Interview mit Michael Stürmer
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Michael Stürmer, geboren 1938 in Kassel, studierte Geschichte, Philosophie und Sprachen an der London School of Economics, an der FU Berlin und in Marburg, wo er 1965 bei Erich Matthias zum Thema "Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924-1928" promovierte. Von 1966-70 war er wissenschaftlicher Assistent an der Wirtschaftshochschule in Mannheim, bevor er nach einem Gastaufenthalt in Sussex an die TH Darmstadt ging, an der er sich 1971 habilitierte. Er lehrte als Gastprofessor u.a. in Harvard, an der Sorbonne, in Toronto und Bologna. Von 1987 bis 1998 war er Direktor der Stiftung "Wissenschaft und Politik" in Ebenhausen bei München.

Seit 1973 ist Michael Stürmer Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Erlangen.

Stürmer: "Die Volksgeschichte geht weit zurück - bis auf die Romantik. Man muß die Weltgeschichte nicht immer mit den Nazis beginnen lassen."

Teil 1: Biographische Fragen

Herr Stürmer, Sie sind 1938 in Kassel geboren. Was sind wichtige Einflüsse und Prägungen aus Ihrem Elternhaus?

Der prägende Umstand meiner Jugend war der Krieg, an den ich lebhafte, ja traumatische Erinnerungen habe. Trümmer, Hunger, Kälte, und fast hätten wir vor den Russen fliehen müssen, wenn da nicht die Amerikaner zuerst gekommen wären. Vor allem an den Winter 1945/46 erinnere ich mich, in dem wir über Monate nichts zum Heizen und wenig zu essen hatten. Die meisten Familien waren kaputt, die Männer tot. In Kassel war fast alles zerbombt. All das weckte bei mir unvermeidlich ein großes Interesse an der Geschichte. Ich hatte eine gute Schulzeit zunächst auf einer Waldorfschule, dann an einem humanistischen Gymnasium. In meiner Klasse waren viele vaterlose Kinder, weil die Kasseler Division in Stalingrad untergegangen war. Da der Besitz zerstört war, konzentrierte man sich auf Bildung, das hieß Latein, Griechisch, Literatur und die klassische Geschichte. Das spielte eine große Rolle, da Wissenslust und Arbeitsethik vorhanden waren. Entsprechend gab es gute Lehrer, Überlebende des Krieges. Man wollte wieder eine bürgerliche Lebensform erreichen mit einem Bücherschrank, mit Theater, Vergangenheit und Zukunft.

Wie gestaltete sich Ihr Einstieg ins Studium? Und warum entschieden Sie sich für Geschichte?

Nach dem Gymnasium machte ich erst ein technisches Praktikum, doch mein existentielles Interesse lag bei der Geschichte, der Philosophie und den Sprachen. Zu meinem Glück wurde ich bei der Studienstiftung des Deutschen Volkes angenommen, die mich förderte. Nach einem halben Jahr ging ich nach England, das am Ende der Sechziger noch ganz anders war als alles, was ich kannte. Ich spürte dort den Abendsonnenschein des Empire. Zurück in Deutschland, ging ich zunächst nach Marburg und dann nach Berlin. In Marburg hörte ich bei Fritz Wagner, den ich interessant und elegant, aber blutleer fand. Mich prägten dort vielmehr Althistoriker wie Christian Habicht oder Karl Christ, Erich Matthias, bei dem ich später promovierte, und Wolfgang Abendroth, dessen Scharfsinn ich schätzte, nicht aber seinen Marxismus. Letzterer war insofern wichtig, als er Carl Schmitt vermittelte und dies auf interessante, Widerspruch fordernde Weise. Unter den Mediävisten gab es Helmut Beumann, bei dem ich Vorlesungen gehört habe. Ansonsten hat mich dort wenig geprägt. Wilhelm Mommsen habe ich als Schatten auf der Straße gehen sehen. Viel stärker prägten mich die Professoren in Berlin, insbesondere Gordon Craig. In England, an der London School of Economics, an der ich auch studierte, waren Michael Oakshott und Michael Howard, der große Militärhistoriker, bedeutend für mich. Es war hilfreich zu sehen, mit welcher Gelassenheit man der deutschen Befangenheit in puncto Krieg bzw. den damit verbundenen Erinnerungen in England begegnete. Ich fühle mich dort - bis heute - heimisch und bin damals in die englische Kultur regelrecht eingetaucht.

Matthias war ein exzellenter Lehrer, der mich prägte und die Entwicklung von Fragestellungen förderte. Sein Schülerkreis war breit und heterogen. Er publizierte wenig, edierte dafür mehr.

 Wie würden Sie die Entwicklung und Motivation Ihrer Forschungsinteressen beschreiben?

Ich bekam ein Angebot des Hessischen Rundfunks, das Bildungsfernsehen aufzubauen, was vielleicht traumhaft gewesen wäre, aber Matthias bot mir eine Assistentur an, was mich mehr interessierte. Es zog mich zur modernen Geschichte, obwohl ich auch Angebote aus der alten Geschichte hatte. Man muß jedoch differenzieren zwischen dem Kern der Geschichte und dem Bildungserlebnis. Bei mir liefen die fachprofessionelle und die journalistische Seite immer parallel.

Dann sind Sie mit Matthias nach Mannheim gegangen...

Das war eine gute Schule, obwohl ich Mannheim nicht mochte. Dort waren zum Beispiel Martin Irle und Rainer Lepsius, der die Historiker kritisierte und für überflüssig hielt. Er, der nur einen großen historischen Aufsatz geschrieben hatte und sonst eher soziologisch arbeitete, war von unbarmherziger Arroganz. Ich habe mir gewünscht, als Hochschullehrer nie so zu werden. Von Hans Albert habe ich in dieser Zeit unendlich viel gelernt.

Hatten Sie in den Endfünfzigern bzw. Anfang Sechzigern das Gefühl, in einer Gesellschaft voller Tabus zu leben?

Nein, überhaupt nicht. Ich gehörte ja nicht zu der Generation, die für alles immer einen Schuldigen findet. Ich hätte zunächst mich gefragt, was ich falsch gemacht habe. Ich wechselte mehrfach die Universität, habe schnell studiert und am Ende sicherlich nicht alles gelesen - aber vermißt habe ich wenig in diesen Jahren. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus war mir zu deprimierend. Das war mir viel zu nahe, zu schmerzhaft, als Teil des kollektiven Leidens. Nein, mich interessierte eine Geschichte, die in gewisser Hinsicht distanzierbar war. Das heißt nicht, daß ich den Nationalsozialismus verdrängte; ich sah durch dieses Prisma sehr vieles schärfer. Aber dies zum Lebensinhalt zu machen und als graue Maus am Institut für Zeitgeschichte zu leben ... dafür ist das Leben zu kurz.

Ich wechselte auch seitdem alle fünf Jahre meine Themen radikal.

Welchen Einfluß übten Debatten wie zum Beispiel die "Fischer-Kontroverse" auf Sie aus?

Die Fischer-Kontroverse habe ich als eine falsche Debatte angesehen. Wenn der Assistent vom Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands im Namen des Guten den Mann attackierte, der bei der Gestapo im Keller gesessen hatte, dann war irgend etwas falsch. Im übrigen fand ich die methodische Grundlage Fischers schwach. Ich bin nun schon länger theoretisch und praktisch in der internationalen Politik tätig. Krieg ist das komplexeste Geschehen; Fischer war moralisch und einseitig, und Vergleich und Wechselwirkung waren ihm daher als Kategorien fremd und wahrscheinlich suspekt. Das widerspricht jedem komplexen politischen Systemdenken und muß in die Irre gehen. Wie kann jemand die deutschen Kriegsziele untersuchen, ohne das geringste von wirklicher Politik zu verstehen? Nach heutigen Erkenntnissen der Rüstungskontrollpolitik, die sich in den letzten 40 Jahren entwickelt hat - Entspannungspolitik zusammen mit Abschreckungspolitik - war das, was die Großmächte vor 1914 trieben, der Weg in den Abgrund. Sie waren alle der Sache intellektuell nicht gewachsen. So war es ja halbwegs verständlich, wenn der Kaiser sagte, daß jetzt mit den Serben abgerechnet werden müsse: "Jetzt oder nie!" Sonst wäre deutsche Glaubwürdigkeit dahin und Österreich-Ungarn zerschmettert. Am gestrigen Tage hat das sogar die NATO in bezug auf den Kosovokonflikt gesagt: "Jetzt oder nie!" Hier handelt es sich um das vergleichbare Syndrom. Ein wenig außenpolitische Erfahrung, ein etwas weiterer Horizont hätten dazu geführt, daß man das europäische Normalmaß erstmal in den Blick nimmt. Dämonisches und Fehler gibt es zur Genüge im Nationalsozialismus und auch im Kaiserreich. Der Flottenbau der Wilhelministen war nicht amoralisch, sondern strategisch dumm. Und daß man einen Krieg so beginnt, daß man eine Gewinnchance hat, ist ein Minimalerfordernis der Logik.

Kurzum: die Provinzialität dieser Debatten stört.

 Noch einmal zurück zu Ihrer Zeit in Mannheim: Haben Sie Kontakte zu Rothfels in Tübingen oder Conze in Heidelberg gehabt?

Zu Conze sehr. Ich habe ihn als Mann des großen Lexikons, das dann Koselleck gemacht hat, und Rothfels als jemanden, der sich sehr ernsthaft mit Preußen auseinandersetzte, wahrgenommen. Rothfels trieb die Frage um, wie im so aufgeklärten und vernünftigen, auch von ihm als Juden so geliebten Preußen solche Schrecken passieren konnten. Das war ja auch meine Frage, aber es war schon die einer anderen Generation.

 Hatten Sie die Verbindung von Conze und Schieder zu Rothfels und allgemein zum Königsberger Kreis vor Augen?

Nein. Das war uns jungen Studenten ziemlich gleich. Ich hatte zudem durch meine Verbindungen zu England ein anderes Verhältnis dazu. Matthias war ein Außenseiter, weder Marxist noch Konservativer - ein Wunder, daß er berufen worden war. Mich interessierten somit die Sachen viel mehr als die Personen und ihre Verflechtungen. Was meine persönliche Karriere anbetrifft, so bin ich gegen den Widerstand Schieders berufen worden und gegen ein Sondervotum von Kurt Kluxen. Dieser war ein fabelhafter, sehr kluger Mann, der aus einer anti-nationalsozialistischen katholischen Bürgerfamilie kam und von Schieder gefördert worden war. Das muß man positiv sehen. Schieder betrachtete meine Berufung 1973 als personal insult.

Ende der Sechziger bewegten Sie sich auch auf sozialgeschichtlichem Terrain. Welche Rolle spielte da Hans Rosenberg?

Ich kannte ihn und habe ihn sehr bewundert. Er war überhaupt nicht orthodox, ein nicht-marxistischer Wirtschafts- und Sozialhistoriker, und bearbeitete hochinteressante Fragen. Zudem war er ein empirisch denkender Mann mit dem Mut zu großen, klugen Thesen. Er konnte - wie so viele preußische Juden - nicht verstehen, wie Deutschlands Geschichte so schrecklich schiefgehen konnte. Für den Rundfunk hatte ich noch einige lange, historische Gespräche mit ihm aufgezeichnet. Ja, er war ein großer Mann.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Da müssen Sie natürlich unterscheiden. Es gab eine ganze Reihe Historiker, die wie Friedrich Meinecke aufrecht durch das Dritte Reich gegangen sind. Er war nach dem Kriege mit Recht eine der großen Lehrerfiguren. Nehmen Sie zum Beispiel Rudolf Stadelmann, Ludwig Dehio, Gerhard Ritter oder Franz Schnabel - von keinem würde man es auch nur wagen zu sagen, daß sie Mitläufer oder Unterstützer gewesen seien. Die Generation, die dann folgte, also Conze, Schieder u.a., hatte es in mancher Hinsicht schwerer, weil sie moralisch aus der Krise kam. Sie kam aus den Brüchen von Weimar, im Bewußtsein des Kriegsendes, taumelte in die "völkische Revolution" und hatte wahrscheinlich so wenig Urteilsvermögen wie die meisten Akademiker. Sie, Studenten und Volksschullehrer, waren aktiv im und für das Regime engagiert. Da sind sie halt - mehr oder weniger - mitgeschwommen. Ich meine, daß Schieder recht daran getan hat, das meiste, was er in dieser Zeit geschrieben hatte, nicht zu publizieren. Conzes Verhalten dagegen ist bedrückend und problematisch. Dennoch haben jene Schieder-Schüler, die die ganze Welt unter ihre kritische Sonde nahmen, ihren Chef nie gefragt: "Papa, was hast du denn im großen Krieg gemacht?" Das wäre weder taktvoll noch karrierefördernd gewesen.

Ich denke, Sie müssen unterscheiden zwischen denen, die im Kaiserreich - ohne zwingend Wilhelministen gewesen zu sein - im bürgerlichen Spektrum großgeworden sind, und denen, die erst die Weimarer Republik bewußt erlebten. Schieder, der etwa 1908 geboren ist, gleitet da sozusagen hinein, und um irgend etwas zu werden, da viele Historiker nach 1933 herausgeflogen waren bzw. emigrierten - jüdische wie nichtjüdische -, mußte man in die SA und den Arbeitsdienst. Das waren Leute, die nach dem Krieg wieder auftauchten und Karriere machten. Es war ja auch nicht von vornherein leicht erkennbar, wohin alles lief. Sie haben sich verführen lassen - so sind Menschen.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Entgleisung ist nicht das Wort, das ich wählen würde; auch nicht kompensieren. Denn was wäre gewesen, wenn sie tot gewesen wären im Jahre 1945? Diese Historiker hatten das Glück, am Leben zu sein und ein neues beginnen zu können. Unsere Strafrechtsphilosophie besagt, daß es Verjährung gibt - für Steuervergehen genauso wie für Mord -, da der Rechtsfriede irgendwann wieder herrschen soll. Man muß den Leuten, die überlebt haben, die Chance geben, sich in ihrer Umwelt zu bewähren. Des Teufels Architekt, Albert Speer, hat die Erträge seiner Memoiren im wesentlichen für jüdische Einrichtungen gegeben. Das war der Versuch tätiger Reue. Lassen Sie das Wort 'kompensieren', das aus dem Bank- und Handelsbereich, dem trading, stammt, nicht aber aus der menschlichen Seele. Aus dieser kommt Sündenbewußtsein, tätige Reue und Wiedergutmachung, und ein anständiger Mensch muß sich darum bemühen. Er kann sich bis zu einem gewissen Grade dadurch rehabilitieren.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Die Volksgeschichte geht weit zurück - bis auf die Romantik. Man muß die Weltgeschichte nicht immer mit den Nazis beginnen lassen.Vieles, was oberflächlichen Betrachtern als nationalsozialistisch erscheint, ist Gemeingeist Europas und Amerikas. Nehmen Sie die Architektur und sagen Sie mir, was die Naziarchitektur - außer reiner Parteitagsarchitektur - denn auszeichnet. Es gibt nur ganz wenig, was typisch für die Nazis ist. Nein, da ist sehr viel Europäisches - womit ich nicht explizit den italienischen Faschismus meine -, das die Nazis sich anverwandelten. Das gilt natürlich auch für solche geistigen Moden und Notwendigkeiten. Wenn man heute von Sozialgeschichte redet, so hätte man das damals Volksgeschichte genannt. Unterschichtengeschichte wäre dann der "gesunde Volksboden" usw. Sie nehmen nur ein anderes Etikett, der Inhalt bleibt ähnlich. Die Nazis waren unter anderem eine sozialrevolutionäre Bewegung, die die soziale Gärung, die sich aus der Industrialisierung, dem Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik entwickelt hatte, aufnahmen. Da sind Sie schon ganz nah an der Volksgeschichte. Das muß ja nicht alles mit blonden Maiden und Blut und Boden zugehen. Ich habe mich auch mit der Geschichte von Handwerkern beschäftigt, was aber nicht die große politische Geschichte ausmachte. Das ist eine Art von Geschichte, die man begreifen muß, die auch Erkenntnisse bringt, aber die Herzen nicht bewegt; das muß man realistisch sehen. Zum Karrieremachen und zum Mitschwimmen im Hauptstrom ist es allerdings geeignet.

Die Struktur- und Sozialgeschichte (VSWG) gab es schon vor dem Dritten Reich. Das ließ sich umakzentuieren und erschien so wieder passend. Alles, fast alles in diesen geistigen Dingen ist eben ambivalent.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

So groß war die personelle Kontinuität nicht. Es gab einige junge Leute, die beim Reichsinstitut für die Geschichte des Neuen Deutschland arbeiteten und nach dem Krieg Karriere machten. Andere sind aus der inneren Emigration gekommen wie Schnabel, Stadelmann oder Dehio. Das würde ich nicht Kontinuität nennen, da es sich um aufrechte Menschen handelte, die wieder in einem anständigen Kontext waren. Gerhard Ritter war zum Beispiel in Gestapo-Haft und hinterher noch ein sehr angesehener Mann. Schieder hat mich immer verwundert; wenn man sein Œuvre aus den 60ern und 70ern ansieht, so schien er fast aus dem Niemandsland zu kommen. Es war evident, daß da irgendwo eine Lücke war.

Mit Ausnahme der großen Namen kann ich aber keine große Kontinuität feststellen. Das gilt auch für Wilhelm Mommsen, für den es nach dem Krieg zu Ende war. Er hätte nicht noch im Jahre 1943 Hitler als den "Giganten" gegenüber Bismarck als Vorläufer darstellen dürfen. Das ging zu weit; es war auch unnötig.

Mein Amtsvorgänger in Erlangen, Walter Peter Fuchs, arbeitete über den Bauernkrieg und hatte bei Günther Franz promoviert. Franz war Mitglied der SS und versuchte, den Bauernkrieg mit der "Blut und Boden"-Seite zu verbinden. Nach dem Krieg haben die Linken in der DDR und bei uns den Bauernkrieg als Kampf in ihrem Sinne interpretiert. Im übrigen hatte Fuchs in jeder Beziehung eine gute, anständige, sympathische Karriere. Die Menschen sind damals in einen radikal anderen Kontext gesetzt worden, selbst wenn es derselbe Mensch war ... Viele sind nach 1945 abgelöst worden. Franz oder Mommsen hatten keine Karriere mehr nach dem Krieg. Rothfels kam zurück. Wollen Sie das Kontinuität nennen? Das Bild läßt keine Verallgemeinerung zu.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Das ist in der Tat erstaunlich. Zum einen sind Karrieregründe der jüngeren Generation dafür verantwortlich zu machen, zum anderen erinnert sich niemand gerne an Unangenehmes. Das ist auch eine wesentliche menschliche Kraft. Man sucht, seelische Schmerzen und Schamvolles zu vergessen. Es gibt aber auch eine breite Literatur, zum Beispiel Meineckes Die deutsche Katastrophe, die sehr tiefe Fragen stellt. Ich halte es für eine 68er-Legende, daß es der Studenten bedurfte, um zu wissen, daß es den Nationalsozialismus gegeben hatte. Natürlich wußte Conze von Schieder und umgekehrt, und natürlich holte man die Skelette nicht aus dem Schrank. Nun waren wieder gesittete Zeiten, und alle fanden sich auf dem Floß der Medusa wieder. Jemand wie Rothfels leitete auch keine Verfolgungskampagnen ein. Unter vornehmen Leuten, die sie waren, gab es so etwas wie Takt, und man machte das nicht öffentlich aus. Gelegentlich dachte man, daß man das demjenigen gar nicht zugetraut hätte. Erst die 68er haben sich hingestellt wie die Inquisitoren und damit geprahlt, daß sie die Nazis 1933 verjagt hätten, wenn man sie nur gelassen hätte: alles Kinderkram. Viel ernster, daß nicht wenige Vorkämpfer von 1968 Söhne der Marschierer von 1933 waren.

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Geschichtswissenschaft ist in gewisser Hinsicht eine politische Wissenschaft. Sie geht dadurch ins allgemeine Leben über, daß sich politische Legitimität nährt entweder aus Visionen von der Zukunft, die aus der Vergangenheit abgeleitet sind, oder aus der Überwindung der Geschichte, wozu die Vergangenheit erst einmal dargestellt werden muß. Alles ist geschichtlich geprägt, denn es geht darum, den Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzunehmen. Das gilt für jeden Politiker - aus der Dunkelheit zum Licht, aus dem Nationalsozialismus zu dieser fabelhaften Bundesrepublik, oder wie die 68er, weg von dieser angeblich so verkorksten, restaurativen Bundesrepublik hin zu einer anderen Republik. Das ist eine grundlegende Denkfigur, die Sie im "Faust" in der Scholarenszene nachlesen können.

Der Historiker hat die Aufgabe, dem entgegenzuhalten, was aber sehr schwierig ist, da er eben ein Kind seiner Zeit ist. Er hat Lust, sich einzumischen, ist letztlich ein öffentlicher Diener, der aus staatlichen Quellen bezahlt wird, Lehrer ausbildet und sich rechtfertigen muß. Ausschließlich der Wahrheit des eigenen Gewissens verpflichtet zu leben, ist schwierig. Der Historiker wird befragt, ist aber kein Prophet, obwohl er sich der Geschichte mit größerem Ernst und größerer Tiefe widmet als die meisten. Jedes Regime legitimiert sich aus der Geschichte, die totalitären mehr aus der Zukunftsvision. Amerika - mit seinem Verfassungsdenken - rechtfertigt sich jedoch auch aus der Vision. Der Historiker ist dazu da, diese Mythen zu zertrümmern oder Wasser in den Wein zu gießen. Die Demokratien leben von der Balance zwischen diesen Strömungen.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

In der weiteren Öffentlichkeit - denke ich - weckt diese Debatte keine Emotionen. Ihr ist es schlichtweg egal. Daß einige jüngere Historiker in der Zeit des Nationalsozialismus hurra gebrüllt und unvertretbare Dinge geschrieben haben, regt keinen vernünftigen Menschen mehr auf. Wenn Sie einmal die verschiedenen Zeitungen durchsehen, sehen Sie, daß dies ein non event war - außer im Feuilleton für Leute, die auch Historiker sind. Was der längst verblichene Schieder an Unvertretbarem und Schrecklichem in der ersten Hälfte seines Lebens geschrieben hatte, treibt keinen mehr um. Wenn es einen grand débat geben würde, dann müßte er - gemessen an den Erfahrungen von 1989/90 - um die Methoden im Fach Geschichte gehen, es müßte gefragt werden, was korrekturbedürftig ist, welche Prämissen hinfällig geworden sind. Da geht es um die Orthodoxie des Faches, insbesondere der Sozialgeschichte, die tiefe Gräben bis hinein in die Deutsche Forschungsgemeinschaft verursacht hat und die Stellenbesetzungsrituale prägte. Geschichte ist ja ein reiches Feld, dazu gehört die nötige Toleranz, daß andere Leute mit anderen Fragestellungen auch zu interessanten Ergebnissen kommen. Das ist in der Unduldsamkeit der 70er und 80er Jahre unter die Räder gekommen. Insofern glaube ich nicht, daß dies eine Debatte ist, die die Welt erschüttern wird.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Nein. Eher etwas Schadenfreude. Wenn Päpste gestürzt werden und Kardinäle betreten sind, dann ist das für diejenigen, die das Publikum bilden, ein interessanter Vorgang.

Herr Stürmer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Axel-Springer-Haus (Berlin-Kreuzberg)
Datum: 25.03.1999, ca. 14.00 bis 15.15 Uhr
Interviewer/in: Hacke, Steinbach-Reimann


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