten teilweise, aber die Hilfskräfte durften nur Bücher anschleppen - und der Bücherkonsum von Theodor Schieder war extrem hoch. Am Anfang habe ich die Bücher mit dem Fahrrad in seine Wohnung in einem anderen Stadtteil von Köln fahren müssen - das war eine harte Zeit. Später hat Wehler diese Serviceleistungen rationalisiert, der war in diesen Dingen viel effizienter als ich.

Schieder war tolerant gegenüber alternativen Auffassungen, obschon er selbst natürlich eine klar konservativ-liberale Grundposition hatte. Das ist ganz wesentlich, und das verbinde ich natürlich heute stärker mit seiner Vorgeschichte als damals. Man kann das illustrieren mit Hans Freyers "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" nach 1945, die er uns zur Lektüre nahelegte, und später hatte ich mit ihm intensive Debatten über meine Max-Weber-Arbeit. Er mochte bestimmte Aspekte des Weber-Buches nicht, die sehr kritisch gehalten waren und Weber in mancher Hinsicht in die Ahnenreihe Adolf Hitlers einreihten, was eigentlich von mir etwas kühn formuliert war. Das - wie auch eine Reihe anderer Sachen - paßte ihm eigentlich überhaupt nicht.

Wie kritisierte er das?

Wir diskutierten sehr auf die Sache konzentriert. Er hat mir damals empfohlen, daß ich Rudolf Smends Theorie parlamentarischer Herrschaft einbeziehen sollte, weil er eine Vermittlungsposition zwischen einer charismatischen und einer rational-parlamentarischen Theorie demokratischer Herrschaft vertrat. Ich erinnere mich, daß ich den Abschnitt über Smend aus der Druckfassung der Dissertation wieder herausgenommen habe, was Schieder akzeptierte. Als es dann international Riesenärger gab, weil viele amerikanische und einige deutsche Soziologen über mich als "Quellenfälscher" herfielen, war Schieder absolut loyal. Er ließ niemanden deswegen fallen, weil er anderer Meinung war. Das wird schon an den Arbeiten deutlich, die er selbst zu diesen Themen geschrieben hat. Meine Erfahrung ist, daß wir machen durften, was wir intellektuell für richtig hielten. Er schmiß uns natürlich Knüppel hin, die wir dann zu entsorgen hatten: intellektuelle Einwände vielfältigster Art. Grundsätzlich verwahrte er sich gegen vorschnelle Ideologisierungen. Ich erinnere mich an mein erstes Referat, das ich bei ihm schrieb und das die Wahlrechtsauffassungen des Liberalismus im Vormärz behandelte. Darin hatte ich mich gewaltig über die undemokratischen Positionen der Liberalen echauffiert, wie sich das für ein viertes Semester so gehört. Ich kritisierte, daß die Liberalen alle für ein Zensuswahlrecht und für die Anknüpfung des Wahlrechts an den Besitz eintraten. Da sagte er: "Nun mal halblang. Schauen Sie sich das erst einmal genauer an." Ich kann heute nur sagen, daß er in diesem Punkte vollkommen recht hatte. Es war eine vorschnelle Ideologisierung, die der intellektuellen Analyse gar nicht gutgetan hat, da sich der Liberalismus in der Phase vor 1848 in mancher Hinsicht überhaupt nur stabilisieren konnte, weil er den gebildeten Teil der Öffentlichkeit mobilisierte und nicht von den konservativen Bauern und breiten Unterschichten majorisiert wurde wie später in Rußland. Schieder zeigte uns, daß wir zwar gewisse Auffassungen haben können, aber daß diese Auffassungen nicht ohne weiteres eine Antwort auf historische Probleme sind. Er gewöhnte uns also die Emotionalität ab, die man als Anfangssemester, als junger Student erfreulicherweise mitbringt. Genauer: Er gewöhnte sie uns nicht ab, aber er zwang uns, sie immer wieder zu disziplinieren und rational zu untermauern. Er war zweifellos ein autoritärer Typ und konnte einen im Seminar mit seinem ungeheuer breiten Wissen richtig auseinandernehmen, aber zugleich war er stets tolerant.

Welche Rolle spielten für Sie Schieders Schriften vor 1945, wenn es zu einer Konfrontation politischer Auffassungen kam?

Ich habe jetzt die Schriften Schieders aus den 30er Jahren noch einmal gelesen. Dabei ergibt sich, daß der überwiegende Teil überhaupt keine politische Botschaft enthält, oder nur eine sehr indirekte. Diese Arbeiten über den deutschen Osten beschäftigten sich überwiegend mit dem Nachweis, daß es dort im 17. und 18. Jahrhundert eine dominante deutsche Kultur gegeben hat. Das hatte zwar eine politische Zielsetzung, aber jenseits dessen findet sich dort außerordentlich wenig.

Wir haben uns nicht dafür interessiert, weil das irgendwie gar nicht nötig erschien. Warum? Schieder war offen, er ließ uns andere Meinungen haben, obwohl wir wußten, daß er am konservativen Ende zuhause war. Wir hatten keine Ansatzpunkte dafür, in seiner aktuellen Lehre Relikte von nationalsozialistischer Ideologie zu suchen. Ich würde sagen: eher im Gegenteil. Wir kannten seine Arbeiten über den italienischen Faschismus, die uns damals schon klar sagten, daß Schieder aus einer jungkonservativen Richtung kam und eine autoritäre Staatsordnung begrüßt hatte. Überdies war er ein großer Verehrer von Hans Rothfels. Mein großer Schock bei der jüngsten Debatte ist überhaupt nur Hans Rothfels, weil er mit einem Male als wilder "Polenfresser" dasteht. Das ist etwas Neues. Alles andere ist nicht so neu.

Aber ist das für Sie so neu? Ihr Vater und Hans Rothfels standen sich in der Weimarer Zeit politisch sehr fern. Auf jeden Fall förderte Wilhelm Mommsen Eckhart Kehr, und Kehr bezeichnete Rothfels schon Anfang der 30er Jahre als Ableger einer "faschistischen Neuinterpretation" der deutschen Geschichte.

Ich habe Kehrs Argumente immer für überzogen gehalten und bin auch nicht der Meinung, daß man Kehr, wie es Hans-Ulrich Wehler getan hat, aus dem Abgrund wieder heraufholen muß. Das halte ich für etwas problematisch. Die These, daß Rothfels faschistisch war, würde ich auch jetzt für falsch halten. Für mich ist bedeutsam, daß Rothfels eine jener Figuren war, die Theodor Schieder sehr hochgeschätzt hat. Auch meine erste Bismarck-Vorlesung war noch absolut rothfelsianisch. Beim zweiten Mal dann wurde Rothfels eliminiert. Rothfels' große Theorie von Bismarck als dem anti- oder nicht-nationalen Staatsmann oberhalb der Nationalitäten ist natürlich nicht ganz falsch und bezeichnete eine gegenläufige Deutung zu der konventionellen Bismarck-Deutung von Bismarck als dem Schöpfer der deutschen Nation, was sowieso eine nationalliberale Legende war, die die deutschen Studenten vor allem in der Zeit seit 1895 zur herrschenden Lehre gemacht hatten. Dazu bildete Rothfels das große Gegengewicht. Ursprünglich wollte ich sogar eine Dissertation über Bismarcks Sozialpolitik schreiben, in Anknüpfung an Max Weber. Jedoch sagte Theodor Schieder: "Nein, Herr Rothfels schreibt darüber ein großes Buch. Der hat alle Akten, das können Sie nicht machen." Am Ende hat Rothfels dieses Buch nicht geschrieben. Ich hätte darüber promovieren können.

Für die Generation Conze/Schieder war Rothfels ein Abgott. Rothfels definierte Königsberg als "Grenzlanduniversität" mit dem großen Auftrag, die kulturelle Dominanz des Deutschtums im Osten zu legitimieren, aufrechtzuerhalten und als Gegenargument gegen die Wilsonsche Selbstbestimmungsideologie hochzuhalten. Genau aus dieser Ecke kam die Ideologie des sogenannten "deutschen Volks- und Kulturbodens", die ursprünglich mit dem Nationalsozialismus überhaupt nichts zu tun hatte und schon in den 20er Jahren entwickelt worden war. Es begann bei den Geographen, unter denen der berühmte Geograph Albrecht Penck eine Schlüsselfigur war. Sie alle saßen in der "Preußischen Akademie der Wissenschaften", und es waren die Spitzen der Wissenschaft, die den breiten Strom der Historiker anführten, und zwar von konservativer Seite. Die sogenannten Linken hingegen, indirekt auch mein Vater, schrieben vor allem gegen die wirtschaftlichen Bedingungen von Versailles an, während die Rechten den "Frontkampf" gegen Polen übernahmen, der nicht gänzlich unbegründet war, weil es auf polnischer Seite eine Tendenz gab, die deutsche Minderheit zu unterdrücken. Das darf man nicht übersehen. Beispielsweise haben sich die Polen geweigert, den Minderheitenschutzvertrag anzuerkennen, den der Völkerbund damals all diesen Ländern als Gegengewicht dafür, daß sie Territorien mit erheblichen nationalen Minderheiten erhielten, gleichsam zu oktroyieren versuchte. Dieser Vertrag wurde von ihnen weder ratifiziert noch akzeptiert. Jedenfalls waren die Polen nicht ganz unschuldig an den erbitterten Nationalitätenkonflikten der Zwischenkriegszeit.

Die neue Richtung arbeitete mit einem anderen Nationenbegriff, wie ich bei der Beschäftigung mit diesen Problemen erst jetzt entdeckt habe. Deren Nationsbegriff hielt sich nicht etwa an objektive Kriterien wie Sprache und Ethnizität, wie das so landläufig bei Hans Kohn der Fall ist, sondern an Kultur in einem mehrschichtigen Sinne. Die Akkulturation oder die Rekulturation von Bevölkerungsgruppen, die einmal deutsch gewesen waren, bzw. die Assimilation von slawischen Bevölkerungsgruppen wie den Wasserpolacken gehörten dazu. Mit großem intellektuellen Aufwand wurde die missionarische Funktion der Deutschen seit dem 14. Jahrhundert, insbesondere durch den Deutschen Orden, betont. Im Osten galten die Deutschen aus dieser Sicht als kulturelle Führungsnation. Demgemäß wurde die Erhaltung der Vorrangstellung der Deutschen in diesem multikulturellen und multiethnischen Raum gefordert - im Gegensatz zu den Bestimmungen von Versailles bzw. genauer: der Pariser Vorortverträge. Wenn Sie denken, daß das nur in Deutschland so gewesen sei, so ist das ein Irrtum, denn die Italiener argumentierten zur Legitimierung ihrer Annexionen an der Adria genauso. Es ist dies mit Sicherheit ein europäisches und nicht nur deutsches Phänomen. (Das finde ich übrigens an der Debatte auch nicht gut: Selbst Wehler fängt damit an, jetzt plötzlich nur noch über Deutschland zu reden.) Das Grundmuster dieser ideologischen Argumentation war eindeutig offensiv. Die Grenzen von 1914 gelten nicht mehr als maßgeblich, maßgeblich sei vielmehr der sogenannte deutsche "Kulturboden", der sich bis zur russischen Grenze erstreckte, je nachdem. Und dieser wurde nicht definiert im Sinne des je Gegenwärtigen, sondern frei nach Edmund Burke: "Die Nation ist ein Pakt der vergangenen, der gegenwärtigen und der künftigen Generationen". Der Verweis auf Edmund Burke taucht überall auf, prominent bei Rothfels, prominent bei Schieder, aber auch schon bei Treitschke 1871 als Legitimation für die Annexion Elsaß-Lothringens - es ist dies eine alte Denkfigur. Deswegen wird auch verständlich, was im Moment niemand mehr begreift, warum die Historiker einen so ungeheuren Aufwand betrieben haben, um die Rolle der Deutschen im Osten seit dem 14. Jahrhundert mit allen möglichen historiographischen Methoden zu dokumentieren. Das punktuelle individualistische Wilsonsche Prinzip der Jetzt-und-Gleich-Selbstbestimmung wurde absolut abgelehnt. Rothfels wandte sich massiv dagegen, weil es in seinen Augen zur Zerstückelung, zur Zerstörung der Pluralität der Kulturen im Osten, zur Einebnung der ethnischen Minoritäten führe. Man wird schwerlich bestreiten können, daß das teilweise richtig ist und daß der homogene Nationalstaat, der die Minoritäten unterdrückt, ein zweifelhaftes Geschenk war. Das ist der intellektuelle Hintergrund. Jetzt stellen Sie sich Theodor Schieder vor, der aus der jungkonservativen Ecke mit ausgeprägt autoritären Vorstellungen über Staat und Herrscher kam...

Können Sie "jungkonservativ" näher erläutern?

Lesen Sie Edgar Jung, "Die Herrschaft der Minderwertigen". Diese jungen Leute hatten die Vorstellung, daß sie eine neue Welt schaffen müßten, die aber nur von kleinen Eliten getragen werden könne, im Gegensatz zur Massenkultur dieser "fürchterlichen" Parteien und des parlamentarischen Systems. Neue intellektuelle Eliten müßten eine Führungsrolle in diesem schwer zu bestimmenden Bereich der Kultur spielen. Das war die Vorstellung des frühen Schieder, und dies hat zunächst mit Nationalsozialismus nichts zu tun. Im Gegenteil: Vom NS wollten sie natürlich nichts wissen, denn das war in ihren Augen "Massenkultur". Außerdem war ihr Kulturbegriff anfangs nicht rassistisch, im Gegenteil. Noch 1939 schreibt Theo Schieder, wie er sich damals nannte, vom Volk als der natürlichen Grundlage der politischen Ordnung, aber mit der Maßgabe, daß das Eigenrecht anderer Völker respektiert werden müsse. Das ist die Denkfigur dieser Nationalkonservativen, und dazu gehört auch dieser ansonsten so schreckliche Theodor Oberländer, der damals herausgeworfen wurde, weil er sich gegen die Unterdrückung der Ukrainer aussprach und ihnen eine eigene Nationalität zugestehen wollte. Dies ist eine Trennlinie, die später außer Sicht geriet. Eindeutig ist dies, wie ich glaube, erst 1938 oder 1939 geschehen - dann aber massiv. In mancher Hinsicht schuf Albert Brackmann systematisch die Voraussetzungen einer sorgfältig inszenierten antipolnischen oder antislawischen historischen Kampagne. Diese Bestrebungen wurden in solch harmlos erscheinenden "Auskunftsstellen" oder "Landesstellen" institutionalisiert, damit dies nach außen nicht auffiel. Erstens sollte die polnische Gegenwehr nicht sogleich herausgefordert werden, und zweitens gab es seit 1934 den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt, der jegliche offene Polemik gegen Polen verbot. D.h. diese Historiker operierten bis 1938 gegen die offizielle Politik des Regimes. Das ist sehr kompliziert. Meine These ist, daß Brackmann immer zu den Siegenden gehören mußte, und dies hieß nach 1933 Gefolgschaft für den NS und speziell für die SS.

Für die Jüngeren war dies schwieriger. Im Königsberger Kreis gab es natürlich einige überzeugte Nationalsozialisten, insbesondere Gunter Ipsen und Rudolf Craemer, die beide früh in die NSDAP eintraten. Aber im Grunde genommen gab es bei Schieder und Conze (obwohl Conze ein größeres politisches "Schaf" war) andere Vorstellungen als die des klassischen Nationalsozialismus. Das ist auch der Punkt, an dem ich dafür plädiere, nicht alle Historiker in einen Topf zu werfen, zumal sie zunächst eigentlich nicht rassisch argumentierten. Nach dem Polenkrieg veränderte sich die Situation. Nun benötigte man keine Argumente mehr, um mit historiographischen und sonstigen Mitteln einen kulturellen Hegemonieanspruch in einem multinationalem Raum zu begründen, der den Deutschen die Vorherrschaft einräumt, aber die anderen Nationalitäten respektiert. Als der NS wirklich Macht erlangt hatte, wurden sie eben vertrieben oder eliminiert. Insofern war nun, wie der Brackmann das auch in der Preußischen Akademie der Wissenschaft erklärte, das ganze Modell eines offensiven "Volkstumskampfes" mit historiographischen Mitteln obsolet geworden. Daraufhin mußte man neu anfangen, weil die Voraussetzungen der ganzen "Ostarbeit" überholt waren und man keine Rücksicht mehr darauf nehmen mußte, daß in Hirschenhof oder wo auch immer deutsch sprechende Minoritäten existierten. Jetzt konnte man mit rückhaltlosem "social engineering" beginnen. Einige Historiker, wie Albert Brackmann und Hermann Aubin (der eine viel bedenklichere Rolle als Schieder gespielt hat) hatten plötzlich das Gefühl, daß sie massiv an Einfluß verlören und keinen Draht mehr zu den Behörden hätten. Außerdem befürchteten sie, im Preußischen Geheimen Staatsarchiv nicht mehr über die Mittel verfügen zu können, um ihre historiographischen Institutionen aufrechtzuerhalten. Daher warfen sie sich dem Nationalsozialismus an den Hals, und die berühmte Denkschrift vom Oktober 1939 ist ein Produkt dieses Versuchs. Es ist eine bedauerliche Verzerrung, Schieders alleinige Urheberschaft an jener Denkschrift zu behaupten. Er schrieb lediglich zusammen, was in diesem Kreis angestrebt wurde, darunter auch das, was radikalere Leute wie Resche äußerten, die rassistisch argumentierten.

Mit rassistisch meinen Sie vor allem antisemitisch?

Jein. Die Frage ist zunächst, ob man das Problem der Minoritäten und Nationalitätenkonflikte in einer rassisch-ethnischen Weise oder in einer kulturellen Weise definiert. Die "Judenfrage" kommt dann noch hinzu. Schieder ist sicherlich von Hause aus kein Antisemit gewesen. Aber spätestens seit dem November 1939 war es amtliche Politik, das Reichsgebiet von Juden zu "befreien". Auch Schieder übernahm diese Maßgabe - und das ist absolut unerfreulich. Deswegen war er noch nicht, wie Götz Aly sagt, ein "Vordenker der Vernichtung". Davon kann überhaupt keine Rede sein. Allerdings fanden diese Historiker die NS-Politik ganz agreabel, weil in der Tat die Innenstädte Ostpolens mit dem jüdischen Bevölkerungsteil ein soziales Problem von erheblicher Größenordnung darstellten. Nicht für Schieder, aber wohl ganz klar für Conze, galt, daß sie mit ihrem "social engineering" eine organische bäuerliche Kultur, die als Idee wie ein Markstein im Gelände stand, wiederherstellen wollten. Also begrüßten sie die Aussicht, daß diese Juden - vorsichtig gesagt - "ausgesiedelt" würden. Ich kann das keinesfalls gut finden, aber so war die Denkfigur. Es ist sicher auch für Schieder nachweisbar, daß er nicht an eine Vernichtung der Juden dachte. Bei ihm gibt es eine Formulierung, daß man doch vielleicht die Polen ebenso wie die Juden behandeln sollte. Aber dies beinhaltete natürlich nicht die Vernichtung oder die "Verschickung" nach Osten, weil dies das Problem nur gesteigert hätte, sondern die Auswanderung nach Holland oder vielleicht nach Madagaskar. Das waren natürlich phantastische Vorstellungen. Man könnte selbstverständlich sofort einwenden, daß das ideologisch sei und daß sie es in Wahrheit nicht so gemeint hätten, sondern gleich wußten, um was es ging. Das halte ich für unbegründet. Das Ziel war in ihren Augen die Schaffung eines gemischtkulturellen deutschen Ostens. Allerdings kam ziemlich bald die Idee eines "ethnic social engineering" der unerfreulichsten Art hinzu. Diese Historiker sahen eine ihrer Aufgaben darin, mit ethnographischen und historischen Methoden festzustellen, wo sich deutsche "Volkstumsinseln" befanden, welche Regionen, welche Gruppen sich im Rothfelsschen Sinne rekulturieren lassen würden - als Teil einer deutschen Führungsschicht im Osten. In diesem Zusammenhang gab es von Schieder in den 40er Jahren eine Reihe von Empfehlungen, welche Gruppen man gegebenenfalls leicht "rückdeutschen" könne. Das liegt auf der Linie dessen, was es schon seit den 20er Jahren gab, und hatte zunächst einmal mit NS-Politik nur indirekt zu tun. Spätestens seit 1938 fand Schieder es auch ganz gut, daß der NS nun Fakten schuf und "aktive Volkstumspolitik" betrieb.

Die jetzt diskutierten Historiker hegten die Vorstellung, daß sie das "Volks-tums-projekt" nach ihren Bedingungen gestalten könnten. Es gibt in einem der Artikel Schieders eine interessante Formulierung, in der er den Gauleiter Erich Koch rühmt, weil dieser deutsche Ostpolitik auf historischer Grundlage betreibe. Was immer das heißen sollte - Schieder glaubte naiverweise, daß Koch die Prämissen der älteren Nationalkonservativen exekutieren würde. Das ist natürlich falsch. Denn es wurde immer deutlicher, daß in großem Umfang umgesiedelt werden sollte. Die Rücksiedlung von Deutschen aus Rußland - wie Götz Aly es schon thematisiert hat - führte dazu, daß man plötzlich für diese Platz benötigte. Hunderttausende von Rußlanddeutschen waren nach den Hitler-Stalin-Vereinbarungen ins "Reich" zurückgeführt worden. Das war auch einer der auslösenden Faktoren für die Judenvernichtung, weil man glaubte, die Juden aus den Ghettos der Städte entfernen zu müssen, um die Polen in den Städten und die Deutschen dann ihrerseits auf den Bauernhöfen der Polen unterzubringen. Wahr ist das ja alles nicht geworden. Ursprünglich hatte man wohl auch die Idee, die Juden einfach weiter nach Osten zu verschieben, was noch nicht explizit auf "Vernichtung" hinauslief. Diese Planung versagte in dem Moment, als der Ostfeldzug ins Stocken geriet. Aber das alles ist schon NS-Politik. Die Frage bleibt natürlich, welche Rolle die Historiker in diesem Zusammenhang spielten.

Darauf kommen wir später noch zurück. Aber inwiefern waren Ihnen in den 50er Jahren diese Inhalte der "Volkstumspolitik" bewußt? Es lief doch dieses Projekt zur "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", und Rothfels' Schriften "Bismarck, der Osten und das Reich" wurden in veränderten Fassungen wiederaufgelegt. Haben Sie dabei eine personelle Kontinuität wahrgenommen?

Wenn Sie es sorgfältig lesen, steht in diesen Texten nicht so viel Politisches drin. Als Rothfels auf dem Historikertag 1932 seine Rede über Bismarcks Ostpolitik hielt, wurde niemand hellwach und sagte: Das ist Ideologie. Dazu war er als Historiker zu gut und hielt ein zu hohes Niveau.

Rothfels galt international als eine grande figure; kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, Rothfels - als jüdischen Deutschen - auch noch eine nationalsozialistische Vergangenheit vorzuwerfen. Eine Vergangenheit hatte er im Zusammenhang dieses "Volkstumskampfes". Mein Bruder und ich haben uns darüber auseinandergesetzt, und er meinte, solche Begriffe dürfe ich nicht gebrauchen, ich müsse "Nationalitätenkonflikt" sagen, aber das ist nicht ganz richtig, weil es dabei um viel mehr ging, nämlich um die Frage, in welcher Art und Weise Nation definiert wurde, und im Grunde um die Verteidigung der Hegemonialstellung der Deutschen in Osteuropa seit dem 15. Jahrhundert.

Und die Sache mit der Volksgeschichte: Ich bin der Meinung, daß Oberkrome, Kocka u.a. dieses falsch intoniert haben. In dem Augenblick, da die territorialen Grenzen des deutschen Staates angefochten wurden, konnte man sich nicht mehr an den Staat halten, sondern mußte sich an das Volk halten, also heißt es "Volksboden", nicht "Staatsboden". Dieser Begriff leitet sich von biologischen und ethnographischen Kategorien ab. Er war nicht a priori rassistisch. Das ist eine spätere Verzerrung. Nach 1938/39 wurde "Volkstumspolitik" dann rassisch definiert und zunehmend mit gewaltsamen Mitteln betrieben. Der qualitative Sprung von einer konservativ getönten, obrigkeitlichen Volkstumspolitik zu einer nationalsozialistischen ist im Einzelfall nicht genau zeitlich zu lokalisieren. Meiner Meinung nach erfolgt diese Wende am Ende des Polenfeldzuges. Dann ging es allerdings "zur Sache", jede Hemmung schien weggefallen zu sein.

Wie bewerten Sie Rothfels' Rolle in der Historiographie der frühen Bundesrepublik?

Rothfels' Einfluß in der ersten Phase der Bundesrepublik war enorm hoch und zwar einerseits durch das Buch über den deutschen Widerstand gegen Hitler, das zweifellos ein Verdienst war, und andererseits durch die Herausgabe der "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte". Er veröffentlichte außerdem einen Quellenband über Bismarck, der für uns eine Bibel und enorm bestimmend war, ganz davon abgesehen, daß dieser im Detail sehr gut war. Noch einmal zu "Bismarck, der Osten und das Reich": Nach Rothfels bewegt sich der Staatsmann Bismarck oberhalb der Nationalitäten und ist in der Lage, als Ordnungskraft zu wirken. Auch für Schieder sollte der deutsche Staat Ordnungsmacht in einem multinationalen Raum sein, und er lehnte sich damit an Rothfels an, der betonte, daß Bismarck sich gegen die zerstörerischen Massentendenzen der Zeit gewendet habe: den populären Nationalismus, die "vulgäre" Demokratie und den Sozialismus. Das Ziel war die Stabilisierung einer vormodernen Gesellschaft mit konservativen Mitteln, aber unter partieller Integration bestimmter progressiver Elemente des Nationalismus und des Liberalismus. Das ist ja heute noch eine vertretbare und intellektuell überzeugende Position.

Sie äußerten in einem Leserbrief an die FAZ, daß Sie mit vielen Machenschaften der "Königsberger" in den 50ern nicht einverstanden waren, so z.B. auch mit der durch die Herausgabe einer Festschrift geäußerten Referenz Schieders an Karl Alexander von Müller.

Ich fand es katastrophal, daß Schieder Müller eine Festschrift in der HZ widmete, nachdem dieser den Übergang der wichtigsten Zeitschrift des Fach in das nationalsozialistische Lager mitgetragen hatte. Müller hatte schon 1926 gesagt, daß Deutschland nur einen Wiederaufstieg erleben könnte, wenn es wieder einen charismatischen Führer à la Bismarck geben würde. - Ich fand das damals nicht gut, aber glauben Sie, daß ich Schieder hätte sagen können: "Machen Sie bitte keine Festschrift für Ihren akademischen Lehrer!" Er hätte mich ganz kurz und schnell entlassen. Das zweite, was mich irritierte, war die "Dokumentation der Vertreibung", weil man dort den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Politik unmittelbar sehen konnte. Auch für das Conze-Brunner-Koselleck-Lexikon wurden Leute aus dem Umfeld von Schieder verpflichtet, Artikel zu schreiben. Ich lehnte das wegen des ideologischen, nämlich historistischen Grundmusters ab, das ich im Unterschied zu anderen veraltet und nicht so progressiv fand, obwohl es inzwischen sehr angesehen ist, besonders in England. Hans-Ulrich Wehler und ich haben uns damals trotz des starken Drucks geweigert, einen Beitrag zu schreiben. Es gab noch ein anderes Projekt, die Friedrich-Naumann-Edition, als Wiederauflage eines national getönten Liberalismus, und wir waren die "Arbeiter im Reiche Gottes" - Wolfgang Schieder hat einen Band ediert, und ich habe sogar zwei gemacht. Immerhin haben wir Naumann kritisch kommentiert. Die Mitarbeiter Schieders, die dafür eingespannt wurden, hätten zwar nein sagen können, aber nicht immer, denn daß man selbst auch Karriere machen wollte, war zumindest nicht unrichtig.

Wie können Sie die persönliche Dimension im Verhältnis zu Theodor Schieder beschreiben?

Im Prinzip war Schieder in Sachfragen offen für Diskussionen, ansonsten trug er eine Glasscheibe vor sich her. Er ging in das Seminar immer nur mit "Deckung", d.h. er brauchte zwei bis drei Leute, die ihm eine Art psychologischer Unterstützung gaben. Sachlich benötigte er sie nie, er brauchte sie aber psychisch. D.h., daß man als Assistent immer mitkommen mußte, anfangs aber auch als "Ausputzer". Wenn er kein Referat hatte, bekam man aufgedonnert, bis zur nächsten oder übernächsten Woche etwas vorzubereiten. Das war intellektuell ziemlich fordernd. Im Persönlichen konnte er aber auch fürsorglich sein. Als ich einmal eine Nierenkolik hatte, war er es, der in der Urologie anrief. Persönliche Gespräche, etwa über die NS-Zeit, waren jenseits von Gut und Böse, waren schlichtweg unmöglich. Er ließ keinerlei Diskussionen über seine Beziehung zu Karl Alexander von Müller zu, er äußerte sich nicht über seinen Freund Karl Dietrich Erdmann und den Skandal um die Riezler-Tagebücher, wo er auch seine schützende Hand im Spiel hatte - alles das konnte man nicht thematisieren. Dieses Kommunikationsproblem erstreckte sich nicht nur auf die NS-Zeit, sondern auf so ziemlich alles.

Haben Sie diese Unmöglichkeit eines Gesprächs damals als Mangel empfunden? Wurde über den Grund seines Schweigens am Lehrstuhl mit den anderen Assistenten spekuliert?

Es bestand kein akuter Anlaß, darüber zu reden, obwohl es mich sehr beschäftigt hat. Ich gebe Ihnen ein konkretes Beispiel: Als der erste Aufsatz von Fritz Fischer 1959 erschienen war, ging ich zu Schieder hin und sagte: "Herr Professor, entweder hat Fischer unrecht, oder unsere Väter haben uns belogen." Er antwortete: "Nehmen Sie es mal nicht so tragisch, hier sind die ersten Fahnen von einem Aufsatz von Gerhard Ritter zur Widerlegung der Präventivkriegsargumentation." Die Debatte wurde also sofort abgefedert. Schieder hatte ohnehin die Strategie, politische Tagesfragen zu meiden; weg von aktueller Tagespolitik hin zu großen Themen universalhistorischer Art. Deswegen beschäftigte er sich mit Burckhardt, Ranke, Max Weber, mit Nationalitätenfragen quer durch Europa und über alle Jahrhunderte hinweg - das ist ja auch die Aufgabe eines Historikers.

Ich erinnere mich daran, daß Schieder sich als Historikerverbandsvorsitzender weigerte, nach Moskau zu reisen. Heute weiß ich natürlich, warum. Er zitterte davor, daß ihm dort Sachen aus den 30er Jahren in aggressiver Weise vorgehalten würden. Die waren aber überhaupt noch niemandem bekannt.

Es gibt nicht viele Schriften, die Schieder publiziert hat, mit dem Sie ihm politisch an den Hals gehen können. Da gibt es einen Rundfunkvortrag, wo Bismarck als Vorläufer des Großdeutschen Reiches gepriesen wird - dergleichen haben sie alle gemacht. Bismarck konnte überhaupt nur gerechtfertigt oder positiv bewertet werden, wenn man ihn nicht einfach nur als Kleindeutschen akzentuierte. Es gab 1938/39 bei Schieder auch positive Bewertungen der nationalsozialistischen Volkstumspolitik. Aber das macht quantitativ vielleicht ein Achtzigstel seiner Schriften aus, ist jedenfalls verschwindend gering. Außerdem schrieb Schieder Ideengeschichte und keine Volksgeschichte. Zu finden sind solche Zulieferungsarbeiten an der von ihm geleiteten Landesstelle. Das war ganz klar eine Erfüllungsmaßnahme dessen, was Brackmann wollte. Brackmann hatte diese Stellen nicht gegründet, um Leute zu finanzieren oder, wie neulich geschrieben worden ist, um eine geschickte Personalpolitik zur Besetzung von Professuren mit genehmen Leuten zu betreiben - das geht zu weit. Nein, er wollte seine Machtposition, die er schon in den 20er Jahren dank seines unmittelbaren Zugangs zu den Ministerien hatte, weiter ausbauen. Diese Landesstellen wurden gegründet, um der Politik zuzuarbeiten. Es ist keine Frage: Schieder hat dabei mitgemacht. Ich selbst habe nicht den Eindruck, daß da so wahnsinnig viel passiert ist. Über die historiographische und ethnographische Identifikation der deutschen Volksgruppen in diesem Raum scheint diese Tätigkeit nicht hinauszugehen. Ich habe leider noch nicht die Zeit gehabt, ins Archiv zu gehen, um mir das selbst anzusehen.

Also würden Sie sagen, daß es in hohem Grad opportunistisch war?

Vollkommen. Wann immer der Vater Staat rief, war man da. Übrigens ist es leicht, darüber die Nase zu rümpfen. Schieders Einkommen hing ja davon ab. Er bekam ein Gehalt als Angestellter des Preußischen Geheimen Staatsarchivs für diese Zwecke, war also gewissermaßen abhängig. Bei Brackmann ist das mit den Händen zu greifen, und er sagte das ganz offen, daß sie den Anschluß verloren hätten und neue Ansprechpartner bräuchten. Deshalb entstand die Denkschrift, welche die SS "unglücklicherweise" gar nicht benötigte, was nur logisch war, denn die SS kümmerte sich den Teufel darum, ob irgendeine deutsche Volksgruppe in Hirschenhof seit dem 16. Jahrhundert existiert hat, sondern sie räumte einfach ganze Landstriche aus, oder wollte dies doch wenigstens tun. Man war gar nicht daran interessiert, diese feingesponnene ideologische Rechtfertigung deutscher Vorherrschaft im Osten, wie sie die Historiker entwickelt hatten, entgegenzunehmen in einem Augenblick, wo es nur noch um völkische "Flurbereinigung" ohne jede Rücksicht auf die historischen Gegebenheiten ging.

Sicherlich hat sich Schieder im Laufe der Zeit noch stärker auf den NS zubewegt. Es gab 1942 Erwägungen, ihm eine Professur in Berlin zu geben. Er muß demnach schon einigermaßen gut an das System adaptiert gewesen sein. Andererseits erzählte mir Wehler gerade, daß es über Schieder einen SD-Bericht gebe, in dem dessen Reserven gegenüber dem Regime aufgelistet werden. Schieder hatte einen zu elitären Politikbegriff, als daß er uneingeschränkt mit der Art von massenideologischer Politik übereinstimmen konnte, wie sie der NS betrieb. Dies blieb auch später so, obwohl er natürlich 1949 die parlamentarische Demokratie akzeptiert hat.

Sie sprachen in Ihrer Würdigung von Theodor Schieder aus dem Jahr 1985 davon, daß sich Schieder die "jeweiligen Lehrmeinungen und Ideologien immer auf Distanz hielt" und "herangetragenen Ansinnen, politische Lehrmeinungen historisch zu untermauern, zeitlebens eine tiefe Resistenz" entgegenbrachte. Können Sie nach dem, was Sie heute wissen, diese Charakterisierung noch aufrechterhalten?

Für die Zeit nach 1945 stimmt das ganz sicher, und ich bin nicht sicher, ob es nicht begrenzt auch für die Zeit der 30er Jahre gilt. Wenn Sie sich die Dinge genauer ansehen, stoßen Sie vielfach auf vorschnelle Ideologisierungen. Ingo Haar zitiert eine Rezension Schieders über Otto Hoetzsch als Beleg für Schieders Identifikation mit der Volkstumsideologie ("Blut und Boden"). Ich lese die Rezension, aber da steht nichts. Das ist dort gar nicht enthalten. Es gibt eine vorsichtige Kritik an Hoetzsch, die zum Ausdruck bringt, daß er mit den neueren Tendenzen der Volkstumspolitik im Osten nicht einverstanden ist. Das ist also verschlüsselt zu lesen. Wie der Haar zu seiner Interpretation gelangt, weiß ich nicht. Ich finde so etwas ungenau und befürchte, daß es massenweise so weitergeht.

Was würden Sie resümierend sagen: Wo haben Sie methodisch viel von Schieder übernommen, wo haben Sie ihn verlassen?

Das kann man selbst am schlechtesten sagen. Zuallererst in der Tat eine Methode, eine Methode, die sozialgeschichtliche, institutionengeschichtliche und ideengeschichtliche Aspekte kombiniert und vorschnelle Ideologisierungen vermeidet. Schieder betrieb eine Analyse des politischen Systems, die nicht in erster Linie die Staatsmänner, sondern die Strukturen und Parteiinstitutionen in den Blick nahm. Auch Thomas Nipperdey, der ja nun leider in der Debatte fehlt, hat das aufgegriffen. Er und Elisabeth Fehrenbach sind die engsten wirklichen Schüler Schieders gewesen. Man hat die sehr differenzierte Begrifflichkeit aufgenommen, die Schieder über Probleme der Nation entwickelt hat. Ich habe dies ja auch in mancher Hinsicht weitergeführt. Vielleicht habe ich auch seine vergleichsweise universalhistorische Ausrichtung übernommen. Aber es gab ja nicht nur Schieder, sondern auch massive angelsächsische Einflüsse als Gegengewicht zum "großen Meister". Was diesen letztgenannten Aspekt betrifft, war unser Kölner Kreis eine Art von Emanzipationsklub, der sich quasi durch die eigene Diskussionrunde gegen die intellektuelle Hegemonie Schieders mit doch sehr erfolgreichen Konsequenzen zu rüsten versucht hat. Aus diesem Kreise sind später - von Leuten sehr unterschiedlicher Ausrichtung - mindestens 15 deutsche Schlüssellehrstühle besetzt worden.

Auch an Max Weber bin ich natürlich nicht zufällig geraten. Er war neben Jacob Burckhardt und Alexis de Tocqueville einer der Gewährsleute, mit denen Theodor Schieder versuchte, sich aus dem Sumpf seiner Vergangenheit herauszuziehen. Man kann sagen, daß er sich selbst aus dem Sumpf gezogen hat, aber uns ebenso. Wenn man sich das klarmacht, was 1947/48 noch herrschende Meinung war, so ist das ein Riesenweg, der seitdem gegangen worden ist. Und Schieder war jemand, der uns in mancher Hinsicht das methodische Rüstzeug gegeben hat, diese Wegstrecke zu absolvieren.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Eine generelle Beantwortung der Frage ist eigentlich nicht möglich. Es gibt eine nicht unerhebliche Zahl von Leuten, die sich entweder als Mitläufer geriert haben oder dann zunehmend den Nationalsozialismus unterstützt haben. Der Damm ist klar gebrochen mit dem 2. Weltkrieg, eigentlich vorher schon mit dem sogenannten Anschluß Österreichs. Es gab nur wenige überzeugte nationalsozialistische Historiker der ersten Stunde, wie z.B. Günter Franz, Ernst Anrich u.a. Dies war eine vergleichsweise kleine Gruppe, die allerdings einen erheblichen Einfluß gewann. Die Bereitschaft zur Anlehnung oder Anbiederung an den NS war jedoch groß, und am Ende blieben nur wenige Historiker übrig, die dem widerstanden. Die Historiker trugen in einigen Bereichen klar zur Verfestigung des Regimes bei. Doch muß man unterscheiden: In der Anfangsphase gab es die Idee der "Einrahmung", die von einer ganzen Reihe von Historikern wie z.B. Johannes Haller oder Otto Hoetzsch voll unterstützt wurde, die später zu Gegnern des Regimes oder gar von diesem verfolgt wurden. Insgesamt halte ich die These von den Historikern als den "Vordenkern der Vernichtung" für vollkommen überzogen. Sie unternahmen keinerlei wirkliche Versuche, dem Regime zu widerstehen, und haben sich in mancher Hinsicht ganz unübersehbar von dem Sog der Bewegung mitreißen lassen, aber Vorreiter waren sie gewiß nicht. Nacheinander waren die kleindeutsche und die liberale Position zusammengebrochen. Völkische Positionen wurden zunehmend akzeptiert und im Zweiten Weltkrieg durch eine extrem nationale Orientierung überformt. Hinzu kamen dann die Architekten der Ideologie des neuen nationalsozialistischen europäischen Großreiches, namentlich Mediävisten mit Theodor Mayer an der Spitze, aber auch zahlreiche Neuhistoriker.

In der gegenwärtigen Diskussion stört, daß nur diejenigen Historiker diskutiert werden, die später eine Rolle gespielt haben, und nicht das gesamte Spektrum der Historikerschaft jener Zeit in den Blick genommen wird. Bemerkenswerterweise haben die allerwenigsten Historiker nach 1945 Karriereschwierigkeiten gehabt. Und wenn sie, wie Ernst Rudolf Huber, entlassen worden sind, dann nur mit dem Ergebnis, daß sie 40 Jahre alle Staatsexamenskandidaten mit erstklassiger Literatur versorgt haben, mit der alle gepaukt haben, d.h. ihr Einfluß blieb erhalten.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Nein. Was geschehen ist, ist geschehen. Man kann das nicht kompensieren. Andererseits ist die Geschichte weder ein Gericht noch eine Spruchkammer. Die generelle Entscheidung, solche Leute aus der Profession auszuschließen, hätte vermutlich überhaupt keine positiven Wirkungen gehabt. Ich sehe selber, daß diese Männer natürlich individuell gewisse Kompensationen gemacht haben, die dann, wie ich schon glaube, für uns wieder nützlich gewesen sind; es gab eine Generation von liberalen Konservativen. Moralisch gesehen, kann man das, was geschehen ist, allerdings nicht kompensieren, ebenso, wie ein Volk als solches das nicht kompensieren kann. Wir müssen damit leben. Wir können doch nicht sagen: Wir waren bis 1945 eine miserable Nation, aber jetzt sind wir das Musterland der Demokratie und haben das durch die vergangenen Jahrzehnte wiedergutgemacht. Ich sehe keine Möglichkeit für eine solche Argumentation.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Ich bin der Meinung, daß diese ganze Thematik falsch intoniert ist, weil es nicht so sehr um Volksgeschichte in dem Sinne geht, in welchem heute Sozialgeschichte verstanden wird, als Geschichte nicht nur des Staates, sondern aller gesellschaftlicher Schichten und Formationen. Damals wurde der Begriff "Volk" verwendet, um eine offensive geistige Position im Zusammenhang der bitteren Nationalitätenkämpfe und insbesondere der Kämpfe um die ehemals "ostdeutschen" Gebiete aufzubauen. Die Innovationen der "Volksgeschichte" stammen zum großen Teil aus der Geographie und sind so weitreichend nicht gewesen, wie heute vielfach behauptet wird. Das Grundthema war nicht die Geschichte des Volkes mit rassischer oder ethnischer Intonation, sondern die Geschichte der deutschen Nation, oder damals: des deutschen Volkes, das nicht deckungsgleich mit den Grenzen des Deutschen Reiches nach 1919 oder 1920 war - allerdings, wie man dann hinzufügen muß, zunehmend auch nicht deckungsgleich mit den Grenzen des Deutschen Reiches von 1914, in durchaus offensiver Argumentation. Methodisch gesehen, entdecke ich hier nicht so viel an Innovation, wie behauptet worden ist, und sehe auch keine direkte Kontinuität. Ich habe die Conzesche Sozialgeschichte immer verstanden als eine Art Flucht vor der großen Politik in den vorstaatlichen Raum, und dies mit überwiegend historistischen Methoden, also der Untersuchung der Entstehung und Bedeutung von Begriffen. Dergleichen hatte mein Vater auch schon gemacht. Ich fand die Neuansätze, wie sie dann insbesondere im Bereich der sogenannten Bielefelder Schule gemacht worden sind, zu der ich gehört habe, und die neueren Ansätze im Bereich einer institutionengebundenen Analyse von politischen Prozessen davon ziemlich abgekoppelt. Ich habe meinen Kollegen auch gesagt, daß sie gar keinen Anlaß haben, diese Kontinuitäten zu akzentuieren. Natürlich gibt es da Verbindungsglieder: Hans Freyer und Max Weber, jedoch ein, wie ich finde, falsch interpretierter Max Weber. Ich halte die Debatte, daß die Bielefelder Sozialgeschichte womöglich deswegen schlecht dastehe, weil sie dieser Tradition verpflichtet sei, für ganz verfehlt. Diese Schule ist aus ganz anderen Gründen unter Druck, nämlich weil es wieder eine neue Kulturgeschichte gibt, die auf das Erleben und die Erfahrungsebene der geschichtlichen Wirklichkeit abhebt.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Zunächst einmal ist klar, daß die personelle Kontinuität extrem hoch war. Es gab nur wenige Historiker, die entlassen worden sind. Mein Vater und Günter Franz (der aber später bekanntlich noch Rektor der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim werden konnte) gehörten dazu. Ernst Anrich ging zur Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und hat dort auf seine Weise gewirkt. Bis zum Ende der 50er Jahre gibt es eine enorme Kontinuität, und zwar nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern in allen Disziplinen, auch bei den Soziologen. Der Umbruch kam Ende der 50er bzw. Anfang der 60er Jahre mit dem Hochkommen einer neuen Generation, die glücklicherweise durch die Erweiterung der Universitäten auch gute Karrierechancen hatte. Wahrscheinlich wäre dieser Prozeß noch viel langsamer verlaufen, wenn nicht gleichzeitig der Ausbau der Universitäten erfolgt wäre. Die ideelle Kontinuität war ebenfalls hoch, sehr viele Historiker flüchteten sich in positivistische Rückzugspositionen. Es gab nur wenige wie etwa Fritz Ernst oder Reinhard Wittram, ein hochkultivierter, eindrucksvoller Mann, der in dem Zusammenhang diese etwas dubiose Rolle deutscher Volkstumspolitik im Osten mitgetragen hatte, die in der Lage gewesen sind, Schuldbekenntnisse abzulegen. In der großen Masse geschah zu meinem Bedauern nichts dergleichen. Dabei schließe ich meinen eigenen Vater mit ein. Es würde mir persönlich auch heute noch leichter sein, wenn er damals gesagt hätte: "Das war eine große Verirrung, ich trage die Konsequenzen."

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Es gab so gut wie keine Außenseiter, weil fast alle in gewisser Weise Dreck am Stecken hatten. Es mußte schon eine besondere Konstellation geben, damit das aufgeworfen und problematisiert wurde, was selten passierte. Bei meinem Vater hatten manche ein Interesse, das gar nicht mit der Aufklärung seiner Rolle in der Geschichtswissenschaft zusammenhing. In anderen Fällen war es ganz offensichtlich. Einen NS-Obergruppenführer konnte man schwer im Amt lassen, auch wenn er behauptete, von der Judenvernichtung nichts gewußt zu haben, was man nun wirklich nicht glauben kann.

Außerdem führte die ganze Spruchkammerpraxis dazu, daß eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit in mancher Hinsicht verhindert wurde. Die Leute wurden unter Druck gesetzt, ihre materielle Existenz zu verteidigen, indem sie sich selbst als Mitläufer stilisierten und infolgedessen langsam anfingen, das selbst zu glauben - mein Vater auch. Das war überall so, und insofern ist die ganze Entnazifizierungspraktik ambivalent: Einerseits war sie natürlich nötig, andererseits endete dies damit, daß sich alle Beteiligten gegenseitig Persilscheine schrieben.

Zum zweiten Teil der Frage: Warum hat das Beschweigen auch die 60er Jahre wesentlich überdauert?

1968 ist in der Hinsicht kein Einschnitt. Das Problem von 1968 ist doch ein anderes. Die jüngere Generation war unzufrieden mit dem unzulänglichen moralischen Engagement der Älteren, die keine geistige Führung boten. Und die Älteren boten keine geistige Führung, weil sie dazu angesichts ihrer NS-Vergangenheit nicht in der Lage waren. Es wäre schlimm gewesen, wenn sie Vorbilder gewesen wären. Die Jüngeren wollten plötzlich Führung und moralisches Engagement, das sie dann in der "Dritten Welt" und bei Che Guevara suchten. Ich habe das selbst ja noch als junger Dozent erlebt und stehe heute noch Kopf, wenn ich daran denke. Wenn man mit den jungen Studenten wirklich redete, hatten sie keine blasse Ahnung, was in der "Dritten Welt" überhaupt ablief, sondern die Themen wurden einfach ideologisch besetzt. Dort die unterdrückte Welt, und in der Bundesrepublik essen die Leute ihr fettes Mittagessen - diese Art von Moralisierung war alles. Die vorwiegende Einstellung war eine marxistische, natürlich ohne jede Kenntnis tatsächlicher marxistischer Positionen. In einem tiefen moralischen Engagement äußerte sich in der Unzufriedenheit mit der älteren Generation, die offenbar mit der Restituierung der Verhältnisse von vor 1933 völlig zufrieden war. Eine wirkliche intellektuelle Aufrechnung war dies eigentlich nicht. Das hätte es aber sein können.

Die Reaktion auf 1968 war interessanterweise ein Gegenschlag gegen die ahistorische Orientierung der deutschen Gesellschaft. Ich erlebte noch eine Phase, in der alle Welt über das mangelnde Interesse an der Geschichte klagte. Niemand interessierte sich für die Vergangenheit. Mit der jüngeren Vergangenheit war man noch unangenehm verflochten. Die ältere Vergangenheit interessierte auch nicht, im Grunde arbeitete man als professioneller Historiker mental ins Leere. Dies änderte sich nach der Studentenrevolution, aber bemerkenswerterweise aus konservativem Interesse. Die Konservativen wollten den Burkeschen Pakt zwischen den Generationen wieder schließen - mittels der Geschichte. Und obwohl das leidenschaftlich umkämpft gewesen ist, ist dieser Pakt ja auch tatsächlich wiederhergestellt worden.

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Historiker müssen aus einem wachen Bewußtsein ihrer politischen Verantwortung heraus Geschichte schreiben, weil Geschichtsbilder nun einmal mächtig sind. In diesem Sinne haben Historiker eine klare politische Aufgabe. Und meine Generation hat das überwiegend so gesehen. Wir haben gesagt: Wir müssen jetzt diesen alten Zopf wegräumen und ein Geschichtsbild entwickeln, das im Einklang mit den westlichen Traditionen steht und das zu einer demokratischen Ordnung paßt - sehr bewußt. Wehler hat die pädagogische Funktion des Historikers noch stärker herausgestrichen und damit Nipperdey herausgefordert, der ihm den Vorwurf des "Treitschke redivivus" machte, in gewisser Weise eine ganz berechtigte Kritik.

Die Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich sind mehr oder minder totgeschwiegen worden. Die Generation Conze/Schieder war sehr zurückhaltend, sich in das tagespolitische Geschäft hineinzuwerfen oder in politische Parteien einzutreten. Ich glaube, daß keiner von dieser ersten Riege Parteimitglied gewesen ist, aber das heißt nicht, daß sie sich von der Politik wirklich fernhielten. Wenn die Macht rief, waren sie alle da.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Die junge Generation, die selber keinerlei Bewußtsein einer direkten Kontinuität mit dieser Zeit hat, geht an diese Dinge sehr viel unbefangener heran. Ich glaube auch, daß dabei eine Rolle spielt, sich gegenüber einer älteren Generation offensiv als moralisch überlegen zu etablieren. Und es ist immer eine gute Sache, gegenüber der älteren Generation auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Das tut dem eigenen Selbstbewußtsein gut. Außerdem hat sich die geistige Konstellation geändert. Wir sind aus der Phase des Kalten Krieges heraus, in der alle diese Debatten durch den Ost-West-Gegensatz überformt wurden und demgemäß auch vielfach nicht wirklich offen ausgetragen worden sind, weil das immer die Polemik aus dem Lager der DDR oder der sowjetischen Historiographie herausforderte. In einer Situation, in der alles dies keine Rolle mehr spielt, ist ein unbefangeneres Herangehen an diese Dinge möglich. Aber es ist vielleicht noch etwas: eine neue Moralisierung dieser Probleme. Es ist ja dasselbe mit der Debatte über den Holocaust. Ich weiß noch gut, daß es eine Phase gab, in der wir davon eigentlich nicht direkt tangiert werden wollten, weil die Dinge einfach zu furchtbar waren. Man griff eher nach Gegenstandsbereichen, die eine für die demokratische Ordnung konstruktive Wirkung hätten haben können. Ich selbst habe schon deshalb keine NS-Forschung gemacht, weil das dann die Domäne meines Zwillingsbruders geworden ist. Aber er hat seinerzeit seine Studien über die nationalsozialistische Judenpolitik abgebrochen, weil er das emotional nicht durchhalten konnte, und dann über NS-Beamtenpolitik geschrieben. Dieses Phänomen scheint mir generell vorgelegen zu haben. Diese Debatte bewegte die Öffentlichkeit erst nach den großen Holocaust-Filmen, weil diese eine Personalisierung der Dinge vornahmen, die in der historischen Analyse der Judenpolitik nicht zulässig wäre. Heute werden diese Fragen unter dem Gesichtspunkt der individuellen Täter aufgeworfen. Das war lange tabu.

Ich meine schon, daß die aktuellen Auseinandersetzungen auch eine Generationenfrage sind. Die Jungen wollen ganz unbefangen die alte Generation in die Pfanne hauen. Warum das so ist? Wir waren damals natürlich auch geneigt, unsere Väter-Generation in die Pfanne zu hauen.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Unbedingt. Erstens geht es darum, sich über die Entwicklung des Fachs selbst und dessen moralische Grundlagen klar zu werden. Und zum zweiten geht es tatsächlich auch um methodische Grundpositionen.

Viele Fragen sind im Grunde allerdings nicht wirklich angesprochen oder einfach noch gar nicht gesehen worden. Die Analyse der Tiefenstruktur dieser Probleme setzt differenzierte Kenntnisse der historiographischen Debatte der Zeit voraus, während wir uns auf der Ebene von Oberflächenstories bewegen.

Herr Mommsen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Institut fuer Staatswissenschaften
Datum: 25.02.1999,
Interviewer/in: Hacke, Schäfer


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