Interview mit Reinhard Rürup
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Reinhard Rürup, geboren 1934 in Rehme/Westfalen, studierte seit 1954 Geschichte, Germanistik, Rechtswissenschaften und Theologie in Freiburg und Göttingen. Er promovierte 1962 bei Percy Ernst Schramm über "Johann Jakob Moser. Pietismus und Reform". Bis zu seiner Habilitation 1970 war er Oberassistent am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, wo er anschließend zum Professor berufen wurde. Er lehrte als Gastprofessor u.a. in Berkeley, Stanford, Harvard und Jerusalem.

Reinhard Rürup hat seit 1975 den Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin inne und ist Leiter der Gedenkstätte "Topographie des Terrors" in Berlin.

Rürup: "Das Dritte Reich hatte kein Problem mit den deutschen Historikern."

Teil 1: Biographische Fragen

Fragen Interviewer: Herr Rürup, welchem sozialen Milieu entstammen Sie bzw. wie sind Sie aufgewachsen?

Antwort Rürup: Ich bin 1934 geboren, war also bei Kriegsende knapp elf Jahre alt und wuchs in Bad Oeynhausen auf, einer Kleinstadt im östlichen Westfalen. Dort war kaum etwas zerstört, als die britische Rhine Army kam und ihr Hauptquartier aufschlug. Ich ging dort auf das Gymnasium und interessierte mich allmählich für Politik, teilweise auch für Geschichte. Ich studierte anschließend in Freiburg, an der Freien Universität Berlin und in Göttingen Geschichte und Germanistik als Hauptfächer mit einigen Nebenstudien. Nebenbei habe ich mich im Rahmen eines Ost-West-Arbeitskreises für politische Bildung engagiert. Es war mir sehr wichtig, daß ich in Göttingen dem studentischen Historischen Colloquium angehörte, in dem einmal pro Woche referiert und diskutiert wurde.

Können Sie ein prägendes Ereignis aus dem Elternhaus nennen, das Sie zum Geschichtsstudium bewogen hat?

Ich war kein Historiker von Haus aus. Mich interessierten vielmehr Politik und Fragen der Erziehung. Deshalb wählte ich Geschichte und Germanistik, weil ich dachte, daß das die Fächer seien, bei denen man mit Schülern den intensivsten Austausch haben würde. Mit der Zeit wuchs ich in das Geschichtsstudium hinein, wobei ich mich bis zu meiner Habilitation nicht auf eine Universitätskarriere festlegte.

In Freiburg, wo ich 1954 zu studieren begann, lehrten die großen Historiker Gerhard Ritter, Gerd Tellenbach und Nesselhauf. Vorlesungen hörte ich vor allem bei Tellenbach und Nesselhauf, die mich sehr beeindruckt haben, während ich die bei Ritter ungewöhnlich langweilig fand. Ich habe mich in Freiburg insgesamt lieber der Germanistik, Rechtswissenschaft und Theologie gewidmet.

Können Sie Eindrücke aus Ihrer Göttinger Zeit schildern, die sich mit Namen wie Hermann Heimpel, Percy Ernst Schramm u.a. verbinden?

Göttingen war in der zweiten Hälfte der 50er Jahre, als ich dort studierte, eine der besten Adressen für das Fach Geschichte in Deutschland. Das lag in der Tat an Percy Ernst Schramm, Hermann Heimpel, Reinhard Wittram, Alfred Heuß oder auch Wilhelm Abel für die Agrar- und Wirtschaftswissenschaften. Dieses Klima zog viele qualifizierte Studenten an, die auch dort promovierten.

Haben Sie in dieser Zeit schon besondere Interessen in bezug auf Geschichte verfolgt bzw. bestimmte Schwerpunkte gesetzt?

Der Mittelalterschwerpunkt war sehr stark, bei Schramm wie bei Heimpel. Ich war bei Schramm wissenschaftlicher Hilfsassistent und somit in der mittelalterlichen Geschichte tätig. Gelegentlich durfte ich auch ein Hauptseminar für ihn abhalten, wodurch man einiges lernte. Was die Strukturen angeht, so war ein wissenschaftlicher Hilfsassistent etwas besser als eine heutige studentische Hilfskraft und schlechter als ein wissenschaftlicher Assistent gestellt. Es gab zu diesem Zeitpunkt im Historischen Seminar in Göttingen einen einzigen Seminarassistenten, und darüber hinaus hatte jeder Ordinarius nur einen wissenschaftlichen Hilfsassistenten.

Nun ist ja bekannt, daß es einige Auseinandersetzungen zwischen Schramm und Heimpel bezüglich der Vergangenheit gab...

Nein, nicht wegen der Vergangenheit!

Aber Heimpel hatte öffentlich "Abbitte" geleistet, was von Schramm nicht bekannt ist. Gab es die Situation, daß man darüber im Historischen Seminar sprach?

Schramm unterhielt sich häufig mit mir, und gegen Ende meines Studiums kollationierte ich das Kriegstagebuch mit ihm. Er sprach viel über den Krieg und relativ wenig über die NS-Zeit. Anders als Heimpel war Schramm kein überzeugter Nationalsozialist, sondern ein Großbürger mit nationalen Prägungen. Er war jemand, der am Militärischen interessiert war, sich auch damit identifizierte, aber zum Beispiel gar nichts vom Antisemitismus hielt, was er auch sehr eindeutig formulierte.

Schramm hatte ein gemischtes Verhältnis zum NS. Beispielsweise galt er bei der NSDAP in Göttingen als "unzuverlässiger" Mann, was ihn aber nicht davon abhielt, 1933 - als er Gastprofessor in Princeton war - den Machtergreifungsprozeß der Nationalsozialisten im gleichen Jahr in den USA zu verteidigen. Joist Grolle hat darüber gearbeitet und eine sehr gute, kritische Analyse vorgelegt. Ein Pauschalurteil über Schramm, der etwa in seinen Hamburg-Büchern während des Krieges über die Hamburger Juden geschrieben hat, was er in den 50er Jahren ohne weitere Probleme wiederauflegen konnte, fällt schwer.

Wenn man die Veröffentlichung von Ursula Wolf "Litteris et Patriae" nimmt, dann findet man aber einige Zitate Schramms mit antisemitischem Charakter.

Schramm hätte die Möglichkeit gehabt, entsprechende Stellen in diesem Buch abzuändern, aber er stand insgesamt dazu. Sie werden nicht viele Historiker finden, die sich zur Zeit des Dritten Reiches über die nicht unwichtige Stellung der Juden in Hamburg im 19. Jahrhundert geäußert haben und das - im Prinzip jedenfalls - nicht zurückzunehmen hatten.

 Inwiefern hatten Sie Kontakt zu Heimpel?

Ich habe einige Seminare und Vorlesungen bei ihm besucht und hatte auch persönlichen Kontakt. Er war ein eindrucksvoller Mann und sprach in der Tat gelegentlich von "unserer Schuld" oder von "unserem Versagen". Auf mich wirkte das immer relativ allgemein - aber immerhin war er einer der ganz wenigen, die sich öffentlich äußerten. Wir kannten die Professoren durch das Historische Colloquium recht gut und kamen zu geselligen Veranstaltungen zusammen, das galt auch für Alfred Heuß und Reinhard Wittram. Der jüngste und modernste war Richard Nürnberger, der im Wintersemster 1955/56 von Freiburg, wo er sich bei Gerhard Ritter habilitiert hatte, nach Göttingen kam. Er behandelte aktuelle, zeitgeschichtliche Themen wie zum Beispiel die Jalta-Konferenz in einem Hauptseminar, Lukácsz in einem Kolloquium oder Marx' Frühschriften in einem Seminar und war insofern für uns sehr interessant.

Gibt es eine Entwicklung bzw. Loslösung von den Themenbereichen Schramms hin zu einer mehr sozialgeschichtlichen Ausrichtung? Ihre Dissertation über Johann Jakob Moser behandelt ja das 18. Jahrhundert, womit das mittelalterliche Forschungsgebiet schon bis an die Grenze ausgereizt wäre.

Schramm nahm auch Dissertationen zum 20. Jahrhundert an, gerade auch zum Zweiten Weltkrieg. Andreas Hillgruber und Hans-Adolf Jacobsen beispielsweise haben bei ihm promoviert. Schramm gehörte im übrigen zu den liberalen Doktorvätern und war gegenüber neuen Themen, die ihm gut begründet schienen, sehr aufgeschlossen. Joist Grolle, der über Spittler, einen Historiker des 18. Jahrhunderts, gearbeitet hatte, gab mir den Anstoß für meine Arbeit. Nachdem ich mich mit einigen Themen beschäftigt hatte, entschied ich mich für die Bearbeitung Mosers. Einen Teil lieferte ich als Staatsexamensarbeit ab, die ich relativ rasch in eine Dissertation erweitern konnte. Ich habe vorher keine Probekapitel bei Schramm abgeliefert, da man damals sehr unabhängig promovierte.

Wie hat man in Göttingen die alten Historiker, die also ihre Lehrstühle im NS schon innehatten, wahrgenommen? Wie ging man - insbesondere unter den Studenten - mit den Schriften Heimpels oder Schramms aus dieser Zeit um?

Es war kein großes Thema. Man nahm das einfach zur Kenntnis. Man wußte, daß Heimpel sich relativ stark auf den Nationalsozialismus eingelassen, daß Wittram eine SS-Uniform besessen und daß Schramm im Führerhauptquartier das Kriegstagebuch geführt hatte. Das beunruhigte uns damals allerdings sehr viel weniger als später. Meines Erachtens liegt dies nicht zuletzt daran, daß meine Kommilitonen das Dritte Reich noch als Pimpfe oder Hitler-Jungen miterlebt hatten. Wir konnten uns deshalb vorstellen, wie man in ein solches System hereingewachsen wäre.

Im übrigen fragten wir uns allenfalls, ob der eine oder andere sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, das heißt, ob er einen Kollegen denunziert hatte o.ä. Solange der Eindruck bestand, daß jemand persönlich ehrenhaft oder als ordentlicher Wissenschaftler, wenn auch mit unterschiedlichen Kompromissen, durch dieses System gekommen war, beunruhigte uns die ganze Sache nicht.

Abgesehen von Nürnberger gab es kaum Lehrveranstaltungen zur Weimarer Republik oder NS-Zeit. Es gab einmal ein Kolloquium zur Geschichte des Antisemitismus, was der emeritierte Siegfried August Kaehler, Wilhelm Treue und Schramm leiteten. Im Historischen Colloquium wurde häufiger über Zeitgeschichte diskutiert, aber da wir Themen von der Antike bis in die Gegenwart behandeln sollten, war das nur ein geringer Prozentsatz, kein Schwerpunkt der Arbeit. Im Gegensatz etwa zu Tübingen, wo sich das Kolloquium von Hans Rothfels schon anders entwickelte.

Gab es die Möglichkeit, die eigene Arbeit in einem anderen Rahmen bzw. bei einer anderen Universität einmal vorzustellen?

Nein, die gab es nicht. Ich hatte durch den eingangs erwähnten Studienkreis für politische Bildung überregionale Kontakte, was eher ungewöhnlich war. In dieser Zeit reiste man generell nicht viel, und Studenten machten auch keine Ferien, sondern fuhren in den Semesterferien nach Hause und arbeiteten in einer Fabrik - zumindest war das bei mir der Fall. Man verdiente ein wenig Geld, fuhr dann wieder an den Studienort und empfand das als angenehmen Wechsel.

Man muß sich das für die 50er/60er alles in kleinerem Rahmen vorstellen, auch was die Universität und ihre Bibliotheken anbetraf. Die Kommunikationsnetze waren viel weniger entwickelt als heute, weshalb Professoren, die überregionale oder sogar internationale Kontakte hatten, umso wichtiger waren. Spanische, amerikanische, englische, französische Historiker, die man gelegentlich damals auf Kongressen sah, beeindruckten daher sehr.

 Was können Sie über den Göttinger Arbeitskreis zur Ostforschung sagen?

Das Königsberger Archiv meinen Sie?

Ja.

Das hat Hubatsch stark betrieben, der allerdings zu dem Zeitpunkt, als ich nach Göttingen kam, schon nach Bonn gegangen war. Das große Archiv spielte natürlich für den Göttinger Standort eine große Rolle, der Arbeitskreis allerdings weder für Geschichtsstudenten noch für Göttinger Historiker. Es gab aber den Mittelalterlichen Abend, zu dem Historiker, Kunsthistoriker und Germanisten gingen, der ein sehr starkes Unternehmen war.

Kaehler und Hubatsch waren ja auch in Göttingen. Welchen Eindruck haben Sie von Ihnen?

Kaehler war Emeritus, Nürnberger sein Nachfolger, und Hubatsch war außerplanmäßiger Professor oder Extraordinarius, der seine ordentliche Professur in Bonn bekam.

Inwiefern würden Sie die beiden als konservativ bezeichnen?

Kaehler war dezidiert kein Nationalsozialist, wie man in dem Briefwechsel mit Meinecke gut nachlesen kann. Konservativ war er allerdings schon, das ist richtig. In den 50ern hatte er in den von Heimpel, Heuß und Reifenberg herausgegebenen Bänden "Die großen Deutschen" sogar einen Artikel über Adolf Stoecker geschrieben, der zu seinen Vorfahren gehörte.

In welchem Beschäftigungsverhältnis befanden Sie sich zum Zeitpunkt Ihrer Promotion?

Seit dem Spätsommer 1961 war ich wissenschaftlicher Assistent am Institut für Europäische Geschichte bei Martin Göhring, der seinen Schwerpunkt in der Französischen Geschichte hatte. Nach drei Jahren bot Göhring mir an, mich bei ihm in Gießen zu habilitieren. Ich lehnte dies aber ab, da ich den Eindruck hatte, daß ich mit ihm nicht gut genug fachlich diskutieren könne. Deshalb ging ich zu Thomas Nipperdey, bei dem ich Assistent in Karlsruhe war und mit dem ich 1964 nach Berlin ging.

Kommen wir zu Ihrer Habilitation.

Ich habe mich im Wintersemester 1969/70 habilitiert. Zu dieser Zeit hatte ich eine unbefristete Oberassistentenstelle im Friedrich-Meinecke-Institut an der Freien Universität Berlin. Es gab aufgrund eines neuen Gesetzes die Bestimmung, daß Oberassistenten, die sich binnen zwei Jahren habilitierten, sofort zu Professoren ernannt würden. Mir wurde dies von den Professoren des FMI empfohlen. Als Habilitationsgrundlage wurden meine Veröffentlichungen zum Zentralrat, die ich zusammen mit Eberhard Kolb ediert hatte, und zu einigen anderen Bereichen wie Revolutionsgeschichte, jüdischer Geschichte und Geschichte des Antisemitismus sowie meine Dissertation zur Geschichte des 18. Jahrhunderts akzeptiert.

Können Sie sagen, was Ihre Forschungsrichtung beeinflußt hat bzw. weshalb der Forschungsschwerpunkt auf deutscher Geschichte, speziell der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert, lag?

Während des Studiums hatte ich ein starkes Interesse an Zeitgeschichte und Politik. Ich habe Lehrgänge zur Geschichte des Antisemitismus oder zur Geschichte des Dritten Reiches geleitet und gelegentlich auch entsprechende Vorträge gehalten.

In Mainz bin ich dann vom 18. Jahrhundert her auf die jüdische Geschichte gekommen, und als ich dann nach Karlsruhe wechselte, gab es dort ein großartiges Archiv, in dem ich meinen Interessen nachgehen konnte. Während der Zeit in Mainz und Karlsruhe sind auch meine politischen Interessen deutlich stärker geworden, haben sich meine wissenschaftlichen Interessen allmählich verschoben.

Hinsichtlich des NS-Regimes gab es keine Bekehrungserlebnisse. Die Positionen verschoben sich jedoch langsam.

In Göttingen lag der Schwerpunkt für mich auf präzisem Quellenstudium, in Mainz gelangte ich schon zu den größeren Fragestellungen. Vor allem die Beschäftigung mit der Revolution von 1918 und mit der jüdischen Geschichte hat meine Positionen viel kritischer, auch politischer werden lassen.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich überwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neueren Forschungsergebnisse von Vordenkern und Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Karl Ferdinand Werner hat in seiner relativ frühen Arbeit über die Historiker im Dritten Reich die Formulierung gebraucht: "Die deutsche Geschichtswissenschaft ist nicht gleichgeschaltet worden, weil sie nicht gleichgeschaltet zu werden brauchte." Das heißt, das Dritte Reich hatte kein Problem mit den deutschen Historikern, wenn man in Rechnung stellt, daß die linksliberalen nichtjüdischen und jüdischen Historiker, deren Zahl ohnehin nicht riesig war, in die Emigration gezwungen wurden. Die deutsche Geschichtswissenschaft war in ihrer großen Mehrheit konservativ und national und trauerte der Weimarer Republik nicht nach.

Das Dritte Reich wurde von vielen Historikern als Chance gesehen, von der jüngeren Generation in besonderem Maße. Es gab begabte Historiker, die in der Weimarer Republik gegen diese und auch gegen die Wissenschaft jener Zeit opponierten. Sie wollten neue Wege beschreiten, und da ihnen, die aus bürgerlich-akademischen Häusern kamen, die Wege nach links versperrt waren, gingen sie nach rechts. Sie setzten auf die Möglichkeiten des Nationalsozialismus, den sie als Chance begriffen. Daß es darüber hinaus auch Historiker gegeben hat, die vor allem während des Krieges aktiv an Planungsvorgängen und politischen Entscheidungsprozessen beteiligt waren, ist erst in den letzten Jahren deutlicher geworden.

Hier ist es wichtig, daß erst in jüngster Zeit ganz klar geworden ist, daß die großen NS-Verbrechen nicht auf bloßen Führerentscheidungen beruhten und Befehle einfach heruntergereicht wurden - dann wären die Arbeiten von Theodor Schieder und Werner Conze völlig irrelevant -, sondern daß vieles auf den unteren und mittleren Ebenen entschieden wurde. Das gibt den Äußerungen von Schieder und Conze und ihren in der letzten Zeit viel diskutierten Arbeiten ein sehr viel stärkeres negatives Gewicht.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Das ist natürlich eine der schwierigsten Fragen. Man muß zunächst zwei eindeutige Feststellungen treffen. Erstens sind bestimmte Arbeiten, bestimmte Formulierungen in den Arbeiten Schieders und Conzes vor 1945 nicht zu entschuldigen, und sie können auch nicht durch spätere Leistungen für die Geschichtswissenschaft oder die demokratische Ordnung aufgewogen werden. Hier kann der Befund nur eindeutig sein. Zweitens findet sich in dem, was Schieder und Conze in der Bundesrepublik getan und geleistet haben, nichts von dieser Vorgeschichte. Man kann Conzes frühe Schriften diskutieren, wobei mir nach wie vor unverständlich ist, warum er die Schriften, die er vor 1945 verfaßt hatte, nicht einfach weggeschmissen, sondern in nur leicht überarbeiteter Form veröffentlicht hat. Das trifft für Schieder, der die Arbeitsgebiete gewechselt hatte, nicht zu. Dennoch bleibt es für mich ein Faktum, daß beide zu einer positiven Entwicklung der Geschichtswissenschaft beigetragen haben, nicht nur hinsichtlich der Sozialgeschichte. Beide haben junge Historiker, die links von ihnen standen, gefördert, beide waren liberal in ihrer Wissenschaftspolitik und haben sich für die Entwicklung einer demokratischen Kultur in der Bundesrepublik engagiert.

Mir scheint das Problem in der Fragestellung zu liegen, ob "aufgewogen" oder kompensiert werden kann. Ein Gegeneinanderaufrechnen ist nicht möglich. Man muß die beiden Entwicklungen ungeschönt nebeneinanderstellen und mit ihnen als Faktum leben. Weder darf man das vergessen, was vor 1945 war, noch kann man die 40 Jahre nach dem Nationalsozialismus in den Biographien dieser Historiker streichen.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der modernen Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Das sind zwei Fragen: einmal die Frage nach dem Innovationsgehalt der Volksgeschichte und zum anderen die nach der Kontinuität. Ich denke schon, daß die Volksgeschichte innovativ war, und zwar unter der Voraussetzung, daß das völkische Denken noch nicht durch das nationalsozialistische System gegangen und somit noch nicht in der Eindeutigkeit durch die großen Verbrechen diskreditiert war. Mit innovativ meine ich auch: weg von der Politikgeschichte, weg von der staatszentrierten Geschichte.

Begabte Historiker glaubten damals, die Volksgeschichte sei etwas, womit man experimentieren müsse, langfristig war das Innovationspotential jedoch begrenzt, und die Entwicklung mußte in einer Sackgasse enden.

Nun zur Kontinuitätsfrage, bei der es sich mehr um Insinuationen - etwa bei Götz Aly und anderen - als um eine wirkliche These handelt. Ich finde, daß die Kontinuitätsthese in die Irre führt und ihre Bedeutung lediglich in der polemischen Zuspitzung liegt.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Es gab eine sehr starke Kontinuität. Es sind nur wenige nicht wieder eingestellt worden, wie z.B. diejenigen, die Weltanschauungsprofessuren innehatten wie Ernst Anrich, oder NS-Rektoren wie Gustav Adolf Rein in Hamburg. Einige haben dann andere große Unternehmen aufgebaut, wie etwa die Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Andere, die aus den Oder-Neiße-Gebieten oder der DDR stammten, wurden sogenannte 131er Professoren an den westdeutschen Universitäten. Wilhelm Mommsen war einer der ganz wenigen, die nicht wieder hereingelassen wurden, obwohl das im Vergleich zu anderen ganz unverhältnismäßig war.

Von den emigrierten Historikern sind nur wenige zurückgekehrt, Hans Rothfels bildete da die Ausnahme. Hans Rosenberg ist gefragt worden, hat sich aber letztendlich für die USA entschieden. Er war aber am FMI in Berlin als Gastprofessor, wo er große Wirkungen im Hinblick auf die Entwicklung der Sozialgeschichte - Gerhard A. Ritter, Helga Grebing, Gilbert Ziebura, Otto Büsch u.a.m. - hinterließ. Hans Herzfeld war auch jemand, der im Dritten Reich an den Rand gedrängt wurde und nach 1945 - stärker als andere - wissenschaftliche und politische Lehren zog. Von daher war das FMI ein Ort, der offener für die Geschichte des Dritten Reichs als andere historische Seminare und Institute war.

Einige von denen, die eine zweite Chance bekamen, hätten sie nicht bekommen und ihre Arbeit nicht fortsetzen sollen. Auch haben die meisten die Chance, sich mit ihrer persönlichen Vergangenheit und der ihres Faches explizit auseinanderzusetzen, nicht genutzt. Sie haben einfach weitergemacht und sich erst allmählich geändert. Wenn Sie wieder das Beispiel Schieder/Conze nehmen, so gab es bei ihnen keine offene Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, wobei man über die Motive ihres Schweigens auch nur rätseln kann.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Das gilt natürlich nicht nur für die Historiker, sondern auch für andere Fächer. Wenn jemand in den 50er/60er Jahren Professor war, so wußte man, daß er in der Regel auch Professor im Dritten Reich gewesen war und dies mit mehr oder weniger Kratzern überstanden hatte. Wenn nun die Kollegen nicht durch Denunziationen oder demonstratives Besuchen eines Historikertages mit einem SS-Ehrensäbel aufgefallen waren, sah man darüber hinweg. Es gab zudem auch wenige Historiker, die neu in dieses System kamen, da der große Personalschub in den Universitäten erst Ende der 60er Jahre einsetzte. Ich will nur noch einmal in Erinnerung rufen, daß es bis in die Mitte der 60er Jahre nur ganz wenige Assistenten gab, das heißt, die Professoren waren unter sich. Es gab keine große Zahl von ausgewiesenen jüngeren Historikern, die eine solche Auseinandersetzung hätten führen können. Diejenigen, die in das System hineinkamen, waren solche, die das Dritte Reich in der HJ oder als Flakhelfer miterlebt hatten. Es ist daher nicht zufällig, daß die offenen Auseinandersetzungen erst Ende der 60er Jahre eintraten.

6. Inwiefern kann bzw. soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Die Geschichtswissenschaft ist natürlich nicht unpolitisch, auch wenn sie dies gelegentlich von sich selber behauptet. Jede Geschichte, die mit Problemstellungen der Gegenwart zu tun hat, wird auch von der Gegenwart her interpretiert. Insofern spielen die politischen Kategorien des Historikers, die natürlich methodisch kontrolliert werden müssen, eine große Rolle. Als Wissenschaftler sollte man allerdings gerade im Hinblick auf die eigenen Meinungen oder die Vorurteile besonders vorsichtig sein und die Quellen doppelt kritisch lesen. Andernfalls wird die Geschichtswissenschaft politisiert, verliert sie ihren wissenschaftlichen Charakter.

Eine säuberliche Trennung zwischen Geschichtswissenschaft und Politik scheint mir weder möglich noch sinnvoll. Das sollte aber nicht dazu führen, daß die Wissenschaft der Politik untergeordnet wird. Umgekehrt kann Geschichte als Wissenschaft für die Politik nur nützlich sein, wenn sie methodisch kontrolliert vorgeht und sich allgemein verständlich macht, was allerdings nicht immer gelingt.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Wir haben diese Diskussion für viele andere Disziplinen bereits gehabt. Vor einigen Jahren gab es beispielsweise in Nürnberg einen großen Kongreß, bei dem es um Medizin im Dritten Reich ging. Eine Arbeitsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft erforscht inzwischen die Entwicklung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Dritten Reich. Auch die Juristen haben mittlerweile einiges zur Aufarbeitung der Jurisprudenz im Dritten Reich getan. In weiteren Fächern, bis hin zur Psychologie, ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt zur Disziplinengeschichte gearbeitet worden. Da wirkt es provozierend, daß gerade die Historiker scheinbar ihren Beitrag bisher nicht geleistet haben. Das ist objektiv nicht ganz richtig, da es durchaus von Heiber über Werner bis zu manchen Universitätsgeschichten auch kritische Beiträge gegeben hat.

Bis vor kurzem fand jedoch keine Diskussion statt, bei der die Geschichtswissenschaft als Ganzes in Frage gestellt wird. Dabei handelt es sich auch um ein Generationsproblem und um eine partielle Abrechnung mit den Historikern, die während der letzten zehn bis 25 Jahre dominierten.

Vielleicht spielen auch Einzelaspekte wie die Goldhagen-Diskussion eine gewisse Rolle. Die vereinfachende These, daß alle Deutschen Antisemiten seien, ist zwar zurückgewiesen worden, aber betrachtet man den Antisemitismus von Historikern im Nationalsozialismus, so bekommt die Diskussion vor diesem Hintergrund einen anderen Stellenwert.

Es ist für mich rückblickend sehr beunruhigend, daß wir nach dem Kriege im deutschen Historikerverband als Vorsitzenden (nach Gerhard Ritter) zunächst Hermann Aubin hatten, der in die Rubrik der sehr guten, aber auch sehr belasteten Historiker gehört, dann Hans Rothfels, der in vielem einen Sonderfall darstellte. Ihm folgten Karl Dietrich Erdmann, Theodor Schieder und Werner Conze, die sich duzten und so etwas wie ein Machtzentrum bildeten. Nach diesen ersten sechs Vorsitzenden gab es dann einen Wechsel zu Gerhard A. Ritter und Christian Meier, also einer anderen Generation. Dies waren die gewählten Repräsentanten, in denen man sich wiedererkennen konnte.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Ich glaube nicht. Niemand würde etwa Schieders und Conzes Äußerungen ernsthaft verteidigen, und umgekehrt könnte niemand sagen, wir hätten eine alt- oder neonazistische Verschwörung in der Bundesrepublik gehabt. Vielmehr ist es einigen führenden Vertretern der Geschichtswissenschaft gelungen, sicher mit partiellem Mitwissen anderer, ihre NS-Vergangenheit vollständig zu versiegeln. Das ist so offensichtlich, daß wir darüber nicht diskutieren müssen. Eine Diskussion könnte man auf einer anderen Ebene darüber führen, was es z.B. für den deutschen Historikerverband bedeutet, wenn man sich die frühen Vorsitzenden genauer ansieht. Der Wechsel kam erst mit der Generation, die um 1930 geboren ist.

Herr Rürup, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: TU-Berlin, Ernst-Reuter-Platz (Berlin-Charlottenburg)
Datum: 02.02.99, ca. 16.00 bis 17.00 Uhr
Interviewer/in: Hacke, Steinbach-Reimann


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