Interview mit Gerhard A. Ritter
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Gerhard A. Ritter, geboren am 29.03. 1929 in Berlin, studierte seit 1947 Geschichte, Politische Wissenschaften, Philosophie und Germanistik an der Universität Tübingen, der FU-Berlin und am St. Anthony's College in Oxford. Er promovierte bei Hans Herzfeld über das Thema "Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften 1890-1900" und habilitierte sich 1961 in Neuerer Geschichte und Politikwissenschaft. Seine erste ordentliche Professur hatte er 1962 an der FU-Berlin als Politologe inne, lehrte später als Historiker zunächst in Münster, dann in München und war Gastprofessor in Berkeley und Tel Aviv. Von 1976-80 saß er dem Verband der Historiker in Deutschland vor. 1991/92 war er als Planungsbeauftragter für den Neuaufbau der Geschichtswissenschaft an der Humboldt Uni zu Berlin tätig.

Seit 1994 ist er emeritiert und lebt heute in Berg am Starnberger See.

Ritter: "Das Bild, das die Historiker während der NS-Zeit abgaben, ist also sehr differenziert, wenn auch für viele nicht schmeichelhaft."

Teil 1: Biographische Fragen

Fragen Interviewer/in: Herr Ritter, Sie sind 1929 in Berlin als Sohn eines Verlegers geboren. Können Sie kurz Ihre Herkunft und die Sie prägenden Ereignisse Ihrer Kindheit und Jugend schildern?

Ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen. Mein Vater war zwar Verleger, aber es war ein sehr kleiner Verlag. Meine Eltern waren im Arbeiterviertel Moabit in Berlin aufgewachsen und hatten nur die Volksschule besucht. Meine Großmütter sind beide als Dienstmädchen aus Schlesien und Pommern nach Berlin gekommen. Mein einer Großvater war Bierfahrer, der andere Schuster. Es waren also sehr einfache Verhältnisse. Meine Mutter arbeitete zunächst als Schneiderin. Mein Vater lernte Verlagsbuchhändler, weil er keine Lehrstelle als Schlosser erhielt. Später hat er aber einen eigenen kleinen Theaterverlag aufgebaut, was eigentlich erstaunlich ist, ohne höhere Schulbildung, ohne Sprachkenntnisse, ohne alles. Es war kein großer Verlag, aber durch ihn ist es uns nicht schlecht gegangen, denn der Verlag ist ganz gut gelaufen. Aufgewachsen bin ich in Dahlem. Das ist die Zeit, an die ich mich erinnern kann. Ich bin dort auch zur Schule gegangen. Das Ereignis, das mich stark geprägt hat, ist sicherlich der Krieg. Ich war während der ganzen Zeit des Zweiten Weltkrieges mit nur kurzen Unterbrechungen in Berlin, auch während der Bombenangriffe und auch während der Zeit danach.

Welche Erinnerungen hat das Kriegsende 1945 bzw. die Zeit danach bei Ihnen hinterlassen?

Darüber habe ich etwas geschrieben, vielleicht kennen Sie es. Es handelt sich um einen Beitrag in einem Buch mit dem Titel: "Besiegt, befreit" ; es enthält Berichte von Menschen, vor allem aus Politik, Kultur, Wissenschaft und den Medien, die dem Jahrgang 1929 angehören und erzählen, wie sie das Kriegsende erlebt haben. Auch für die Festschrift meiner Studienkollegin Helga Grebing bin ich - vor allem über die Neuanfänge nach Kriegsende - interviewt worden. Im Gegensatz zu dem, was Hans-Ulrich Wehler und andere berichten, habe ich die Zeit nach 1945 sehr bald als einen großen Aufbruch empfunden. Von Menschen, die diese Zeit in der "Provinz" verbrachten, hört man häufig und wohl zu Recht, daß die Verhältnisse sehr stagniert hätten, gar nichts gelaufen wäre und sich die Umstände erst Mitte der fünfziger Jahre wirklich zu verändern anfingen. Das gilt für Berlin m. E. nicht. Dort hatten wir die vier Besatzungsmächte in ihren jeweiligen Sektoren, die kulturell miteinander in Konkurrenz traten. Es war sehr aufregend, das zu erleben. Es wurden die interessantesten Sachen gezeigt, große Ausstellungen, französische Expressionisten und Impressionisten, auch das Theaterleben war schon früh sehr reich. Ich hab eine sehr lebendige Erinnerung an eine aufregende Zeit mit sehr großen Auseinandersetzungen - das ist das falsche Wort, weil es nicht so kontrovers war -, aber mit sehr großer geistiger Anregung. Ich habe ein sehr positives Bild dieser Zeit. Ich bin dann 1947 zum Studium nach Tübingen gegangen und hatte das große Glück, sofort zugelassen zu werden. Als 18jähriger war ich neben den vielen Soldaten, die gerade aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden waren, einer der jüngsten Studenten der Universität.

Weshalb entschlossen Sie sich neben dem Studium der Politikwissenschaft zum Geschichtsstudium?

Ich war von Kind an sehr an Geschichte interessiert, habe aber in Tübingen zunächst Philosophie, Germanistik und Geschichte studiert. Nicht in dieser Reihenfolge, sondern nebeneinander, fast gleichgewichtig. Zusätzlich habe ich viel nebenbei gehört, Jura, Theologie auch Psychologie und vieles andere. Nur um ein Beispiel zu nennen: 1948/49 habe ich regelmäßig Carlo Schmid gehört, als er am Grundgesetz gearbeitet hat. Er war ja der Vorsitzende des Hauptausschusses, der wesentlich das Grundgesetz geprägt hat. Schmid hat immer Freitags abends zweistündig, gleichsam aus der Schule geplaudert und berichtet, was sie gerade machten. Das war sehr spannend, daran erinnere ich mich sehr genau.

Die ersten Semester nutzte ich stark zur generellen Orientierung. Im Fachstudium habe ich damals noch mehr Germanistik als Geschichte gemacht. Tübingen war damals eine sehr gute Universität. Es war, das war eine Ausnahme, vollkommen unbeschädigt bis auf eine Bombe, die irgendwann einmal im Notwurf abgeworfen worden war. Die Universität hatte eine gute Bibliothek und auch sehr gute akademische Lehrer. Wegen der Berliner Blockade habe ich kein Geld von meinen Eltern erhalten - Stipendien gab es so gut wie nicht, nur einen Erlaß der Studiengebühren, für den man jedes Semester zwei halbstündige Prüfungen bei einem Professor ablegen mußte. Ich habe daher ab 1948 in den Semesterferien als "Werkstudent", wie man damals sagte, in einer Zwirnfabrik im nahen Reutlingen gearbeitet.

Zwei Jahre später, 1949, bin ich zum Studieren zurück nach Berlin gegangen. Das war, nachdem die Freie Universität gegründet und die Blockade beendet worden war. An der FU habe ich mich dann ganz eindeutig auf das Studium der Geschichte konzentriert und die Germanistik, auch die Philosophie fast ganz fallen lassen.

Auf welche Themen haben Sie sich an der Freien Universität konzentriert? Wer waren die Lehrer, die Sie dort geprägt haben?

Mein Doktorvater war Hans Herzfeld. Er hat mich sehr stark geprägt. Ihm habe ich sicher sehr viel zu verdanken, und ich habe sehr positive Erinnerungen an ihn. In Mittelalterlicher Geschichte war es Wilhelm Berges. Er war sehr eindrucksvoll. Später war für die Landesgeschichte aber auch für das Mittelalter Walter Schlesinger wichtig. Alte Geschichte habe ich vor allem in Tübingen, kaum noch in Berlin, studiert.

Wie kamen Sie zu Herzfeld?

Herzfeld hatte hier in Berlin zunächst eine Gastprofessur. Er war für ein ganzes Semester eingeladen worden und las über das britische Commonwealth. Das interessierte mich. Herzfeld hatte, bevor er 1950 nach Berlin ging, in Feiburg eine AO-Professur - heute würde man C3-Professur sagen - für europäische und außereuropäische Geschichte inne. Herzfeld hatte bereits in der Weimarer Republik als "nicht beamteter, außerordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, politische und soziologische Probleme der Geschichtswissenschaft", so die ungewöhnliche Umschreibung seines Lehrauftrages, in Halle gelehrt. Er wurde dann aber als sog. "Vierteljude" von den Nationalsozialisten 1938 entlassen, vorher hatte ihn sein Status als dekorierter Frontoffizier des Ersten Weltkrieges geschützt.

In Freiburg lehrte Herzfeld keine neuere deutsche Geschichte. Das machte der Freiburger Historiker Gerhard Ritter, mit dem ich übrigens nicht verwandt bin. Nachdem Herzfeld endgültig nach Berlin kam, bin ich auch bei ihm im Seminar gewesen und habe ihn so besser kennengelernt.

 War Herzfeld damals eigentlich, wie andere Historiker, auch bei den Politikwissenschaftlern angesiedelt?

Nein, Herzfeld war bei den Historikern, hatte aber ein großes Interesse für Fragen der Politik und Politikwissenschaft und für das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Politik; so habe ich bei ihm ein hochinteressantes Seminar zu den Vorlesungen deutscher Historiker des 19. Jahrhunderts über "Politik" (u.a. Dahlmann, Waitz, Gervinus, Sybel, Droysen, Treitschke, Hintze) mitgemacht, über die er ein Buch schreiben wollte; er ist leider nie dazu gekommen. Wenn ich weitere Personen aufzählen soll, die mich vor allem in Berlin prägten, dann kämen neben Herzfeld noch zwei hinzu: Der eine war Hans Rosenberg, der 1949/50 und 1950/51 Gastprofessor an der FU war. Er hat unsere ganze Studentengruppe, zu der auch die späteren Neuzeithistoriker Helga Grebing, Gilbert Ziebura und Gerhard Schulz gehörten, stark beeinflußt und geprägt. Ich stand bis zu seinem Lebensende in sehr enger Verbindung mit ihm und habe nach seinem Tod einen längeren Nachruf auf ihn geschrieben. Ich habe bei Rosenberg zwei Gastvorlesungen und auch Seminare besucht. Rosenberg kam zunächst regelmäßig jedes Jahr für mehrere Wochen nach Berlin zurück, auch als er keine Lehrveranstaltungen mehr abhielt, und traf sich dann mit seinen ehemaligen Studenten. Man hat damals vergeblich versucht, ihn für die FU zu gewinnen. Rosenberg war Meinecke-Schüler. Er mußte als "Halbjude" bereits 1933 aus Deutschland emigrieren und hat dann eine große Karriere in den Vereinigten Staaten, wo er zuletzt in Berkeley lehrte, gemacht. Meinecke selbst habe ich auch ganz gut gekannt. Ich habe in Dahlem zwei Häuser neben ihm gewohnt und habe ihm gelegentlich aus historischen Werken vorgelesen. Er war ja fast blind. Das war sehr eindrucksvoll für mich. Er ließ keinen Fehler beim Vorlesen, etwa wenn ich dreadnought (schweres Schlachtschiff) falsch aussprach, durchgehen. Auch aus Gesprächen mit ihm habe ich viel gelernt. Bemerkenswert war sein großes politisches Interesse. So verfolgte er genau die amerikanische Politik der Zeit.

Der andere Lehrer, der großen Einfluß auf mich hatte und mich ebenfalls stark geprägt hat, war Ernst Fraenkel. Er war nach dem Jurastudium Assistent von Sinzheimer, einem der Begründer des deutschen Arbeitsrechts, gewesen und hatte in der späteren Weimarer Zeit als Anwalt für die Metallarbeitergewerkschaft gewirkt und für sozialdemokratische Zeitschriften geschrieben. Anfang der 1950er Jahre kam er unmittelbar aus Korea nach Berlin. Er war erst 1939 als Jude nach Amerika emigriert, hatte dort amerikanisches Recht studiert und war nach dem Krieg als Berater der amerikanischen Militärregierung in Korea, und zwar im Bereich der Sozialpolitik tätig. Er war Spezialist für Fragen des Arbeits- und Sozialrechts. Er ist durch Vermittlung seines Freundes Otto Suhr an die deutsche Hochschule für Politik, dem späteren Otto-Suhr-Institut, gekommen und hat dort, wie überhaupt in der deutschen Politikwissenschaft nach 1950, eine bedeutende Rolle gespielt. Kennzeichnend für ihn als Politikwissenschaftler war seine große theoretische Begabung, seine Fähigkeit, die Umsetzung von generellen Normen in die praktische Politik zu analysieren. Er verkörperte die in Deutschland leider sehr seltene Verbindung von Rechts- und Politikwissenschaft und hatte ausgezeichnete Kenntnisse der politischen Philosophie und auch der Geschichte. Er ist mit Herzfeld und Rosenberg sicher derjenige, der mich am meisten geprägt hat. Ich war mit ihm, wie mit Rosenberg, schließlich auch persönlich befreundet, und es hat mich immer sehr bedrückt, daß ich 1968 seinem Wunsch, sein Nachfolger in Berlin zu werden, nicht entsprochen habe und den Ruf auf seinen Lehrstuhl ablehnte.

Sie schreiben über Herzfeld, daß er sich selber öfter revidiert und seine biographischen Irrtümer auch öffentlich zurechtgerückt hätte. Können Sie uns dazu Genaueres berichten?

Öffentlich? Nun ja, Herzfeld hat daraus keine große Affäre gemacht. Er war jemand, der sehr gerne aus seinem Leben erzählte, sicher im Unterschied zu anderen, nach dem, was man auf dem Historikertag in Frankfurt am Main 1998 gehört hat. Dabei war er unbefangen; er hatte wohl auch keine großen Fehler einzugestehen, der Rest waren für ihn Jugendsünden. Er hat in keiner Weise den Professor herausgekehrt, er war überhaupt nicht hochgestochen. Man konnte mit ihm einfach so zusammensitzen und Würstchen essen. Je älter er wurde, desto mehr erzählte er, ohne daß man ihn groß anstoßen mußte. Das gibt es ja manchmal bei älteren Leuten.

Spielte der Militarismus bei ihm da noch eine Rolle, vielleicht im Kontext der Wiederbewaffnungsdebatte in den 50er Jahren?

Ja, das hat ihn sehr intessiert. Er hat ja die vier Bände von Ritter über den deutschen Militarismus mit dem Titel "Staatskunst und Kriegshandwerk" genau gelesen und setzte sich selbst immer wieder mit diesem Thema auseinander. Er selbst war ja im Ersten Weltkrieg Soldat bei den "Franzern", einer Eliteeinheit. Herzfeld war sehr klein und hatte eine sehr eigene Art, mit ganz großen Schritten zu laufen. Ich habe ihn einmal darauf angesprochen und da erzählte er: "Ich mußte ja als Reserveoffizier bei den "Franzern" immer mit den Soldaten mit Gardemaß Schritt halten." Er war also Soldat im Ersten Weltkrieg und war auch in französischer Kriegsgefangenschaft. Das Verhältnis von Staat, Heer und Gesellschaft hat ihn immer interessiert. Seine Habilschrift über "Die deutsche Rüstungspolitik und der Weltkrieg" behandelte die Entstehung der großen Heeresvermehrung 1913. Diese Schrift hat ihn in der Zunft bekannt gemacht, da er nachweisen konnte, daß der Verzicht des preußischen Kriegsministeriums auf einen noch weitergehenden Heeresausbau entscheidend damit zusammenhing, daß man bei einer Aufstellung der damals von Ludendorff geforderten drei neuen Armeekorps eine Rekrutierung des Offizierkorps aus "nicht geeigneten Kreisen" und eine Revolution befürchtete und deshalb davon Abstand nahm. Herzfeld hat immer auch zeitgeschichtlich gearbeitet. Wenn man sich vorstellt, zu Beginn der 20er Jahre über 1913 zu arbeiten oder über den Ersten Weltkrieg, das war ja unmittelbare Zeitgeschichte. Er hat aber auch weit zurückgreifende Interessen gehabt. Sein 1950/52 in zwei Bänden erschienenes, immer wieder neu aufgelegtes großes Werk über die moderne Welt 1789-1945 geht ja bis zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zurück. Er war aber auch sehr stark an Dingen, die erst kurz vorher geschehen waren, so auch an der Berliner Geschichte nach 1945, interessiert.

Wie gestalteten sich methodische Gespräche mit Herzfeld? Hat er Sie z.B. bezüglich Ihrer Themenwahl bei der Promotion beeinflußt?

Nein, denn ich kam eigentlich mit einer Vorstellung davon, was ich machen wollte, aus Tübingen. Ich hatte in Tübingen Rudolf Stadelmann als Lehrer, der dann völlig unerwartet starb. Stadelmann hatte ein Seminar über soziale Probleme und soziale Fragen am Ende des 19. Jahrhunderts gemacht. Das hat mich sehr interessiert, obwohl ich im Seminar nicht über die Sozialdemokratie, sondern über den Freiherrn von Stumm-Halberg, einen paternalistischen, sozialpolitisch engagierten, saarländischen Schwerindustriellen mit zeitweise großem politischen Einfluß, gearbeitet habe. Ich kam zu Herzfeld mit einer mehr oder minder fertigen Idee, die er akzeptiert hat. Er hat in der Regel keine Themen aus der Schublade herausgegriffen. Manchmal hat er Studenten angeregt, aber im allgemeinen wollte er, daß man seine Themen selber findet, und hat sich nur mit einem beraten, ob sie vernünftig waren oder nicht. In dieser Hinsicht geschah meine Themenwahl im wesentlichen auf eigene Initiative.

Wo Sie gerade Rudolf Stadelmann erwähnen, der im Tübinger Raum von Bedeutung war. Dort lehrte ja mit Hans Rothfels auch ein anderer bekannter Historiker. Hat Rothfels für Sie auch eine Rolle gespielt?

Ja, aber erst später, lange nach dem Tod Stadelmanns. Stadelmann war ein eindrucksvoller akademischer Lehrer, nicht nur weil er sozialgeschichtliche Fragen als einer der ersten aufgriff, sondern auch weil er ein großer Rhetor war. Das war Herzfeld nicht. Herzfeld hatte bei Vorlesungen die Augen geschlossen und hat unendlich lange Sätze gebildet. Sein größerer Einfluß war im Gespräch und im Seminar. Ich will nicht sagen, daß Herzfelds Vorlesungen schlecht waren, aber man mußte sich als Zuhörer sehr konzentrieren. Stadelmann war dagegen ein großer Rhetor, der sein Manuskript am Pult zurücklassen konnte, während er referierend vor dem Publikum auf und ab ging und dabei historische Persönlichkeiten richtig zum Leben erweckte. Rothfels ist erst einige Semester nach dem unerwartet frühen Tod von Stadelmann 1949 nach Tübingen gekommen. Ich war zu dieser Zeit bereits in Berlin. Es ist allgemein, nicht nur wegen Ihrer jetzt diskutierten NS-Verstrickung, eine interessante Frage, ob Schieder und Conze für die Nachkriegshistoriographie die Rolle gespielt hätten, die sie gespielt haben, wenn Stadelmann nicht so plötzlich und unvorhergesehen gestorben wäre. Er war der kommende Star, eine sehr starke Persönlichkeit. Ich bin ganz sicher, daß er in der deutschen Geschichtswissenschaft eine große Rolle gespielt hätte.

Gab es politische Marksteine, die Ihr Verhältnis zu Herzfeld, an dessen Lehrstuhl Sie nach dem Studium Assistent waren, beeinflußt haben, und haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Herzfeld war politisch sehr interessiert und dabei sehr tolerant. Er hat nie versucht, einen auf seine Überzeugungen festzulegen. Das war vielleicht besonders bezeichnend für ihn. Er selbst schätzte den Berliner Oberbürgermeister, den Sozialdemokraten Ernst Reuter, sehr, obwohl er seiner Herkunft nach eher ein Konservativer war. Das wird an Herzfelds frühen Schriften deutlich. Er hat immer sehr genau verfolgt, was aktuell passierte. Über Poltik im engeren Sinne, also über das, was gerade vorging, haben wir eher weniger gesprochen. Was ihn sehr interessiert hat, war das Schicksal der Professoren in Ostdeutschland. Ich habe es in meinem Beitrag über ihn angedeutet. Herzfeld kam selbst aus Halle, wo sein Großvater Stadtverordnetenvorsteher war, eine sehr angesehene Persönlichkeit. Dieser Großvater war Jude, und deswegen hatte Herzfeld, wie ich schon bemerkte, in der NS-Zeit auch große Schwierigkeiten. Von Halle konnte Herzfeld stundenlang erzählen. Dort lag seine Herkunft, dort war seine Heimat. Herzfeld hat sich sehr bemüht, den Kollegen und Historikern in Ostdeutschland eine Brücke an die FU und auch weiter nach Westdeutschland zu bauen, so daß sie dort Stellungen bekamen. Er hat z.B. für die FU Carl Hinrichs geworben. Das war nicht sehr einfach, aber der Exitus der Wissenschaften im Osten hat ihn stark beschäftigt. Es ist wahrscheinlich wenig bekannt, aber er war hierfür im Bereich der Geschichtswissenschaften eine Schlüsselfigur. Darüber hinaus war er aktiv im Ausschuß des Historikerverbandes. 1952 hat er den Plan des damaligen Verbandsvorsitzenden, Ritter, unterstützt, einen Doppelhistorikertag in Ost- und West-Berlin zu veranstalten, um die deutsche Geschichtswissenschaft zusammenzuhalten. Herzfeld hat darüber auch mit Ernst Reuter gesprochen. Doch es ist aufgrund der Ost-West-Probleme nichts daraus geworden. Damals war der Historikerverband noch nicht gespalten, was ja erst 1958 in Trier passiert ist. Soweit ich weiß, wollte Herzfeld nie selbst für eine Partei kandidieren. In dieser Richtung hatte er keine Ambitionen und Interessen, jedenfalls weiß ich nichts davon und glaube es auch nicht.

Wie stand es um Herzfelds Situation vor 1945? 1943 ist er wohl endgültig rausgeflogen und war persönlich gefährdet?

Herzfeld ist denunziert worden. Darüber schreibt er auch in seinen Memoiren. Es war seine Art, unvorsichtig viel und ungeschützt zu sprechen. Er arbeitete nach seiner Entlassung als Hochschullehrer 1938 als wissenschaftlicher Angestellter der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres in Potsdam. In einem privaten Gespräch über die Kriegslage im Februar 1943 hat er geäußert, daß der Krieg wohl für Deutschland verloren gehen würde. Er wurde dann wegen angeblicher "Wehrkraftzersetzung" verhaftet. Dies geschah nicht, weil er "Vierteljude" war, sondern weil eine Bekannte von Herzfeld über dieses Gespräch unvorsichtig geplaudert hatte und man ihn nun wegen Wehrkraftzersetzung und Geheimnisverrat den Prozeß machen wollte. Er hat in seinen Memoiren beschrieben, wie er sich aus dieser Situation wieder herausgewunden hat. Die wirkliche Problematik war, daß man versuchte, ihm anzuhängen, daß er Informationen preisgegeben habe, zu denen er dienstlichen Zugang hatte und so Geheimnisverrat begangen habe. Das war falsch, und man konnte es nicht beweisen. Eine Verurteilung wegen Geheimnisverrats und Wehrkraftzersetzung hätte seine Hinrichtung bedeuten können. Aber es gelang Herzfeld, den Kopf aus der Schlinge wieder herauszuziehen. Er wurde nach sieben Wochen aus dem Gefängnis entlassen und verlor natürlich seine Stelle. Er ist dann nach Freiburg gegangen. Er lebte vom Auftrag eines Verlages, eine Geschichte des Ersten Weltkrieges zu schreiben und - offenbar als Beitrag zum Neuanfang nach der erwarteten Niederlage - die Herausgabe eines großen Sammelwerkes zur Weltkrise seit 1900 vorzubereiten. Aus diesem Sammelwerk ist nichts geworden. Seine Studien zum Ersten Weltkrieg waren eine der Grundlagen für ein allerdings erst sehr viel später, 1968, veröffentlichtes Buch. Herzfeld war so einer der wenigen, die nach 1945 wirklich etwas in der Schublade liegen hatten und noch auf Forschungen zurückgreifen konnten. Herzfeld ist in Freiburg von der Gestapo streng überwacht worden, aber das wußte er damals nicht. Er hat das Kriegsende in Freiburg erlebt und danach, offenbar durch Ritters Vermittlung, die AO-Professur für europäische und außereuropäische Geschichte erhalten, ein Themenbereich, der ihn sehr interessierte. Als er dann nach Berlin kam, war er mit fast 58 Jahren schon relativ alt. Es war quasi seine letzte große Chance.

Sie haben Herzfeld an einer Stelle als deutschnational beschrieben. Würden Sie auch so weit gehen und den jungen Herzfeld als Nationalisten bezeichnen?

Ja, das war er in den zwanziger Jahren sicher. Er hat ein Buch über die Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg geschrieben, das durchaus als Bestätigung der Dolchstoßlegende angesehen werden kann. Der Themenkomplex Kriegsschuldfrage und Erster Weltkrieg hat ihn stark beschäftigt. Die Weimarer Republik hat er erst in den letzten Jahren, als sich immer mehr von ihr abwandten, innerlich akzeptiert. Das hing auch mit der positiven Wertung von Stresemann und seiner Locarno-Politik zusammen. Herzfeld war sehr wenig dogmatisch und kein großer Theoretiker. Aber er hat ein gutes Sensorium für das gehabt, was vor sich ging, und hat sich sehr für alles interessiert, was um ihn herum passierte. Herzfeld ist Zeit seines Lebens ein deutscher Patriot gewesen und hätte sich, wenn er sie erlebt hätte, über die Wiedervereinigung sehr gefreut. Er war aber spätestens seit 1930 kein Nationalist mehr. Herzfeld hatte trotz oder wegen seiner Kriegsgefangenschaft ein sehr positives Verhältnis zu Frankreich und hat sich auch sehr für England interessiert. Seine Schwester war in den 30er Jahren im Gegensatz zu ihm rechtzeitig dorthin emigriert. Er selbst hat auch Versuche zur Emigration unternommen, die jedoch nicht sehr weit gediehen sind. Er war mehrfach längere Zeit in den Vereinigten Staaten. 1973/74 war er 81jährig als wohl ältester Stipendiat, wie er humorvoll bemerkte, an der Hoover-Institution of War, Revolution and Peace in Stanford. Er wollte dort den leider nie fertiggestellten dritten Band seiner "Modernen Welt" über die Geschichte nach 1945 schreiben. Herzfeld hatte in den Vereinigten Staaten viele Schüler, wie überhaupt viele ausländische Studenten - auch Doktoranden -, die sehr an ihm hingen.

Hat Herzfeld Sie motiviert, auch in dieser Richtung zu arbeiten? So haben Sie sehr viel in vergleichender Perspektive u.a. über den deutschen und britischen Parlamentarismus gearbeitet.

Er hat einen motiviert, den Blick über Deutschland hinauszuwenden. Daß er vergleichend gearbeitet hat, finde ich nicht. Aber er war sehr daran interessiert, daß man Dinge machte, die nicht nur Deutschland betrafen, und hat das unterstützt.

Noch eine kurze begriffliche Frage. In der Festschrift zu Ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag taucht der Begriff der Revisionistengeneration auf. Wir haben uns beide gefragt, was sich dahinter verbirgt und inwieweit Sie den Begriff in Bezug auf Ihre Generation ablehnen?

Ich selbst würde mich nicht als "Revisionisten" bezeichnen, dafür habe ich zuviel von meinen Lehrern - vor allem Rosenberg, Fraenkel und Herzfeld - und dann in meiner Studentenzeit in Oxford 1952-54 gelernt und habe zu viel Respekt vor den wissenschaftlichen Leistungen meiner deutschen und englischen Lehrer. Richtig ist natürlich, daß ich - wie andere - die überkommene nationalgeschichtliche Interpretation der Geschichte überwinden wollte und bewußt die deutsche Geschichtswissenschaft wieder mit den Entwicklungen, etwa in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten, verknüpfen wollte. Richtig ist auch, daß wir Anregungen in anderen Fächern, etwa der Soziologie und Psychologie, der Nationalökonomie und in meinem Fall besonders in der Politikwissenschaft und der Rechtswissenschaft suchten. Richtig ist weiter, daß wir die Einengung auf den Staat und die Politik im engeren Sinne überwinden wollten. Deshalb habe ich mich sehr früh mit der Geschichte der Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung, mit Interessenverbänden, die vorher kein Thema der deutschen Geschichtswissenschaft waren, mit Sozialgeschichte und mit der Geschichte des Sozialstaates, gerade auch im internationalen Vergleich, der Kulturgeschichte und später auch mit Wissenschaftsgeschichte beschäftigt. Es war sicher so, daß manche der Historiker meiner Generation schwere Auseinandersetzungen mit ihren Lehrern über ihren methodischen Zugang zur Geschichtswissenschaft und die von ihnen bearbeiteten Themen hatten. Das war bei mir nicht der Fall. Weder Rosenberg noch Herzfeld mußte man mit Gewalt sozusagen in feurigen Auseinandersetzungen "bekehren". Herzfeld fand es sehr gut, wenn man neue Ideen hatte, auch wenn sie von seinen Ansätzen abwichen. Ich sagte schon, daß er sehr tolerant war. Rosenberg war ja selbst so ein "Revisionist" gewesen, der nicht in die traditionelle Geschichtsschreibung einzuordnen war. In den frühen 30er Jahren war er sicher ein Außenseiter, vor allem als er die wirtschaftliche Konjunkturtheorie für die Analyse historischer Entwicklungen fruchtbar zu machen versuchte und sich von der elitären Geistesgeschichte seines von ihm verehrten Lehrers Friedrich Meinecke abwandte und in einer "kollektiven Ideengeschichte" die Geistesgeschichte mit der Sozialgeschichte und der politischen Gesinnungs- und Parteigeschichte zu verknüpfen versuchte. Herzfeld war bis zur NS-Zeit kein Außenseiter. Aber Herzfeld hat ständig aus seiner Erfahrung mit der Gegenwart gelernt, ohne das gleich in Theorie umzusetzen. Insofern würde die Bezeichnung nicht ganz passen. Revisionismus setzt voraus, daß man das Gegenteil dessen macht, was die Vorgänger gemacht haben, und man dazu entschlossen ist, sich damit durchzusetzen. Meine Dissertation über die SPD und die sozialistischen Freien Gewerkschaften hat zwar eine ganz andere Tendenz als Herzfelds Arbeit über die Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg und war ein in den frühen 1950er Jahren eher unübliches Thema. Er hat daran aber keinen Anstoß genommen.

Bisher haben wir die frühe Zeit bis zu Ihrer Dissertation behandelt. Wie ging es dann weiter?

Ganz wesentlich für mich waren die zwei Jahre am St. Antony's College in Oxford. Dorthin kam ich nach der Promotion im Alter von 23 durch die Vermittlung von Herzfeld. Zu ihm kam die englische Historikerin, Frau Professor Headlam-Morley, die einen Deutschen für das neugegründete College suchte. Herzfeld hat mich empfohlen, weil er meine Doktorarbeit schätzte und ich auch von der Schule her recht gut englisch sprach. Ich hatte dann natürlich auch noch Interviews zu überstehen. Die zwei Jahre in Oxford 1952-54 haben mich sehr geprägt.

Sie haben dort Ihren Bachelor of Literature gemacht?

Ja, aber im wesentlichen habe ich Material für meine Habilschrift gesucht. Der Bachelor of Literature, ein Graduiertenexamen, das einen ersten Hochschulabschluß voraussetzte, war mehr ein Nebenprodukt. Meine Hauptarbeit bestand darin, parallel zu meiner Arbeit über die SPD und die Gewerkschaften die englische Arbeiterbewegung von 1900 bis 1919 - vor allem ihre Haltung zur Außenpolitik und zum Krieg - zu untersuchen. Daraus wurde dann meine Habilschrift, die leider nie veröffentlicht wurde. Das von mir gesammelte Material habe ich für eine zweibändige Edition über die Berner Sozialistenkonferenz 1919 verwendet; es gibt zahlreiche Aufsätze, die auf meiner Habilschrift beruhen, aber sie ist nie als Ganzes veröffentlicht worden und jetzt ist es zu spät. Später habe ich auch andere Interessen entwickelt; meine intensive Beschäftigung mit der britischen Geschichte, auch die der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts ist die Grundlage für viele meiner späteren Arbeiten geworden. Insofern ist das mit dem Bachelor of Literature ein Nebenprodukt. Ich wollte noch irgendeinen Abschluß in Oxford erwerben, aber keinen Oxford-Doktor machen, denn was hätte mir der doppelte Doktortitel genützt? Die Habilitationsschrift war für mich viel wichtiger.

 Sie sind dann zurück nach Berlin gegangen?

Ja, ich hatte das Glück, daß ich zum 1. Oktober 1954 die freie Assistentenstelle bei Herzfeld bekam. Gleichzeitig lehrte ich durch Fraenkels Vermittlung auch schon regelmäßig an der Hochschule für Politik. Zu dem Zeitpunkt war ich noch nicht habilitiert. Ich habe dort Vorlesungen über das englische Regierungssystem, also politikwissenschaftliche Vorlesungen, gehalten. 1961, sofort nach der Doppel-Habilitation in Neuerer Geschichte und in Politikwissenschaft erhielt ich einen Ruf auf einen Lehrstuhl über die "Historischen Grundlagen der Politik" am Otto-Suhr-Institut und gleichzeitig die Aufforderung, eine Professur in Tübingen zu übernehmen. Aber es gab unmittelbar nach dem Mauerbau eine Regel, daß ein Ruf nach Berlin von auswärts nicht gestört werden durfte, denn es bestand die Angst, daß Berlin ausbluten würde. Nach dem 13. August waren ja die Befürchtungen groß, daß West-Berlin zusammenbrechen oder in die DDR einbezogen werden könnte. Insofern hatte ich nicht die Chance, nach Tübingen zu gehen. Immerhin war durch das Angebot aus Tübingen der Ruf nach Berlin keine Hausberufung, sondern die Abwehr einer Berufung von außen. Ich habe meine Zeit als Inhaber eines Lehrstuhls für Politikwissenschaft nicht bedauert. Drei Jahre später bin ich dann aber einem Ruf auf einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte nach Münster gefolgt.

Haben Sie versucht, Erfahrungen und Erkenntnisse, die Sie aus Ihrer Zeit mit Herzfeld gewonnen hatten, in Ihrer Professur umzusetzen? Inwieweit hat er ein Vorbild für Sie abgegeben? Was wollten Sie anders machen?

Herzfeld war ungemein an Menschen interessiert. Das bin ich auch immer gewesen, und insofern hat mir die Arbeit als akademischer Lehrer mit Studenten immer viel Spaß gemacht. Sie haben mich auch als Menschen interessiert und nicht nur wegen ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Das galt bei ihm auch. In dieser Hinsicht war er ein Vorbild. Er war eigentlich auch immer ansprechbar. Herzfeld war überhaupt kein schwieriger Mensch, wie so viele andere Professoren. Meine Vorlesungen habe ich sorgfältiger als er vorbereitet. In den Seminaren habe ich sicher auch manches von ihm übernommen. Ähnlich wie er habe ich auch meinen Doktoranden keine Themen vorgegeben, sondern sie ermuntert, neue, eigene Wege zu gehen. In einem Punkt habe ich ihn sehr bewundert, ohne ihm folgen zu können: Herzfeld war ungeheuer neugierig und an Neuem in unserer Wissenschaft weit über seine eigenen Arbeitsgebiete hinaus interessiert. Er versuchte alle Werke zu lesen, die gerade diskutiert wurden. Im Seminar hatten wir ein Fach, in dem vor der Einordnung in die Seminarbibliothek die neu angeschaffte Literatur ausgestellt wurde. Herzfeld nahm sich fast jeden Freitag Nachmittag fünf oder sechs Bücher mit, brachte sie am Montag wieder - und hatte sie gelesen. Wie er das gemacht hat, weiß ich nicht. Er war ein sehr schneller Leser und las weit über den engen Bereich, in dem er gerade arbeitete, hinaus. Er beherrschte auch Fremdsprachen gut: Französisch sowieso, Englisch hat er sich angeeignet. Italienisch und Niederländisch las er auch. Ich habe immer sehr bewundert, wie stark er sozusagen in der aktuellen Diskussion unseres Faches drin war. Er hat auch in seinen Seminaren sehr stark aktuelle Kontroversfragen der Geschichtswissenschaft aufgegriffen. Auch hat er ganz früh, als das sonst noch nicht üblich war, Themen zur NS-Zeit und ihrer Vorgeschichte behandelt.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Die Rolle der Geschichtswissenschaft, besonders der Neuzeithistoriker, in der NS-Zeit ist ja leider noch nicht systematisch untersucht worden - in der Mediävistik eher. Die Diskussion hat sich m. E. zu sehr an einzelnen Personen festgebissen. Fragen, die mich grundsätzlich viel mehr interessieren, wie z.B. die nach der Situation einer Wissenschaft wie der Geschichte in einer Diktatur, sind m. E. bisher kaum aufgeworfen worden. Die Diskussion hat sich statt dessen sehr auf einzelne Personen konzentriert. Wenn man diese einzelnen Personen betrachtet, ist ihre jeweilige Rolle in der NS-Zeit natürlich sehr unterschiedlich. Der Freiburger Historiker Gerhard Ritter hat nach allem, was wir wissen, sich trotz seiner betont nationalen Haltung, die wieder andere Historiker für den Nationalsozialismus anfällig machte, sich gegenüber jüngeren jüdischen Kollegen in seinem Umfeld sehr anständig verhalten und ist später wegen seiner Kontakte zum Widerstand inhaftiert worden. Er kam mit dem Leben davon. Bei anderen bestand eine Affinität zu Teilen der NS-Ideologie wegen ihrer Ablehnung der Weimarer Republik und ihrer deutschnationalen Haltung. Viele der ehrgeizigen jüngeren Historiker, zu ihnen zählte wahrscheinlich auch Stadelmann, haben zunächst stark auf den Nationalsozialismus und die neuen Machthaber gesetzt. Wieviel Überzeugung und wieviel Opportunismus dabei war, ist schwer zu beurteilen.

Was nun über Schieder herauskommt, sind weitgehend sehr neue Dinge. Das eigentlich Belastende bei Schieder sind ja nicht seine Veröffentlichungen. Wenn Sie etwa seine Dissertation über "Die kleindeutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863-1871" aus den 30er Jahren lesen, gibt es einige Sätze im Vorwort, die man heute nicht mehr so schreiben würde. Alles andere könnte man wohl stehenlassen. Das Belastende bei Schieder ist vor allem seine als "Denkschrift" bezeichnete Ausarbeitung vom Oktober 1939, in der er als Protokollant Ergebnisse einer Sitzung älterer Wissenschaftler über deutsche Siedlungen in Ostgebieten zusammenfaßte. Darin ist von Enteignungen, der Umsiedlung eines Teils der Bevölkerung zwecks Aufnahme deutscher Siedler die Rede. Auch wird darin argumentiert, daß neben der Auswanderung von Polen nach Übersee diese nach "Rest-Polen" transferiert werden sollten und dafür das "Judentum" aus den polnischen Städten herausgelöst werden müsse. Es ist anzunehmen, daß weitere Gutachten dieser Art der "Politikberatung" von Schieder aufgefunden werden und immer mehr Dokumente über die Rolle deutscher Historiker im "Volkskampf im Osten" bekannt werden.

Bei Schieder spielte offenbar das ostpreußische Umfeld eines organisierten "Volkstumskampfes" und eines in Königsberg besonders ausgeprägten Antisemitismus eine große Rolle. Mich würde außerordentlich interessieren, wie Schieders Verhältnis zu Rothfels, der eine betont nationale Haltung einnahm, aber 1939 als "Jude" nach den Vereinigten Staaten emigrieren mußte, nach 1945 war. Dieses Verhältnis war offenbar relativ eng. Sowohl Schieder als auch Conze waren Schüler von Rothfels und haben in Königsberg eng mit ihm zusammengearbeitet. Wie sich das Verhältnis später entwickelte, nachdem Rothfels, der ja zeitweise eine große Rolle in der deutschen Geschichtswissenschaft gespielt hat, zurückkam, ist sicher aufschlußreich. Ich nehme an, daß Briefe zwischen ihnen vorliegen, weiß aber nicht, ob der Briefwechsel zugänglich ist. Die Fälle von Schieder und Conze sind sehr unterschiedlich. Conze war den größten Teil des Krieges Soldat, Schieder nicht. Ob das mit Schieders später sehr starken Gesundheitsproblemen - er war schwer zuckerkrank - zusammenhing und dies seine Rekrutierung zum Militär verhinderte, weiß ich nicht. Die erwähnte "Denkschrift" Schieders, wie auch einzelne Äußerungen von Conze, sind sehr belastend. Sie und einige andere Historiker waren sicher mehr als bloße "Mitläufer". Ich glaube allerdings, daß man ihren Einfluß stark überschätzt, wenn man sie zu Vordenkern oder "Mittätern" des NS-Regimes stilisiert. Jedenfalls gibt es dafür m. E. keine Beweise.

Das ist die eine Seite. Andere, wie der Mediävist Tellenbach, der ja gerade gestorben ist und der mich sehr beeindruckt hat, gingen deutlich auf Distanz zum NS-Regime. Das gilt ebenso eindeutig für den großen Verfassungshistoriker Otto Hintze, dem vielleicht bedeutendsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts, der mit einer jüdischen Frau, der Historikerin Hedwig Hintze, verheiratet war und das NS-Regime von Anfang an scharf ablehnte. Das Bild, das die Historiker während der NS-Zeit abgaben, ist also sehr differenziert, wenn auch für viele nicht schmeichelhaft. Für Herzfeld war die Karriere 1933 zu Ende, obwohl er sich vielleicht zunächst noch einige Illusionen machte. Er durfte als dekorierter Kriegsteilnehmer noch bis 1938 lehren, hatte aber natürlich keine Chance, einen Lehrstuhl zu erhalten. Er erzählte oft sehr interessant über seine Studenten aus den Jahren nach 1933: Wie viele von ihnen das NS-Regime zunächst begeistert begrüßten und sich dann oft, vor allem nach dem Röhm-Putsch, vom Regime abwandten. Herzfeld persönlich haben sie offenbar viel Loyalität entgegengebracht. Das kann ich verstehen, weil er selbst ein sehr loyaler Mensch war. Aber, wie gesagt, ein Gesamturteil über die Geschichtswissenschaft während der NS-Zeit würde sehr viel mehr Forschung und differenziertere Fragestellungen voraussetzen.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Sicher ist, daß sie nicht dieselbe Rolle gespielt hätten, wenn man alles gewußt hätte. Ich spreche hier mehr von Schieder als von Conze. Aber sehen Sie, man mußte 1945 ein Deutschland aufbauen mit Menschen, die nicht nur, wie Kant sagt, aus krummem Holz, sondern auch aus faulem Holz gemacht waren. Das traf für alle Bereiche zu. Eine Änderung trat erst durch das Vordringen der neuen Generation seit den 1960er Jahren ein. Ich glaube, daß Schieder und Conze wichtige Bücher nach 1945 geschrieben haben. Ich bin mir nicht sicher, wieviel sie erzählt hätten, wenn man sie gefragt hätte. Wehler sagt immer, daß Schieder nichts erzählt hat, was ich mir auch gut vorstellen kann. Man hat bei ihm vielleicht auch nicht sehr gebohrt, weil man von seiner schweren Krankheit wußte. Conze war jemand - etwa als Rektor in Heidelberg -, der in schwierigen Situationen, so beim Konflikt mit dem Patientenkollektiv, recht mutig war. Es würde mich daher wundern, wenn Conze nicht gesprochen hätte, wenn man ihn befragt hätte. Allerdings habe ich ihn nicht so gut gekannt. Ich war Schüler weder des einen noch des anderen und kann das daher schlecht beurteilen. Ich würde schon sagen, daß sie beachtenswerte Leistungen nach 1945 vorgelegt haben. Ob man damit etwas "kompensieren" kann oder nicht, ist eine andere Frage.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Nicht so hoch wie andere, die offenbar den Aufstieg der Sozialgeschichte in Deutschland nicht selbst erlebt haben. Ich glaube, daß das Bild völlig verzerrt ist. Es wird so getan, als ob die nationalsozialistisch verseuchte Volksgeschichte eine entscheidende Wurzel der deutschen Sozialgeschichte war. Aber aus meiner Sicht war Rosenberg viel wichtiger, und er hatte nichts mit der Volksgeschichte am Hut und kam nicht von dort. Ich selbst habe diese Volksgeschichte erst später aus der Diskussion kennengelernt. Sie hat mich überhaupt nicht interessiert, obwohl ich früh angefangen habe, Sozialgeschichte zu betreiben und viele meiner Schülerinnen und Schüler (z.B. Kocka, Puhle, Kaelble, Tenfelde, vom Bruch, Hausen, Steinisch, Niehuss) ganz oder überwiegend sozialhistorisch gearbeitet haben. Mich haben auch Impulse aus meiner eigenen Jugend zur Sozialgeschichte gebracht. Erzählungen meiner Großmütter über deren Zeit als Dienstmädchen in Berlin oder Erlebnisse wie der Besuch des Dorfes in Pommern, in dem mein Vater vorehelich geboren wurde und wo, wie in seiner Jugend, die Landarbeiter und Insten noch immer in Furcht vor dem Gutsherrn lebten. Das hat mich stark beschäftigt. Später hat mich die Lektüre der historischen Schriften der Kathedersozialisten um die Jahrhundertwende und die Rezeption der Methoden englischer und amerikanischer Sozialwissenschaftler und Sozialhistoriker, wie natürlich auch Rosenberg, beeinflußt, diese Interessen zu vertiefen und die Sozialgeschichte zu einem Themenfeld meiner Arbeiten zu machen. Ich glaube also, daß die Rolle der Volksgeschichte für die Entwicklung der deutschen Sozialgeschichte sehr überzogen wird. Im Einzelfall mag sie von Bedeutung gewesen sein. Schieder, der hier teilweise genannt wird, war kein Sozialhistoriker. Er war sicher ein kluger Kopf, der auch vergleichend gearbeitet hat und einen Sinn für Theorie hatte. Aber Sozialhistoriker war Schieder - im Gegensatz zu Conze - nicht.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Die war zunächst einmal gegeben. Es mußte ja eine neue Generation heranwachsen. Wobei die eigentliche Kriegsgeneration vielfach ausfiel, da viele der begabtesten Historiker den Krieg nicht überlebt hatten. Die dominierenden Persönlichkeiten unmittelbar nach Kriegsende waren die, die schon in der Weimarer Republik, z.T. schon im Kaiserreich, dabeigewesen waren. Dann kamen andere hoch, wie Stadelmann, dessen erste wissenschaftliche Arbeiten in die Spätphase der Weimarer Republik fielen. Ritter, Meinecke und andere spielten eine Rolle. Es gab natürlich personelle Verbindungen. Ich habe meinen ersten Lehrstuhl 1962 mit 32 Jahren bekommen. Wenn ich älter gewesen wäre, nur um ein Jahr, dann wäre ich Soldat gewesen und würde eventuell nicht mehr leben oder wäre viele Jahre in Kriegsgefangenschaft gewesen. Das muß man einfach berücksichtigen. Es kamen natürlich einige von denen zurück, die die ganze Zeit, wie Bußmann und Gollwitzer, Soldat gewesen waren. Aber der wissenschaftliche Nachwuchs war durch den Krieg stark dezimiert worden.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Ich frage mich, ob das richtig ist, ob es wirklich so viel gab, was bewußt verschwiegen worden ist. Im Grunde genommen ging man von dem aus, was man aus den Veröffentlichungen wußte, und das war bei einigen sehr viel, bei anderen sehr wenig. Was die einzelnen, wie Conze und Schieder, um die sich die heutige Diskussion ja immer etwas einseitig dreht, in einem Vortrag, der nicht oder nur in der Zusammenfassung einer entlegenen Zeitung veröffentlicht wurde, gesagt haben oder in Denkschriften, von denen wir keine Ahnung hatten, ehe man in die Archive ging, das wußten wir nicht. Ob man systematisch danach gesucht hat - vielfach war das erst mit der Öffnung der Archive der DDR seit 1990 möglich - oder nicht, ist eine andere Frage. Das war die Ausgangsposition. Bei vielen lag es auch an ihrer Biographie, daß wir nicht weiter geforscht haben. So war es uninteressant, Herzfeld vorzuwerfen, was er 1928 über die SPD geschrieben hat, weil er es selbst schon korrigiert hatte und gar nicht mehr wichtig nahm. Außerdem wußte man, daß er selbst ein schweres Schicksal in der NS-Zeit hatte. Hat man ihn darauf angesprochen, dann hat er gesagt, daß er in den 20er Jahren manches Dumme geschrieben hat und inzwischen viel gelernt hat. Vielleicht war aber noch wichtiger, daß uns andere Fragen vordringlich interessiert haben. Wir mußten den Anschluß an den internationalen Stand der Geschichtswissenschaft wiedergewinnen. Wir wollten untersuchen, welche Wurzeln demokratische Parteien, der Parlamentarismus, der Rechtsstaat, später auch der Sozialstaat in Deutschland hatten und wie wir diese Traditionen zur Begründung eines neuen demokratischen Staates aktivieren können. Außerdem waren die europäischen Einigung, die Sicherung des Friedens, die Überwindung von nationalen Vorurteilen und die Verständigung mit den Nachbarstaaten, die Deutschland zwei Mal in diesem Jahrhundert in den Krieg hineingerissen hatte, Fragen, die uns zunächst und vor allem interessierten.

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Wir haben uns sehr intensiv und bewußt mit der Frage auseinandergesetzt, was zu einem totalitären Staat und einer Diktatur führt und was die Voraussetzungen und Bedingungen sind, damit eine Demokratie funktioniert. Wobei ich immer wieder hinzufügen muß, daß wir diese Probleme nicht hätten, wenn es nur moralisch und immer rational handelnde Menschen gäbe. Wir gingen aber nach unseren Erfahrungen davon aus, daß Menschen nach ihren Leidenschaften und ihren Interessen und oft nicht nach dem Allgemeinwohl oder humanen Prinzipien handeln. Das sind Dinge, die mich, ebenso wie Bracher und die anderen, beschäftigt haben, sicherlich unsere ganze Generation. Insofern ist unsere Geschichtsschreibung sehr durch die Erfahrungen der NS-Zeit geprägt worden.

Daneben haben persönliche Erfahrungen einen starken Einfluß gehabt, denn diese gehen m. E. immer in die Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung ein. Fraenkels Konzept des Doppelstaates war für mich ein Augenöffner. Ich halte seine Analyse des Dualismus des Maßnahmen- und Normenstaates für eine geniale Idee. Er hat sie auch in seiner Vorlesung so plastisch vorgestellt, daß ich das Beispiel, mit dem er sein Konzept zu vermitteln versuchte, bis heute noch im Kopf habe. Fraenkel ist erst 1939, nach der sog. "Reichskristallnacht" emigriert. Bis dahin hat er als Jude noch als Anwalt wirken dürfen, aber er durfte nur Juden vertreten, so wie jüdische Ärzte nur noch jüdische Patienten behandeln durften. Fraenkel erzählte folgendes: Er mußte einen jungen Juden vertreten, der an einem Schaukasten gestanden hatte, in dem der "Stürmer", das extrem antisemitische NS-Hetzblatt, aushing. Sein Klient hatte bei der Lektüre vor sich hin gesagt: "Det hab ick doch allet schon mal gelesen," - es war ein Berliner - "det kenn ick doch alles". Das hatte ein SA-Mann gehört und ihn mit der Begründung angezeigt, der junge Mann hätte den "Stürmer" des Plagiats bezichtigt und dessen Redakteure schwer beleidigt. Der junge Mann kam in Untersuchungshaft und ein Prozeß wurde eingeleitet. Bei einem Vorgespräch zur Vorbereitung der Verteidigung versicherte er Fraenkel in seinem besten Hochdeutsch: "Also, Herr Anwalt. Ich weiß ganz genau, das habe ich gelesen, das ist wirklich so, mit den Bildern und so, daß habe ich alles schon mal gelesen". Fraenkel fragte ihn, wo er das gelesen hätte, und der junge Mann antwortete, daß es wahrscheinlich 1928 oder 1929 in einer Berliner Zeitschrift - den Namen habe ich vergessen - gewesen wäre. Fraenkel erzählte dann weiter, wie er sich Handschuhe angezogen hat, um den "Stürmer" zu kaufen, den er ohne Handschuhe nicht anfassen wollte. Fraenkel konnte das ganz wunderbar beschreiben. Er holte sich den "Stürmer", ging in die Staatsbibliothek, ließ sich die alten Ausgaben der betreffenden Zeitschrift von 1928/29 geben und wurde bald fündig: Der Artikel war tatsächlich wortwörtlich vom "Stürmer" abgeschrieben worden. Er ging zu seinem Klienten und sagte, er hätte den Artikel gefunden. "Wunderbar", sagte der Klient, "da bin ich ja bald freigesprochen." Und da sagte ihm Fraenkel, und jetzt kommt der Punkt: "Das Gericht spricht Sie frei. Sie kommen raus, aber draußen vor dem Gericht steht die SS, und Sie kommen ins KZ und dort werden Sie zusammengeschlagen, gerade weil Sie den Prozeß gewonnen haben. Und ob Sie aus dem KZ jemals lebend wieder rauskommen, das ist sehr fraglich. Machen Sie also lieber ein ganz reuevolles Gesicht vor dem Richter. Dann verurteilt er Sie zu sechs Monaten, vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger, und verlassen Sie dieses wenig gastfreundliche Land." Fraenkel erzählte, der junge Mann wäre sehr intelligent gewesen und habe das akzeptiert, und zog seine Schlußfolgerungen für uns Studenten. "Sehen Sie, das ist der Punkt. Der Normenstaat bestand noch. Die Richter hätten den jungen Mann freigesprochen. Das hätte dem Betroffenen nichts genutzt, denn er hätte die Rache der SS - der Vertreter des Maßnahmenstaates - zu spüren bekommen." Dieses Beispiel zur Erklärung der Struktur des Regimes war für mich faszinierend. Auch er, Fraenkel, war ein faszinierender Wissenschaftler.

Aber ich bin sehr weit vom Thema weggekommen. Wie schon gesagt, haben Erfahrungen der NS-Zeit mich, wie viele Historiker meiner Generation, sehr geprägt, wobei man natürlich dazu tendiert, seine eigenen Erfahrungen zu sehr zu verallgemeinern. Die Aufarbeitung der Vergangenheit spielte für uns nicht die zentrale Rolle, die sie heute hat. Das entscheidende Kriterium war für uns, wie man verhindert, daß wieder so eine Entwicklung eintritt, daß die Demokratie der Bundesrepublik, wie die der Weimarer Republik, nicht funktioniert und zusammenbricht?

Trotz Ihrer interessanten Ausführungen noch einmal zurück zum ersten Teil der Frage. Inwiefern kann bzw. sollte Geschichtswissenschaft politischen Einfluß ausüben?

Man kann aus der Geschichte lernen, aber man kann natürlich sehr oft auch das Falsche lernen. Es ist daher nicht so einfach, aus ihr zu lernen. Aber daß man aus ihr lernen kann, glaube ich schon. Wie man das Gelernte dann anwendet, ob man aufgrund der Lehren politischen Einfluß auszuüben versucht, ist eine andere Frage. Man sollte sich allerdings klar sein, daß die Umsetzung von historischen Lehren in der Politik alles andere als einfach ist und daß man leicht aus der Geschichte die falschen Lehren ziehen kann, das wissen wir alle. Insofern hat mich diese Frage sehr beschäftigt, und sicher auch viele andere aus meiner Generation.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Ich deutete schon an, daß ich es lieber gesehen hätte, wenn man die Diskussion nicht so stark an Einzelpersonen aufgehängt, sondern grundsätzliche Fragen diskutiert hätte. So z. B. die Fragen: Wie frei ist eine Geschichtswissenschaft in einer Diktatur? Was ist ihr Spielraum? Wie weit rechtfertigt sie solche Regime oder nicht? Auch im Hinblick auf die DDR, also die spätere Entwicklung, hätte mich das sehr interessiert. Die extreme Personalisierung finde ich nicht sehr glücklich, zumal sie einseitig ist. Ich habe ja auch die Beispiele von Historikern genannt, die sich nicht mit dem Nationalsozialismus einließen.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Wir Historiker haben es mit der Vergangenheit zu tun und haben daher keine Kompetenz für Prognosen. Ich glaube aber nicht, daß es zu einem ernsthaften Streit kommen wird. Es werden immer mehr Fakten bekannt werden. Das ist richtig so. Von diesen Fakten werden auch die Bewertungen abhängen. Wie schon gesagt, sehe ich z. B. die Bedeutung der NS-Volksgeschichte für die deutsche Sozialgeschichte als eher marginal an. Aus meiner Sicht spielen ausländische Impulse eine große Rolle, so Impulse aus Frankreich, wie die Schule der Annales, und Anregungen vor allem aus England und Amerika. Ich sehe eigentlich keine Gründe für einen echten Streit. Daß viele Historiker sich sehr weit mit dem NS-Regime eingelassen haben und dabei ihr Fach tief kompromittiert haben, ist unbestritten. Allerdings glaube ich nicht, daß die Historiker meiner Generation durch diese teilweise "braune Vergangenheit" unseres Faches in ihrer Geschichtsschreibung geprägt wurden.

Und inwieweit sehen Sie in dieser Frage einen Generationenkonflikt? Wir haben dies an mehreren Stellen zu hören bekommen.

Das ist sicher richtig. Generationen spielen in der Geschichte und sicher auch in der Geschichtsschreibung eine viel größere Rolle, als man denkt. Ich habe mich seit einiger Zeit bemüht, die generationelle Perspektive in meinen Arbeiten zu berücksichtigen. Auch in meinem neuesten Buch "Über Deutschland" wird der Zusammenbruch der DDR 1989/90 z.T. auf generationelle Konflikte zurückgeführt. Wir alle sind durch unsere eigenen Erfahrungen geprägt, und die kann man nur sehr schwer vermitteln. Man wird zwar vielleicht auch Historiker, weil die Eltern und Großeltern einem etwas erzählen. Aber können Erfahrungen wirklich vermittelt werden? Meine Mutter und eine meiner Großmütter haben mir oft von den Hungerwintern des Ersten Weltkrieges, vor allem dem sog. Kohlrübenwinter 1916/17 erzählt. Man hört das und man liest darüber. Man erfährt, daß sehr viele Menschen gestorben sind, aber was es für die Menschen, die das erlebt haben, wirklich bedeutet, das ist etwa ganz anderes und kaum nachzuvollziehen. Generationelle Unterschiede bestehen also, das ist richtig. Aber wir Historiker sind ja dazu da, zwischen den Generationen zu vermitteln, zu versuchen, zwischen den Polen von Kritik und Bewahrung unseren Weg zu finden.

Ganz zum Schluß noch eine Frage, die nur mittelbar in diesen Themenbereich gehört. Sie waren 1991/92 auch Vorsitzender der Struktur- und Berufungskommission für die Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität. Dadurch waren Sie gezwungen, sich mit der Historiographie unter der zweiten deutschen Diktatur auseinanderzusetzen. Nach welchen Maßstäben sind Sie verfahren bei der Evaluation? Spielten "politische" Kriterien dabei eine Rolle?

Man hat ein falsches Bild von dieser Arbeit. Dabei habe ich sie sehr frisch in Erinnerung. Man denkt, daß wir unaufhörlich geschaut haben, was die Bewerber politisch "verbrochen" oder nicht "verbrochen" haben. Das ist definitiv falsch. Wir haben sehr genau geprüft, wie ihre Qualität als Historiker war, wobei wir natürlich gewußt haben, daß sie unter erschwerten Bedingungen gearbeitet haben, daß sie manches nicht sagen durften usw. Aber wir mußten von dem ausgehen, was an Veröffentlichungen oder Manuskripten vorlag. Die Frage, ob sie etwa der Stasi zugearbeitet haben, war eine Frage, die sich uns gar nicht gestellt hat. Wir durften keine Anfrage an die Gauck-Behörde stellen. Erst nachdem wir Vorschläge unterbreitet hatten, hat der Senat des Landes Berlin als Behörde bei der Gauck-Behörde gefragt, ob diejenigen, die von uns vorgeschlagen wurden, nicht unter Umständen "Inoffizielle Mitarbeiter" der Stasi gewesen sind. Wir erfuhren also erst nachträglich davon. Nur in Fällen, in denen Hochschullehrer eine besonders üble Rolle direkt an der Humboldt-Universität gespielt hatten und wir von Studenten darüber erfuhren, die in einigen Fällen berichteten, wie sie sechs Stunden und länger Verhören unterzogen und relegiert wurden, beeinflußte das unsere Entscheidung. Es handelte sich aber vielleicht um zwei von etwa achtzig Fällen. Dagegen hat die Frage nach dem politischen Verhalten der Bewerber für uns in diesem Stadium keine Rolle gespielt. Es war also vor allem eine Beurteilung der professionellen Qualität. Es hat auch keine Rolle gespielt, ob Bewerber Marxisten waren oder nicht. Wir haben Marxisten berufen, die gute Sozialhistoriker waren, Hartmut Harnisch z.B., der den Lehrstuhl für Preußische Geschichte bekam. Aber es wird häufig kolportiert, daß wir ständig in der politischen Vergangenheit der Bewerber aus der DDR herumgebohrt hätten. Das war nicht der Fall. Wenn wir die Bewerber interviewt haben, haben wir sie gefragt, was sie machen wollen und was ihre Forschungsinteressen sind, gerade auch bei den Jüngeren. Es war also keine "Entnazifizierungs-" oder "Ent-SEDisierungs"-Kommission, oder wie immer man das nennen will. Das hat man oft mißverstanden und hat vielfach heute ein falsches Bild davon. Außerdem haben wir eng mit den Kollegen aus dem Osten zusammengearbeitet. In der von mir geleiteten Kommission kamen insgesamt fünf Mitglieder aus der DDR und mit mir nur drei aus der Bundesrepublik. Ich kann mich bei hunderten von Entscheidungen nicht an eine einzige erinnern, wo wir nach Ost-West-Kriterien abgestimmt haben. Es ging um Qualität, um die Beurteilung der Chancen jüngerer Wissenschafter, sich zu entwickeln, sich wissenschaftlich frei zu schwimmen. Es ging so vor allem bei den Jüngeren darum, sich ein Urteil über das wissenschaftliche Potential der Bewerber zu bilden. Die politische Belastung ist erst in einer späteren Phase von anderen nach formellen Kriterien geprüft worden.

 Die Annahme einer Parallelität der Situation mit der Zeit nach 1945 würden Sie also zurückweisen?

Ja, man kann die Situation nicht direkt vergleichen. Natürlich kann man sagen, daß sich die Historiker der DDR nicht frei entwickeln konnten und an die Vorgaben der SED noch enger gebunden waren als die Historiker in der NS-Zeit, die eher im alten Stil weiter arbeiten konnten. Das haben wir natürlich gewußt und in Rechnung gestellt. Aber es waren dennoch gute, z.T. international bekannte Leute dabei. Andererseits gab es natürlich auch solche, die zwei Aufsätze geschrieben haben, die völlig belanglos waren, und die nur deshalb einen Lehrstuhl hatten, weil sie Parteiverbindungen hatten. Das hat es natürlich gegeben. Sie waren vor der Kommission natürlich wenig erfolgreich, aber nicht weil sie Kommunisten waren, sondern weil inhaltlich nichts von Gewicht vorlag.

Herr Ritter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Hotel Antares (Berlin-Kreuzberg)
Datum: 03.07.99, ca. 10.00 bis 11.30 Uhr
Interviewer/in: Schäfer, Steinbach-Reimann


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