Interview mit Hans Mommsen
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Hans Mommsen geboren 1930 in Marburg, Sohn des Historikers Wilhelm Mommsen, studierte ab 1951 Germanistik, Geschichte und Philosophie in Marburg und promovierte 1959 über das Themas "Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im Habsburgerreich" bei Hans Rothfels in Tübingen. Dort war er auch seit 1960 als wissenschaftlicher Assistent tätig, wurde 1961 Referent am Institut für Zeitgeschichte in München und 1963 wissenschaftlicher Assistent in Heidelberg am Lehrstuhl von Werner Conze. 1967 habilitierte er sich mit einer Studie über das "Beamtentum im Dritten Reich" bei Werner Conze und wurde 1968 Professor für Neuere Geschichte in Bochum. 1972/73 war er Fellow am Insitut for Advanced Study in Princeton, 1974 Gastprofessor in Harvard, 1978 in Berkeley und 1980 an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Hans Mommsen wurde 1996 emeritiert und lebt seither in Feldafing; z.Z. weilt er als Gastwissenschaftler am 'United States Holocaust Memorial Museum' in Washington D.C.

Mommsen: "Daraus erklärt sich der soziologische Befund, daß es niemals zuvor eine derartige Vorherrschaft alter Männer gegeben hat wie in der Zeit von 1945 bis in die Mitte der 60er Jahre."

Teil 1: Biographische Fragen

Fragen Interviewer/in: Herr Mommsen, Sie sind 1930 geboren, stammen aus einer berühmten Historikerfamilie: Ihr Vater, Wilhelm Mommsen, gehörte zu den herausragenden Geschichtswissenschaftlern in der Weimarer Republik. Sie kommen auf den ersten Blick aus einer gutbürgerlichen Familie. Wir würden Sie zunächst bitten, prägende Einflüsse und Umstände Ihrer Kindheit und Jugend aus den 30er und 40er Jahren zu schildern.

Der Begriff "gutbürgerlich" trifft für diese Zeit nicht mehr voll zu. Sicherlich war mein Vater seit 1929 wohlbestallter Ordinarius an der Universität Marburg, aber ein finanzieller Hintergrund existierte überhaupt nicht, nachdem meine Mutter, die aus einer Bremer Bankiersfamilie stammte, ihre Mitgift 1923 weitgehend eingebüßt hatte. Mein Vater verlor nach 1933 all seine Nebeneinnahmen, die bis dahin ganz beachtlich waren. 1933 befand sich unser Einfamilienhaus gerade im Rohbau, und die Familie hatte große Schwierigkeiten, es weiterhin zu finanzieren. Der Vater erhielt 1933 die Versetzung an eine andere Universität, was einer Entlassung gleichkam, doch konnte dies mit Hilfe des Ministerialrats Achelis im Erziehungsministerium in Berlin noch abgewendet werden. Seine Position blieb jedoch sehr prekär, und er paßte sich in mancher Beziehung an die veränderten Verhältnisse an. Die Familie befand sich daher schon nach 1933 nicht in einer ökonomisch vorteilhaften Situation.

Selbstverständlich hatte mein Vater eine nationale Grundhaltung und steuerte eine historiographische Linie, die die Bismarcksche Staatstradition gegenüber dem Reichsgedanken, wie er von Ritter von Srbik vertreten und vom Nationalsozialismus propagiert wurde, hochhielt. Das hat jüngere Historiker wie Michael Wolfssohn nicht daran gehindert, diesen gegen den Reichsgedanken gerichteten Aufsatz in der HZ als besonders pronationalsozialistisch herauszustellen, weil er in abschließenden Wendungen die Führerschaft Adolf Hitlers positiv bewertet, was eindeutig eine Konzession darstelle. Bedauerlich scheint mir, daß die meisten jüngeren Fachhistoriker nicht mehr in der Lage sind, Schriften angemessen zu analysieren, die unter totalitären Bedingungen verfaßt wurden, und den Kontext nicht mehr wahrzunehmen.

1933 scheiterte ein von meinem Vater betriebenes Schulbuchprojekt beim Diesterweg-Verlag, da es inhaltlich nicht mehr opportun erschien. Ein Oberstudiendirektor Huhnhäuser, der den Anfangs- und den Schlußteil, die Machtergreifungsphase, geschrieben hatte, trat zurück. Der Verlag versuchte, das Buch, das bereits in den Fahnen vorlag, unter der Autorschaft meines Vaters zu retten, wobei er bestimmte politische Konzessionen machte, darunter auch solche, die ohne das Wissen des Autors in die Druckfahnen eingefügt wurden. So wurde bei jüdischen Politikern wie Karl Marx oder Ferdinand Lassalle die Bezeichnung "der Jude" hinzugefügt. Mein Vater hat den schweren Fehler begangen, daß er "Von Bismarck zur Gegenwart" 1944 noch in leicht veränderter Form in 1000 Exemplaren für seine Schüler herausbringen ließ. Bei der Entnazifizierung hat man ihm daraus den Vorwurf gemacht, daß er die erwähnte antisemitischen Änderung eben doch hingenommen hätte, obwohl sie die allgemeine Linie des von Walter Frank öffentlich angegriffenen Buches nicht berührten.

Sicherlich wäre dies ohne Auswirkungen geblieben, wäre nicht im April 1945, noch vor der allgemeinen Kapitulation des Deutschen Reiches, von Seiten der U.S. Militärregierung der Gedanke aufgekommen, meinen Vater zum Kultusminister des projektierten Landes Groß-Hessen zu machen. Damals suchte Major Walter L. Dorn vom Hauptquartier Eisenhower meinen Vater auf, um anstehende Fragen der Besatzungspolitik zu erörtern. Das galt auch für einige anderen Amerikaner, die ich noch vor Ende des Krieges in meinem Elternhaus kennenlernte.

Mein Vater hatte sich schon in der Weimarer Zeit nachdrücklich für Hochschulreformen eingesetzt und erschien daher für die Aufgabe einer Neuordnung des Erziehungswesens gut geeignet. Routinemäßig wurde ein CID-Gutachten eingeholt, das von Herrn Knoll, heute Professor für politische Wissenschaften in Kalifornien, erstattet wurde. Knoll stammte aus Wien und stand damals politisch sehr weit links. Jedenfalls versuchte er damals, meinen Vater zum Eintritt in die eben gegründete SED zu bewegen. Als dieser das ablehnte, fertigte Knoll ein verheerendes Gutachten an, um Dorns Vorhaben zu verhindern. Er bediente sich dabei der eifersüchtigen und feindlich eingestellten Professorenkollegen, die aus allen Rohren schossen, um den Professor Mommsen, dessen aus ihrer Sicht zweifelhaften hochschulreformerischen Neigungen sie ablehnten, der aber auch aus persönlichen Gründen keine persona grata war, möglichst ganz aus der Philips-Universität zu entfernen, und das ist ihnen schließlich auch gelungen.

Und was war der Hintergrund, daß Ihr Vater von seinen Kollegen so angefeindet wurde?

Ich habe berichtet, daß die Amerikaner ihn zum Kultusminister machen wollten. Das galt es um jeden Preis zu verhindern, denn er hätte sich dann aktiv für Hochschulreformen eingesetzt (er gehörte später dem Oberaudorfer Kreis an). Mein Vater war Herausgeber und Gründer der Zeitschrift "Vergangenheit und Gegenwart", einer Zeitschrift, die sich an die Geschichtslehrer richtete und den Hiatus zwischen Fachwissenschaft und Schulunterricht abbauen sollte. Es hat ihn tief getroffen, daß nach 1945 sein Schüler Karl Dietrich Erdmann dieselbe Zeitschrift unter dem neuen Namen "Geschichte in Wissenschaft und Unterricht" herausgab, ohne ihm wenigstens den Ehrenvorsitz zu übertragen. In den 30er Jahren hatte er die Leitung der Zeitschrift und damit die ganzen Kontakte, die daran hingen, verloren.

Es bleibt erstaunlich, daß ihm die Rückkehr an die Universität verwehrt wurde. Das Buch Ihres Vaters über die 48er Revolution, "Größe und Versagen des deutschen Bürgertums", ist ja heute im Vergleich immer noch bemerkenswert - wenn man ihn zu anderen weitaus schlimmer belasteten Zeitgenossen in Beziehung setzt, die wieder auf Lehrstühle zurückgekehrt sind, bleibt vieles unverständlich.

Unter der Führung von Julius Ebbinghaus hatte sich damals in Marburg eine Art Mafia gebildet, man kann auch sagen: ein Antifa-Ausschuß, der über die Kollegen Gericht hielt und die Amerikaner beeinflußte. Es kam hinzu, daß sich unser Doppelhausnachbar Rudolf Bultmann, der berühmte Theologe, sich gegen meinen Vater bei den Amerikanern verwandte, nachdem er mit ihm einen Konflikt wegen des Luftschutzes gehabt hatte, weshalb er ihn für einen wilden Nazi hielt. Eine Diffamierungskampagne und ältere Konflikte kamen zusammen, um eine berufliche Katastrophe auszulösen.

Das erste Spruchkammerverfahren ergab wirklich gegen jeden Sinn und Verstand das Ergebnis "belastet", und als das zweite Verfahren dann mit "nicht belastet" endete, hatten Fakultät und Rektorat inzwischen in aller Eile den Lehrstuhl mit Fritz Wagner besetzt. In jüngster Zeit habe ich erfahren, daß Fritz Wagner ursprünglich zu den jungen Leuten von Günther Franz im SD gehört hat, was damals nicht bekannt war.

Insofern nahm meine persönliche Karriere ihren Ausgang in der Extremsituation, daß mein Vater entlassen wurde und mindestens zweieinhalb Jahre keinerlei Einkommen hatte. Die Familie hielt sich mit Schwarzhandel und Verscherbelung der restlichen "gutbürgerlichen" Gegenstände, insbesondere eines Meißner Services, über Wasser. Leider geschah dies vor 1948, so daß alles verlorengegangen ist, darunter auch die besten Stücke der zum Teil noch von Theodor Mommsen stammenden historischen Fachbibliothek - einfach nur, um zu überleben. Als wir unser Abitur hatten, war noch nicht einmal klar, ob wir studieren würden. Wir haben zunächst auch andere Jobs gesucht, aber keine bekommen. So haben wir dann doch studiert, und irgendwie hat sich die finanzielle Lage nach und nach verbessert. Schließlich kam meinem Vater wenigstens die Anwendung von Artikel 131 zugute, was eine Pension für ihn bedeutete. Und zu einem späteren Zeitpunkt ist noch ein fauler Kompromiß mit dem Ministerium und der Fakultät gemacht worden, so daß man ihn vorzeitig zum Emeritus machte.

Hat Ihr Vater nach 1945 überhaupt noch einmal gelehrt?

Er hat als Emeritus noch eine ganze Reihe von Jahren gelehrt und viele Hörer gehabt. Aber an der Fakultät hat er begreiflicherweise nicht mehr teilnehmen können.

Wie hat sich die Nachkriegssituation für Sie persönlich ausgewirkt?

Genau genommen bin ich unter vergleichsweise katastrophalen Bedingungen aufgewachsen, zumal meine Mutter nicht in der Lage war, sich auf diese einfachen Verhältnisse einzustellen, was die Familie und schließlich auch die Ehe zerrüttete. Es waren Zeiten, die man irgendwie überstanden hat. Menschlich war belastend, daß nahezu alle meine Peers zu der Gruppierung gehörten, die meinen Vater um seine Stellung gebracht hatten und das Leben schlecht machten. Ich habe daher aus einer ungewöhnlich großen Distanzerfahrung das Studium begonnen, denn mein Neuzeithistoriker war jener Fritz Wagner, der aktiv beteiligt gewesen war, um eine Rückkehr meines Vaters in die Fakultät mit verleumderischen Unterstellungen zu verhindern. Bei ihm mußte ich wohl oder übel auch Seminare besuchen. Das war einer der Gründe dafür, daß ich mich in Marburg vor allem auf die Mediävistik geworfen habe, die damals ausgezeichnet besetzt war. Es kam ein Zweites hinzu: Die fachwissenschaftlichen Innovationen dieser Jahre stammten alle von der Mediävistik, und auch die sozialgeschichtliche Forschung hatte ihre Ursprünge bei Alfred Dopsch und gelangte über das MIOEG-Institut von Wien nach Deutschland. Die deutsche Neuere Geschichte fand erst in den 60er Jahren allmählich den Anschluß an die internationale Forschung. Hätte nicht das Ergebnis meiner Magisterarbeit über "Die wirtschaftliche Erschließung des unteren Naheraums vom 9. bis zum 11. Jahrhundert" nicht den Auffassungen meines Lehrers Heinrich Büttner diametral widersprochen, obwohl es später durch neuere Feldforschung auf der ganzen Linie bestätigt worden ist, wäre ich wahrscheinlich Mediävist geworden. Aber da die Arbeit nur mit einer Zwei minus bewertet wurde und eine Promotion sich in Marburg nicht anschließen ließ, bin ich nach Tübingen zu Hans Rothfels gegangen und Zeithistoriker geworden.

Im übrigen habe ich den nicht mehr offen artikulierten Gegensatz von Rothfels gegen die historiographische Position des Vaters in der Frage des Reichsgedankens bei aller Fairneß mir gegenüber noch zu spüren bekommen. Der historiographische Konflikt übertrug sich in gewissem Ausmaß auf die Kinder.

Sind Sie hauptsächlich wegen Rothfels nach Tübingen gegangen?

Die Zwillingsbrüder hatten sich so entschieden: Wolfgang wollte zu Schieder, und ich ging zu Rothfels, weil sie damals an der Spitze des Faches standen. Das war der ganz einfache Grund. Wir wollten ursprünglich unter keinen Umständen Geschichte studieren. Wolfgang hatte ein reguläres Physikstudium begonnen und darin die Zwischenprüfung abgelegt. Wegen seiner starken Interessen an der Geschichtsphilosophie fand er dann doch zur Geschichte zurück. Ich hatte an sich Germanistik studieren wollen und bin schließlich ebenfalls bei Geschichte als Hauptfach gelandet. Es mag deshalb so gekommen sein, weil wir über diese vielen Jahre, in denen der Vater in dem einzigen beheizten Zimmer seine Bücher schrieb, ihn immer bei der Arbeit unterstützt haben. Übrigens gibt es nicht nur das 48er Buch, sondern in dieser schwierigen Zeit schrieb er auch ein Buch über die politischen Anschauungen Goethes, das nach wie vor als Standardwerk zu bezeichnen ist.

Haben Sie nicht auch mit Ihrem Bruder bei der Edition der Parteiprogramme mitgeholfen?

Die Edition der Parteiprogramme lief schon länger und ist nach 1948 fortgesetzt worden. Wir waren daran sehr stark beteiligt. Es gab gelegentlich gewisse Spannungen zu unserem Vater, weil wir die Texte präziser fassen wollten als er. Ich war für die konservativen Parteien und die Sozialdemokratie, und Wolfgang für das Zentrum und die Liberalen zuständig. Wir haben in der Tat sowohl die Texte ausgewählt als auch, vor allem für die letzte Ausgabe, meistens auch die Kommentare geschrieben. So war die Konstellation für Zwillingskinder eines Historikers.

Und wie war Ihr Verhältnis zu Hans Rothfels als Sie nach Tübingen kamen?

Es hat sich auf die Dauer doch ein sehr enges Verhältnis zu Hans Rothfels herausgebildet, aber eine gewisse Distanz blieb immer erhalten. Ich wurde in den spektakulären Arbeitskreis aufgenommen, der im Hause von Rothfels tagte und eine Art Elitezirkel bildete. Später habe ich als Assistent auf die Auswahl der eingeladenen Mitglieder Einfluß zu nehmen versucht. Ich erinnere mich noch daran, daß es einige Mühe kostete, Hans Kaiser in den Arbeitskreis hineinzubringen, dessen Examensarbeit die polnische Nationalbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher positiv einschätzte, was Rothfels, der dem polnischen Adel den Hauptanteil daran beimaß und die bürgerlichen Trägergruppen nicht wahrhaben wollte, nicht recht gefiel. Hans Kaiser ist später langjähriger Assistent von Hans Roos gewesen, der ebenfalls zum Rothfels-Kreis in Tübingen gehörte.

Persönlich kümmerte sich Rothfels sehr nachdrücklich um seine Schüler, und ich habe viel Förderung erfahren, aber es blieb eine Distanz, die in mancher Hinsicht ererbt war, aber auch im Gegensatz der Charaktere, der Generationen und der politischen Auffassungen wurzelte. Im letzten blieb immer ein Stück Skepsis gegenüber meiner Person erhalten, ob es sich um die Fähigkeit zu dozieren, um die Inhalte der Forschung oder das persönliche Auftreten handelte. Andererseits war er persönlich unendlich entgegenkommend, anregend und fürsorglich. Ich erinnere mich, daß er mir, als ich einmal ernsthaft erkrankte, sofort einen großen Korb mit Obst schickte. Er besaß eine ungewöhnlich große persönliche Ausstrahlung, auf die wir Schüler mit ungeteilter Verehrung reagierten. Als ich ihn viele Jahre später einmal besuchte und er mich im Hinblick auf die Studentenbewegung fragte, was denn nun eigentlich die viel erörterte "repressive Toleranz" sei, konnte ich nicht umhin zu antworten: "Wissen Sie, Herr Professor, das ist das, was Sie die letzten zwanzig Jahre mit uns praktiziert haben." Denn die Einbindung der einzelnen war sehr hoch, andererseits konnte man sicher sein, daß man im Falle äußerer Kritik vom "Chef" in jedem Falle gedeckt würde. Möglicherweise war auf meiner Seite auch ein wenig unkontrollierte Eifersucht gegenüber meinem Freund Waldemar Besson im Spiel, der Rothfels' unbegrenzte Gunst besaß und vom übrigen Verwaltungsgeschäft relativ freigestellt blieb. Ich war ein wenig neidisch, daß er zu dem denkwürdigen Historikertag nach Stockholm fahren durfte, während wir - damit auch der jüngst verstorbene Friedrich Hiller von Gärtringen - das Haus zu hüten hatten. Das gehörte zur Hühnerhackordnung.

Daß ich zum Assistenten aufstieg, verdanke ich freilich Waldemar Besson und indirekt Theodor Eschenburg, mit dem ich stets ein enges, aber ihm gegenüber respektvolles, persönliches Verhältnis eingenommen hatte. Im Rigorosum, in dem er als zweiter Prüfer fungierte, veranlaßte er den ewig skeptischen Rothfels, mir doch ein Summa cum laude zu geben. Er hat einige Zeit später den Gedanken gefaßt, mich zum Assistenten im Institut für Politische Wissenschaft zu machen, den ihm aber sein damaliger Assistent, mein späterer Freund Rudolf Schuster, heute Emeritus in München, mit dem Argument ausredete: "Bei mir kommt kein Rothfelsianer ins Haus". Das aber benützte Waldemar Besson dazu, Rothfels davon zu überzeugen, daß ich doch ganz gut auf die freie Assistentenstelle seines Lehrstuhls paßte, und Rothfels hat dann so entschieden, mich freilich nur als Verwalter der Assistentenstelle beschäftigt, da er keine volle Verantwortung für meine Universitätskarriere übernehmen wollte.

Ich bin denn auch überwiegend mit Editionsarbeiten in Atem gehalten worden wie die Herausgabe der älteren Schriften von Rothfels, darunter "Bismarck, der Osten und das Reich" oder die Berlin-Ringvorlesung der Tübinger Universität. Das war gelegentlich ein schwieriger Job, denn bei der Nachtragung der Fußnoten traten manche Irrtümer ans Licht, darunter auch der Tatbestand, daß die berühmte Wendung Bismarcks von den "gottgewollten Nationalitäten" in Wahrheit aus Max Hildebert Böhms "Das eigenständige Volk" stammte und das Exzerpt verwechselt worden war. Ich vergesse nicht, wie ich dies Rothfels mitteilte, der sich in seinem angestammten, leicht abgenutzten Lehnsessel zurücklehnte und nur replizierte: "Das habe ich nun 32 Jahre so zitiert". Diese Deutung entsprach der Konstellation der 20er Jahre; inzwischen aber hatte er sich mit Böhm überworfen und war wenig glücklich über diesen Zusammenhang. Auch sonst war es nicht immer leicht, Rothfels' Texte der 20er und frühen 30er Jahre zu modernisieren, etwa die Wendung, daß Bismarck im Verfassungskonflikt bereit gewesen sei, sich über die Verfassung "wie einen Fetzen Papier" hinwegzusetzen. Er stimmte zu, daß man das inzwischen nicht mehr schreiben könnte. Ich erinnere mich ebenfalls daran, daß er mir die ersten Aufsätze von Otto Pflanze über Bismarck und den Nationalstaatsgedanken in die Hand drückte mit der Bemerkung: "Bitte abwehren". Ich habe dann die Anmerkungen entsprechend abwägend abgefaßt und insoweit Kompromisse gemacht. Ich habe allerdings vermieden, die spezifischen sprachlichen Wendungen von Rothfels nachzuahmen. Er sah das wohl und stöhnte gelegentlich, daß es ja alles richtig sei, was Mommsen mache, aber die Sprache gefalle ihm nicht - eben weil ich zugunsten sachlicher Nüchternheit seine sprachlichen Stilisierungen bewußt zu vermeiden trachtete.

Gleichwohl war es faszinierend, für Rothfels und in seiner Umgebung zu arbeiten, und man tat das um so lieber, als er seine Mitarbeiter, auch wenn er ihnen persönlich einmal einen Rüffel verpaßte, grundsätzlich nach außen, damit auch gegenüber den Fachkollegen im Historischen Seminar, deckte. Die Ausstrahlung, die er besaß und die sich mit einem hohen Maß eindrucksvoller Menschlichkeit verknüpfte, zog viele in seinen Bann, obwohl wir uns im engeren Studienkreis bewußt waren, daß wir weniger mit, als vielmehr gegen Rothfels, d.h. seine historisch-politischen Auffassungen, zu studieren hatten, während das methodische und fachliche Niveau hervorragend war. Seine eindeutige Kampflinie gegen den Nationalsozialismus, die wir teilten, hat diese Spannung gutenteils verdeckt.

Der Rothfels-Clan, dem ich angehörte, war ungewöhnlich anregend, und es gibt ihn in mancher Hinsicht bis heute. Dazu gehörten Gotthard Jasper, der heutige Rektor der Universität Erlangen-Nürnberg, der leider früh verstorbene Waldemar Besson, der dann nach Konstanz ging, Christian Maier, der Althistoriker, Dietrich Geyer, der Osteuropahistoriker in Tübingen, Heinrich-August Winkler, der heute in Berlin lehrt, und viele Jüngere, die ich nicht alle aufzählen kann. Wir betrieben ein kleines Gartenhaus auf der Wanne als Treffpunkt, und von diesem Kreis gingen wiederum zahlreiche Initiativen für das Seminar aus, so der Anstoß zu der berühmten Exkursion des Tübinger Historischen Seminars nach Wien.

Haben Sie von Anfang an seine Positionen, die er in Königsberg vertreten hat, und seine Nähe zur Volksgeschichte mitreflektiert?

Der Begriff der Volksgeschichte, wie er von jüngeren Historiker wie Ingo Haar und Willi Oberkrone verwandt wird, läßt sich auf Rothfels nur schwer anwenden. Rothfels hat zwar den Nationalstaat als Fehlentwicklung für Mitteleuropa abgelehnt und ging insoweit von der Vorstellung einer Völkermischzone aus, auf die das Nationalstaatsprinzip nicht anwendbar sei. Es ist jedoch eine Fehlinterpretation, ihn in eine Linie zur sogenannten Volksgeschichte zu rücken. Der Nachdruck, den er auf "Bismarcks Staatsgedanken" und die preußische Staatstradition gelegt hat - beide sind dem Begriff der Volksgeschichte fremd - schließt das aus. Er stand unter dem Einfluß von Oswald Spenglers "Preußentum und Sozialismus". Seine Aufsätze zur Bismarckschen Sozialpolitik und die nie vollendete Quellenedition, an der er immer wieder arbeitete, sind aus diesem Zusammenhang zu interpretieren. Allerdings näherte er sich in den 20er Jahren den Gedankengängen von Max Hildebert Böhm an und hob die Bedeutung der europäischen Nationalitätenkongresse ebenso wie die Forderung einer transnationalen Neuordnung Ostmitteleuropas hervor, die an die Mitteleuropapläne Naumanns anknüpfte.

Was Rothfels Rolle in der Königsberger Zeit anging, war der Rothfels-Kreis sicherlich unzulänglich informiert. Daß Rothfels ein entschiedener Gegner der Weimarer Republik gewesen war, erschien evident. Beispielsweise hatte er 1929 das Gedenken an den zehn Jahre zurückliegenden Versailler Friedensvertrag zu einer scharfen Attacke gegen die Republik benützt und das von der preußischen Regierung ausgesprochene Versammlungsverbot bewußt durchbrochen. Wir waren über einige Hintergründe für den Weggang von Rothfels aus Königsberg informiert, auch über den Tatbestand, daß er zunächst von den Studierenden verteidigt, aber von einigen Parteileuten angegriffen wurde. Die bis 1937 noch während der Tätigkeit im Reichsarchiv, also in Deutschland, verfaßten Publikationen, die sich mit dem NS-Regime in mancher Beziehung identifizierten und unter anderem die Saar-Politik rechtfertigten, habe ich erst später kennen gelernt.

Er selbst hat 1933/34 versucht, sich an der "Grenzlanduniversität", mit der er stark verwachsen war, zu halten. Wie auch später standen die engen Beziehungen zu Schülern im Mittelpunkt seiner Tätigkeit. Das gilt nicht zuletzt für Werner Conze und Theodor Schieder. Allerdings ist der Unterschied zur nächsten Generation, die sie repräsentierten, mit Händen zu greifen. Während Rothfels als etatistischer Neokonservativer gedeutet werden muß - mir fiel auf, daß Ernst Jünger trotz seines hohen Alters an dessen Begräbnis in Tübingen teilnahm - sind die Jüngeren wie Schieder und Conze durch ein stärkeres Interesse für sozialgeschichtliche Fragestellungen schon damals geprägt gewesen. Bei Rothfels überwog noch eine idealistisch/rankeanische Geschichtsansicht, die sich in der Vorstellung niederschlug, daß die Beschäftigung mit Geschichte versittlichende Kraft habe.

Die Zeithistorische Arbeitsstelle, die Rothfels in Königsberg begründete, wandte sich sehr viel stärker volksgeschichtlichen Bezügen zu, während bei Rothfels selbst, so weit ich sehe, keinerlei völkische Elemente hervortraten. Unzweifelhaft machte sich Rothfels beträchtliche Illusionen über das beginnende NS-Regime, und er glaubte wohl, wie viele Zeitgenossen, daß sich dessen radikale Züge rasch verlieren würden. Ich erinnere mich lebhaft an den Besuch bei der Tochter von Ludo Moritz Hartmann in Wien, die einen jüdischen Physiker geheiratet hatte, der vormals eine Professur in Königsberg ausfüllte. Ich wollte den von ihr verwahrten Nachlaß von Ludo Moritz Hartmann für meine Dissertation auswerten, der 1918 die Deutschösterreichische Republik als Botschafter in Berlin vertreten hatte. Nachdem ich die Papiere studiert hatte, lud sie mich zum Tee ein - es war eine der schönen alten Wohnungen in der Wiener Ringstrasse, die sehr geschmackvoll eingerichtet war. Als ich mich schließlich verabschiedete, sagte sie zu mir überraschend: "Ich bitte Sie, Herrn Rothfels nicht von mir zu grüßen". Auf meine Bitte, mir dies zu erklären, berichtete sie, daß Rothfels nach der Machtergreifung gezögert hatte, seine Söhne über ihre jüdische Abstammung aufzuklären, was mit seiner damaligen Illusion übereinstimmte, den nationalsozialistischen Rassenantisemitismus als Kinderkrankheit herunterspielen zu können. Später habe ich beim Studium des Nachlasses begriffen, wie bitter die Judenverfolgung Rothfels, der zum letztmöglichen Zeitpunkt Deutschland verließ, selbst getroffen hat.

Conze und Schieder waren deutlich jünger, aber noch von der Rothfelsschen antinationalstaatlichen Linie und Begriffen wie der "deutsch-slawischen Schicksalsgemeinschaft" beeinflußt. Beide sind zwar insofern der idealistischen Tradition verpflichtet, als sie selbst den Schritt zu einer rein empirisch ausgerichteten Sozialgeschichte nie ganz getan haben, aber die bei Rothfels noch erkennbare idealistische Geschichtsteleologie des deutschen Späthistorismus findet sich bei ihnen nicht mehr, und das hilft zu erklären, warum sie gewisse Bindungen zur nationalsozialistischen Ostraumpolitik eingehen konnten, ohne völlig mit Himmlers völkischer Flurbereinigung identifiziert werden zu können. Ich würde auch einen Unterschied zwischen dieser Rothfels-Generation und denjenigen machen, die sich später in der berühmten Zeithistorischen Arbeitsstelle in Königsberg zusammengefunden haben.

Kann man eine Abgrenzung zu einer anderen Seite, so zwischen Rothfels und Gerhard Ritter, vornehmen?

Ritter war ausgeprägt deutschnational eingestellt, und bei ihm finden sich im Unterschied zu Rothfels keine Anklänge zum neokonservativen Denken. Anders als Rothfels hat Ritter durchweg empirisch gearbeitet, und seine Publikationen stellen eine eindrucksvolle Lebensleistung dar, die von keinem der zeitgenössischen Historiker überboten wurde. Ritter war ein prononcierter Vertreter der Stein-Renaissance in Deutschland. Die Berufung auf den Steinschen Selbstverwaltungsgedanken diente als Waffe gegen den als westlich abgelehnten Parlamentarismus. Anders als Rothfels hat Ritter die Trennung vom Wilhelminismus nicht radikal vollzogen, vielmehr - in gemäßigter Form - die Strömung des Vorkriegsimperialismus fortgesetzt. Ritters historiographischer Horizont war traditionell auf die Auseinandersetzung mit der englischen und französischen Politik ausgerichtet, während Rothfels sich in zunehmendem Maße nach Osteuropa orientierte. Als ich 1962 als Assistent zu Werner Conze nach Heidelberg ging, wurde mir siedend heiß klar, daß unser Tübinger Geschichtsbild die Beziehungen zu Westeuropa und ebenso zum westdeutschen Raum nahezu völlig ausgeklammert hatte, allerdings sich durch eine stärkere Berücksichtigung der Diplomatiegeschichte im klassischen Sinne von der beginnenden strukturgeschichtlichen Ausrichtung bei Conze unterschied.

Sowohl Ritter wie Rothfels begriffen sich als eminent politische Historiker, die bereit waren, öffentlich Position zu beziehen und, wie Rothfels, durch eine zielbewußte Veröffentlichungspolitik das herrschende Geschichtsbild zu beeinflussen. Dazu gehörte, daß Rothfels aus nationalen Erwägungen den Nachlaßverwalter Kurt Riezlers dazu bewog, das Tagebuch dieses engsten Mitarbeiters von Bethmann-Hollweg nicht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ähnliche Strategien hat er auch in zeitgeschichtlicher Beziehung verfolgt - so unterblieb die Publikation der sogenannten Kaltenbrunner-Berichte zum Attentat des 20. Juli 1944, obwohl die Bearbeitung der Edition durch das Institut für Zeitgeschichte in München bereits vorlag, so daß dann der rechtsextrem eingestellten Seewaldverlag die Publikation vornahm.

Andererseits kam in dem von Rothfels präsentierten Geschichtsbild der Bezug auf Südosteuropa fast überhaupt nicht vor. Tatsächlich hatte der herkömmliche wilhelminische Nationalismus Österreich fast vernachlässigt, und erst in der Weimarer Republik gewann der Anschluß breite Popularität als eine Art Ersatzvornahme für die verlorenen westpreußischen Territorien. Bezeichnenderweise war Hans Rothfels niemals in Wien gewesen, bevor wir mit einer Exkursion dorthin in den späten 50er Jahren das Eis brachen. Rothfels repräsentierte in dieser Beziehung voll die borussische Ausrichtung der deutschen Geschichtsschreibung.

Aber Sie haben ja dann trotzdem...

... die Dissertation über Österreich-Ungarn geschrieben. Die Anregung dazu entsprang einem Seminar von Rothfels über die Nationalitätenfrage, in dem er seine klassische Unterscheidung von subjektivem und objektivem Prinzip und die Nichtanwendbarkeit des westlichen Nationalitätsprinzips auf Ostmitteleuropa herausarbeitete. Im Zusammenhang damit entstand ein theoretisches Interesse an der Nationalitätentheorie von Karl Kautsky und dessen Verhältnis zur Donaumonarchie. Ursprünglich sollte die Arbeit über diese Fragen gehen, doch erkannte ich bald, daß jede Bewertung der Nationalitätentheorie Karl Kautskys, Otto Bauers und Karl Renners eine Klärung der Frage voraussetzte, welche praktische Politik die österreichische Sozialdemokratie in der nationalen Frage einschlug. Rothfels selbst hoffte, die Arbeit werde zeigen, daß die übernationale Monarchie grundsätzlich lebensfähig und daß die Übertragung des Nationalstaatsprinzips auf den Donauraum eine schwerwiegende Fehlentscheidung der westlichen Alliierten gewesen sei, die zur Instabilität Mitteleuropas in der Zwischenkriegszeit maßgeblich beigetragen habe.

Indessen gelangte meine Untersuchung zu dem Ergebnis, daß trotz aller Bemühungen der deutschösterreichischen Sozialdemokraten die Auflösung der Doppelmonarchie aus inneren Gründen unabwendbar war, wenngleich der letzte Schub dazu von alliierter Seite ausging. Rothfels war alles andere als glücklich darüber, wie aus den Randbemerkungen zu meinen Manuskripten hervorging. Daß die Arbeit schließlich für eine Dissertation ungewöhnlich lang geworden ist, hatte damit zu tun, daß er noch immer erwartete, ich würde zu anderen Schlußfolgerungen gelangen.

Was ist dann unter dem Begriff der "perspektivischen Objektivität" zu verstehen, den Rothfels wohl geprägt hat?

Rothfels unterschied sich grundsätzlich von den klassischen Vertretern des Historismus und lehnte jede Form des historischen Relativismus ab. So gesehen, war er ein normativer Historiker, und er scheute sich nicht, in historisch-politischen Fragen rückhaltlos Position zu beziehen und das ganze Gewicht seiner historischen Erfahrung einzusetzen. Historische Urteile waren für ihn nur vor dem Hintergrund objektiver Wertentscheidungen denkbar, und er hatte keine Probleme damit, historische Analogien für politische Schlußfolgerungen heranzuziehen. Bemerkenswert war die Entschiedenheit, mit der er die Zeitgeschichte als Disziplin - er hat den Begriff in Anlehnung an die Königsberger Tradition in Deutschland durchgesetzt - gegenüber der Kritik etwa Gerhard Ritters verteidigte, wonach die Gegenwartsgeschichte wegen des Mangels an historischer Distanz nicht wissenschaftlich bearbeitet werden könne.

Man konnte damals, was für die heutigen jungen Leute fast unbegreiflich ist, Rothfels' Rolle in der späten Weimarer Zeit schwerlich offen erörtern, zumal er ja in vieler Beziehung eine politische Wende vollzogen hatte und sich nachdrücklich für die Politik Konrad Adenauers einsetzte. Eine Aufrollung der spätweimarer Probleme wäre damals nicht nur als taktlos empfunden, sondern auch nicht verstanden worden, nachdem Rothfels als jüdischer Emigrant direkter Verfolgung ausgesetzt gewesen war und an seiner eindeutigen Ablehnung auch der verbrecherischen Züge des Dritten Reiches kein Zweifel bestand. Er war ein erklärter Gegner der üblichen Nachkriegsapologetik, aber ihm ging es auch wieder darum, an die älteren Traditionen des deutschen politischen Denkens anzuknüpfen, allerdings in direkter Konfrontation zum wilhelminischen Nationalismus.

Also hätten Nachfragen zum Zerwürfnis geführt?

Sie waren psychologisch nahezu unmöglich. Man wäre einfach als Quälgeist von niemandem akzeptiert worden. Es gab gar kein Widerlager für eine solche Position. Daß wir untereinander unsere Bedenken artikulierten, ist schon richtig. Aber daß wir das öffentlich hätten tun können, das war bei dem ungetrübten Sozialprestige unserer Peers gänzlich ausgeschlossen.

Sie haben ja dann vier Jahre auch als Assistent von Conze gearbeitet. Wenn Sie das vergleichen: Ist diese persönliche Spannung zwischen der im Dritten Reich oder davor vertretenen Position einerseits, die man jetzt stillschweigend revidiert hatte, und der nun angenommenen Rolle im Nachkriegsdeutschland andererseits deutlich geworden?

Bei Werner Conze bestand eine andere Konstellation als bei Rothfels. Übrigens auch, was meine eigene Position betraf. Ich hatte ein distanzierteres Verhältnis, weil ich nicht sein Schüler war. Ich hatte wenig Lust, mich mit der Vorgeschichte Conzes im einzelnen zu befassen. Aus meiner subjektiven Vorstellung waren die Flucht, bei der eines der Kinder umgekommen war, und die äußere Notlage und wenig entgegenkommende Behandlung Conzes in Münster nach dem Krieg so etwas wie eine Kompensation für seine Haltung vor 1945. Natürlich wußten wir einiges davon, wenn auch nicht so präzise wie heute. Es bestand aber in den 60er Jahren nicht das Bewußtsein, Historiker wie Conze oder Schieder, die bemüht waren, aus den eingefahrenen Gleisen des relativistischen Historismus und einer sinnlos gewordenen politischen Ideengeschichte herauszugelangen, auf ihre eigene Vorgeschichte zu befragen. Die Seminare, die ich in Heidelberg bei Conze betreute, zielten darauf ab, neue Perspektiven zu erschließen, wenngleich manchmal von uns Jüngeren ein wenig nachgeholfen wurde, um gewohnten Harmonisierungen den Weg zu verstellen, ob das die Behandlung des Preußischen Verfassungskonflikts oder der Ära Brüning betraf. Gemessen daran, daß die Weimar-Forschung damals erst neu einsetzte, war das Diskussionsniveau in Heidelberg bemerkenswert anspruchsvoll und methodisch progressiv. Das gilt auch für die Betreuung von Arbeiten, wie diejenige von Michael Kater über das SS-Ahnenerbe oder von Christian Streit über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand, die aus der zeitgeschichtlichen Forschung bis heute nicht wegzudenken sind. Dazu gehörte auch Wolfgang Schieders vergleichende Behandlung des italienischen Faschismus und der Durchbruch zu einer vergleichenden Sicht der autoritären und totalitären Regime. Schließlich darf die intensive Befassung mit den verschiedenen Entwicklungsstadien der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung nicht vergessen werden.

Aus heutiger Sicht pflegen die traditionalen Bestandteile der Conzeschen Methode und deren Bindung an die Einflüsse von Gunter Ipsen und Otto Brunner überbetont zu werden. Damals bestand wenig Anlaß, die selbstkritische Frage nach nationalsozialistischen Ursprüngen der Fragestellungen aufzuwerfen, zumal im Vergleich zur älteren Gruppe der Ordinarien an deutschen historischen Seminaren, die bei der herkömmlichen Ideengeschichte verharrten und die NS-Zeit übergingen. Allerdings gab es bestimmte historische Tabus, die nicht leicht zu durchbrechen waren. Als Hermann Graml und ich daran gingen, eine Revision des bis dahin ziemlich hagiographisch gefärbten Widerstandsbildes zu vollziehen und ich einen Aufsatz über "Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes gegen Hitler" verfaßte, klammerte ich den Komplex des Antisemitismus bewußt aus, der damals von Hannah Arendt und Heinz Pächter bereits angesprochen worden war, weil ich den berechtigten Eindruck hatte, daß die kritische Behandlung dieses Aspektes auf zu großen Widerstand im Fach und in der Öffentlichkeit stoßen würde. Als Christoph Dipper zwei Jahrzehnte später dieses heiße Eisen aufgriff, hatte er noch immer mit scharfer öffentlicher Kritik zu kämpfen.

Überhaupt erfolgte die Modernisierung der deutschen Geschichtswissenschaft nur schrittweise. Für uns Jüngere waren die Kontakte zur nordamerikanischen Geschichtswissenschaft, in meinem Fall die Felix Gilbert zu verdankende Einladung an das Institut for Advanced Study in Princeton, von prägender Bedeutung. Die Beziehungen halfen, gegenüber der älteren Generation der Fachvertreter eine eigenständige Position zu entwickeln, die sich durch die Abwendung vom noch immer einflußreichen historistischen Ballast und der Hinwendung zu sozialgeschichtlichen Themen ausdrückte. Die Heidelberger Lehrjahre haben den Grund dazu gelegt, aber die befreiende Wirkung kam durch dem Kontakt zu den amerikanischen Deutschlandhistorikern zustande, die damals fast alle Felder der neueren und neuesten deutschen Geschichte führend besetzten. Ich habe mich bemüht, diese Kontakte für die Redaktionsarbeiten der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, an denen ich in der Ägide Rothfels beteiligt war, fruchtbar zu machen und angelsächsische Zeithistoriker zu berücksichtigen. Leider haben die Nachfolger Schwarz und Bracher die übrigen Redaktionsmitglieder nicht mehr, wie regelmäßig unter Rothfels und Eschenburg, einberufen, wobei offenbar eine Mischung von Unkenntnis und Bequemlichkeit den Ausschlag gab.

Aber auf dem Titelblatt der Vierteljahrshefte steht Ihr Name immer noch unterhalb der Herausgeber Bracher, Schwarz und Möller in der Rubrik "herausgegeben in Verbindung mit ...".

Eigentlich hatte ich gehofft - auf Grund einer förmlichen Absprache mit Martin Broszat und Theodor Eschenburg -, gemeinsam mit Rudolf von Albertini und Dietrich Geyer die Redaktion der Viertelsjahrshefte nach Rothfels' Tod zu übernehmen, doch wurde daraus nichts, da Karl Dietrich Erdmann und andere Mitglieder des Beirates diese Lösung, für die Eschenburg plädierte, torpedierten und ebenfalls eine gemeinsame Herausgeberschaft durch Karl Dietrich Bracher und mich verwarfen, wobei nicht zuletzt richtungspolitische Motive den Ausschlag gaben. Ich habe das bedauert, hoffte ich doch, die Zeitschrift im Sinne von Rothfels weiterführen zu können, der auf die Reaktion der einzelnen Beiträge - auch in stilistischer Hinsicht - die denkbar größte Sorgfalt verwendete, während die heutigen Herausgeber dies - wenn überhaupt - der technischen Redaktion überließen.

In den Jahren, in denen ich einen gewissen Einfluß nehmen konnte, habe ich, wie ich glaube, mit gewissem Erfolg versucht, die Zeitschrift für die angelsächsische Forschung zu öffnen und der provinziellen NS-Interpretation entgegenzutreten. Dasselbe Ziel verfolgte die von mir zusammen mit Bernd Weisbrod und Dietmar Petzina veranstaltete internationale Konferenz über "Industrielles System und politische Beziehungen in der Weimar Republik", die 1973 in Bochum stattfand, wohin ich 1968 berufen worden war. Dies reflektierte die Anregungen aus den USA, aber auch die Beschäftigung mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen zur Weimarer Republik bei Werner Conze.

Stichwort 1968: Wie wirkte sich denn die 'Studentenrevolution' von 1968 in Heidelberg aus?

Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Heidelberg, ebenso wenig wie mein Freund und Assistentenkollege Wolfgang Schieder. Wären wir dort gewesen, hätte sich wohl vermeiden lassen, daß die Revolution im eigenen Doktorandenkreis von Conze einen Schwerpunkt hatte, da es dann wohl möglich gewesen wäre, im argumentativen Gespräch zu verbleiben. Conze verstand den Studentenprotest im Grunde nicht. Seine berühmte sozialgeschichtliche Vorlesung, die in Anlehnung an Gunter Ipsen mit der Behandlung von Siedlungsformen und der Bedeutung des Hakenpflugs begann, rief die Kritik der linken Studenten hervor, die nicht ganz zu Unrecht eine Auseinandersetzung mit der Marxschen Geschichtsdeutung vermißten, was Conze nicht einlöste und vielleicht auch nicht einlösen konnte, jedenfalls immer wieder aufschob. Ich habe aus dieser Erfahrung eine bleibende Abneigung gegen die Veranstaltung von Pflichtvorlesungen ohne Alternativangebote gewonnen. Conzes im Grunde harmonisierende Position - er verlangte "die Autonomie mit dem und nicht gegen den Staat" - konnte die Studenten beim besten Willen nicht befriedigen, zumal er in der kritischen Situation das Rektoramt übernahm.

Und inwiefern spielte Conzes Vergangenheit während der Studentenunruhen eine Rolle?

Von Koselleck weiß ich, daß davon die Rede war. Eine zentrale Rolle spielte dies jedoch nicht. Angesichts des weit gespannten Faschismus-Begriffs der studentischen Linken erübrigte sich der detaillierte Nachweis, mit dem Nationalsozialismus sympathisiert zu haben, um konservativ eingestellte Hochschullehrer anzugreifen. Im Grunde richtete sich der Faschismusverdacht gegen alles, was als bürgerlich gelten konnte.

Wie haben Sie wichtige Debatten wie z.B. die Fischer-Kontroverse oder die Auschwitz-Prozesse in den 60er Jahren erlebt?

Die Verankerung der im Begriff des Holocaust umschriebenen Verbrechen in der deutschen Gesellschaft war uns damals nicht hinreichend bewußt. Bei der Behandlung dieses Komplexes schien es hauptsächlich darum zu gehen, mit Himmlers Schandtaten aufzuräumen. Ich empfehle Ihnen die Lektüre von Martin Walsers Aufsatz im Kursbuch von 1965 über den Auschwitz-Prozeß. Damals beklagte er sich über die Tendenz zur Ästhetisierung des Verbrechens, die die eigentliche Sache zurücktreten lasse. Wir waren überwiegend mit den gesellschaftlichen Ursachen der NS-Machteroberung und der inneren Struktur des Regimes befaßt, während der Zweite Weltkrieg und damit der Holocaust noch nicht im Zentrum des Forschungsinteresses stand.

Die Fischer Kontroverse hat uns hingegen stark beschäftigt. Ich kann mich nicht entsinnen, daß Conze sich dazu je geäußert hätte. Es handelte sich um eine Debatte, die - abgesehen von Fritz Fischer und Edmund Zechlin schon in die nächste Generation reichte. Den Anstoß gab übrigens die Dissertation von Imanuel Geiss über die deutschen Kriegsziele gegenüber Polen und den polnischen Grenzstreifen. Unter seinem Einfluß ist dann Fritz Fischer zu seiner grundsätzlichen Kritik an der zum Krieg treibenden wilhelminischen Politik gelangt. Dafür ist die Episode der seinerzeit umstrittenen Einladung von Fritz Fischer an die Yale University signifikant. Nachdem die Bundesregierung zunächst die Einladung zu hintertreiben versucht hatte und deren Finanzierung schließlich durch die Ford Foundation ermöglicht worden war, referierte Fischer schließlich im Graduate Seminar von Hajo Holborn in einem derart apologetischen Sinne, daß die Anwesenden, die sich mühsam durch das damals noch nicht in englischer Übersetzung vorliegende Buch "Der Griff nach der Weltmacht" durchgekämpft hatten, völlig verwirrt waren und die Diskussion widersprüchlich verlief. Von Holborn in seiner jovialen Art beim Weg zum Lunch befragt, ob es nicht besser gewesen wäre, vorher mitzuteilen, daß er seine Meinung über Bethmann-Hollweg inzwischen geändert hätte, gab Fischer zur Antwort, er habe seine Position nicht geändert, aber man könne doch über ein national empfindliches Thema im Ausland nicht so sprechen wie im Inland. Das verriet, daß er an seiner ursprünglich nationalen Grundeinstellung festhielt. In der Tat hatte Fischer nicht vorausgesehen, was er mit seinem Tabubruch - denn das war seine radikale Bethmann-Kritik - losgetreten hatte, und bestätigte damit den Sachverhalt, daß die Mehrheit der deutschen Historiker vergleichsweise a-politisch eingestellt war.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Generalisierende Aussagen sind schwer möglich. Man wird sich darüber im Klaren sein, daß die Angehörigen der jüngeren Generation, die in den 30er Jahren die akademische Karriere beginnen, in der Regel keine Alternative als die Anpassung an das NS-Regime vor Augen hatten. Sie hatten den Ehrgeiz, der intelligenzfeindlichen Einstellung des Regimes entgegenzuwirken, und manche gingen von der Vorstellung aus, daß es möglich sei, die Dinge zu verbessern. Dies dürfte einer der Antriebe für Theodor Schieder gewesen sein, der von Karl Alexander von Müller herkam, den er zeit seines Lebens sehr verehrte. Die kriminellen Züge des NS-Systems wurden angesichts der Dominanz nationalistischer Motive zunächst vielfach übersehen. Während Historiker wie Gerhard Ritter und Hans Rothfels noch in der Tradition der deutschen historistischen Schule standen und deren Vorstellungswelt weithin teilten, ist die nachfolgende jüngere Gruppe von Historikern vor allem dadurch charakterisiert, daß die hegelianisch-idealistische Vorstellung eines inneren Sinnes der Geschichte sich für sie auflöste und sie zu einer Neubestimmung der Geschichtswissenschaft durch die Abstützung auf soziologische und biologische Gesichtspunkte anstrebten. Das konnte - wie im Falle von Günther Franz - bis zu rassenbiologischen Positionen führen. Der Einfluß der Jungkonservativen tritt bei dieser Gruppe deutlich zurück, wenngleich er in einzelnen Fällen, so bei Schieder, anfänglich noch prägende Bedeutung hatte. Entscheidend ist, daß sich ein qualitativer Bruch von der historischen Position zu einer stärker technizistisch geprägten Auffassung ergibt, die die Zerstörung gewachsener historischer Strukturen unter Berufung auf langfristige historische Verlaufsmodelle zuließ und propagierte, wie das bei der Forderung nach einer systematischen Veränderung der Sprach- und Siedlungsgrenzen der Fall ist, welche von der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft forciert wurde. Die durchbrechende Mentalität eines mit historischen Argumenten abgestützten Aktionismus weist deutliche Bezüge zum nationalsozialistischen Politikverständnis auf und bereitete es vor oder legitimierte es in intellektuell-akademischer Beziehung.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Die Frage weise ich insofern zurück, als daß sie sich auf die Gesamtheit der Nation bezieht. Die Historiker unterscheiden sich als soziale Gruppe nicht wesentlich von der übrigen Gesellschaft, so daß der Begriff der "Entgleisung" ein irreführendes Bild ist, da es ein majoritäres Normalverhalten voraussetzt.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Ich halte den Begriff Volksgeschichte für ziemlich unglücklich, da er unterschiedliche Strömungen verdeckt, wie dies insbesondere von Oberkrome aus einer Sicht des ex post versucht worden ist. Die Rothfels-Tradition ist damit nur unzureichend umschrieben. Wenn beispielsweise mein Vater über den Volksbegriff gearbeitet hat, so hängt dies ebensowenig mit der Übernahme völkischer Ideen, sondern mit der Weimarer Situation zusammen, die durch das Auseinanderfallen von Nation und Staat infolge der territorialen Regelungen des Versailler Friedensvertrags geprägt war. Das hat damit zu tun, daß man nach Versailles einen größeren Rahmen des deutschen Volkes, gemessen an den Staatsgrenzen, vor Augen hatte. Daneben gab es eine engere völkische Gruppierung, die sich durch die Aufnahme rassischer und biologischer Kriterien von der historistischen Position ablöst. Für Theodor Schieder trifft das nur sehr begrenzt zu. Bei Conze hingegen gibt es Elemente einer stärker rassisch-biologisch überformten Perspektive bezüglich der ethnischen Durchmischung des osteuropäischen Raumes.

Das Vordringen der Sozialgeschichte muß in erster Linie mit dem Auslaufen des idealistisch geprägten Historismus und das Vordringen einer stärker voluntaristisch geprägten Geschichtsauffassung in Zusammenhang gebracht werden, die den Relativismus, die für den Historismus charakteristisch war, durch dezisionistische Einstellungen zu überwinden suchte. Es ist etwas irreführend anzunehmen, daß der Nationalsozialismus die Sozialgeschichte begründet habe. Sie entwickelte sich seit den späten 20er Jahren und besaß einen Schwerpunkt in der Forschung von Alfred Dopsch in Wien. Daß sich der Nationalsozialismus dann dieser Tendenz bedient hat, die als modern und zukunftsweisend empfunden wurde, steht auf einem anderen Blatt, ebenso die dann eintretende Pervertierung sozialgeschichtlicher Fragestellungen im rassenbiologischen Sinne.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Die personelle Kontinuität der deutschen Geschichtswissenschaft stellte keinen Sonderfall dar, sondern entsprach der von Wolfgang Zapf eingehend dargestellten Entwicklung der deutschen Elite insgesamt. Es gab in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch keinen Ansatzpunkt für eine umfassende personelle Veränderung. Die wenigen Liberalen, die vor 1933 akademische Positionen errungen hatten, waren entweder in die Emigration gegangen oder innerhalb des Regimes verschlissen worden. Der Umstand, daß die Emigranten nicht zurückkehrten und später nur diejenigen, die dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen waren, hat dazu geführt, daß nach 1945 die konservative Präponderanz im Fach noch viel ausgeprägter war als in der späten Weimarer Zeit. Charakteristisch war, daß Hermann Aubin, der so eng mit dem Regime zusammengearbeitet hatte, noch zum Präsidenten des Deutschen Historikerverbandes gewählt werden konnte, ohne daß sich Widerspruch erhob. Die politische und soziale Homogenität dieser Gruppierung überdauerte die Herrschaft des Nationalsozialismus, und es gab nur ganz wenige Außenseiter wie Ludwig Dehio oder George Hallgarten, die aber rasch an die Seite traten. Nicht Heimgekehrte wie Hans Rosenberg waren trotz zaghafter Versuche, ihn nach Deutschland zurückzuholen, im Fach nach wie vor isoliert. Wenn es nicht Mitte der 60er Jahre die Ausweitung des Universitätssystems im Zusammenhang mit der Bildungsreform gegeben hätte, wäre die politische Homogenität vermutlich auch dann nicht aufgebrochen worden, was dann bis zu einem gewissen Umfang erfolgte. Es kam hinzu, daß viele Privatdozenten und Doktoranden im Kriege umgekommen sind, was zur Überalterung des Faches maßgeblich beitrug. Daraus erklärt sich der soziologische Befund, daß es niemals zuvor eine derartige Vorherrschaft alter Männer gegeben hat wie in der Zeit von 1945 bis in die Mitte der 60er Jahre.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

In mancher Hinsicht ist auch das zu einfach gesehen, denn über einige Dinge ist ja gesprochen worden. Und ein paar Historiker sind zunächst auch in die Wüste geschickt worden. Man hatte die Vorstellung, daß es einige ganz Exponierte gegeben habe, die nun entfernt seien, und daß die anderen bleiben könnten. Das Kriterium war nominell die "anständige fachliche Arbeit", was nun freilich bedeutete, daß die Etablierten geschont und die Aufsteiger, die zum größeren Teil vom Regime protegiert worden waren, herausgedrängt wurden. Im Grunde blieb die Gruppe der Ordinarien weitgehend unter sich. Dementsprechend war es gar nicht anders zu erwarten, als daß all diese Männer keinen Anlaß sahen, über ihre jeweilige Tätigkeit wahrend des NS-Regimes zu sprechen oder davon Zeugnis abzulegen - mit der Ausnahme ganz weniger, wie in Heidelberger der Sozialhistoriker Erich Maschke. Insofern ist der Begriff des Beschweigens zu intentional gedacht. Die Fachvertreter mußten sich nicht "beschweigen", weil sie genau wußten, was vorher geschehen war.

Hätten sich Persönlichkeiten wie Aubin, Rothfels, Schieder und Conze, aber auch Theodor Mayer und Hermann Heimpel regelmassig untereinander treffen oder öffentliche Bekenntnisse ablegen sollen? Die damit zusammenhängenden Probleme konnten erst von der nachfolgenden Generation, die auf die Lehrstühle schrittweise nachrückte, aufgeworfen werden. Sie mußten selbst so unabhängig sein, um unbefangen darüber zu reden und die zuvor beibehaltene partielle Tabuisierung der Problematik beiseite zu schieben, die selbst noch bei einer so kritischen Studie wie derjenigen des damals jungen Historikers Karl Ferdinand Werner noch einwirkte.

Beschweigen ist meiner Ansicht nach ein intentionalistisch geprägter Terminus, der politische Machtverhältnisse und die Funktion der maßgeblichen Seilschaften im Fach einfach ausklammert. Vergessen Sie den Faktor personalisierter Macht nicht - diese Leute entschieden über Karrieren, und es gab gar keine Möglichkeit, dagegen zu rebellieren. Gegen deren Willen hatte im Fach überhaupt niemand eine Chance, etwas zu werden. Die Hervorhebung des Beschweigen übersieht den einfachen Tatbestand, daß Personen, die in den Schlüsselpositionen sitzen, sich nicht ohne Not gegenseitig aushebeln. Moralische Kategorien sind bei der Beurteilung dieser Dinge wenig hilfreich. Tatsächlich gewöhnte sich das Fach rasch daran, daß auch die vorübergehend Ausgeschiedenen etwa vermittels der Ranke-Gesellschaft und des "Historisch-Politischen Buches" erneut Einfluß gewannen und nicht etwa isoliert wurden.

Im übrigen sollte die Haltung des westlichen Auslandes nicht übersehen werden. Ich war sehr gut befreundet mit Felix Gilbert, und ich habe 1953 einen Artikel im 'Daedalus' über die deutsche Historiographie nach 1945 verfaßt, der die Zustimmung der amerikanischen Kollegen fand, die die personelle Kontinuität aus den späten Weimarer Jahren nicht direkt in Frage stellten. Auch im westlichen Ausland herrschte noch immer die Vorstellung, daß die deutsche Geschichtswissenschaft nicht direkt in die Verbrechen oder die expansionistische Politik des NS-Regimes involviert war. Erst mit dem Generationswechsel ist die heute geführte Diskussion über die Rolle der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich möglich geworden.

6.1 Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen?

Die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik hat die Funktion der politischen Beratung, die sie in der ersten Jahrhunderthälfte ausübte, weithin an die Politische Wissenschaft abgetreten, und sie ist auch gegenüber der Versuchung, sich politisch zu exponieren, vorsichtiger geworden. Gleichwohl übt sie über die Medien einen wichtigen Einfluß auf die politische Kultur aus, wobei ich das Hauptgewicht darauf legen möchte, durch die Einbringung politischer Erfahrung den politischen Entscheidungsprozeß von Fehlentwicklungen abzuhalten und in so weit zu beeinflussen. Mit dem Zurücktreten des herkömmlichen Nationalismus ist ihre Rolle nicht länger in der öffentlichen Bewußtseinsbildung zu suchen wie seinerzeit mit Rothfels' Rede im Deutsches Bundestag zum 150. Geburtstag Bismarcks. Sie hat gerade nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur und der Krise der Weimarer Demokratie die Aufgabe, einem Rückfall der deutschen politischen Kultur in autoritäre und nationalistische Denkhaltungen durch historische Aufklärung entgegenzutreten. Dies gilt insbesondere für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Zeit.

6.2 In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Im Grunde sind sie nicht verarbeitet worden. Zwar hat sich die zeitgeschichtliche Forschung intensiv mit den Ursachen und Folgen des Dritten Reiches auseinandergesetzt, aber die Haltung der Historiker selbst wurde erst in jüngster Zeit umfassend behandelt.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Dies ist in erster Linie auf eine seit einigen Jahren erhöhte zeitgeschichtliche Sensibilisierung zurückzuführen, die ein allgemeines Phänomen darstellt und nicht zuletzt auf den intergenerativen Wandel zurückgeführt werden muß. Insofern ist die Beschäftigung mit den Historikern nicht isoliert zu sehen, denn gleichzeitig werden weitere, bislang vernachlässigte Gruppen der deutschen Elite, so die Bankiers und die Industriellen eingehender untersucht. Man hat es gleichsam mit einer umfassenden Aufräumaktion durch die nächste Generation zu tun, und sie ist nicht auf Deutschland beschränkt. Die erhöhte Sensibilisierung durch das nationalsozialistische Erbe trat ursprünglich mit dem unerwarteten Publikumserfolg von "Schindlers Liste" hervor. So weit ich sehe, fehlt bislang eine gründliche soziologische Analyse dieses Problems.

Die emotionale Erregung auf dem Historikertag hängt allerdings auch mit dem wenig glücklichen Veranstaltungsarrangement zusammen, indem - wegen der danach angesetzten Sitzung des Historikerverbandes - die Diskussion unter erheblichem Zeitdruck stand. Einen weiteren Faktor bildete die persönliche Betroffenheit der Beteiligten, auch der an die jetzt abtretende Historikergeneration gerichtete Vorwurf, sich nicht an Persönlichkeiten wie Heimpel, Conze oder Schieder wegen ihrer Rolle im Dritten Reich gewandt zu haben. Im Grunde geht es gar nicht um die NS-Historiographie, sondern um die Durchsetzung eines ethisch rigorosen Standpunkts, der die Arbeit der vorausgehenden Ordinariengeneration relativiert. Insofern haben wir es mit einem Stellvertreterkrieg zu tun, der sich gegen die Wehler und Mommsen und ihre gleichaltrigen Fachkollegen richtet. Dieser intergenerative Konflikt, der die Emotionen verursacht, äußert sich auch auf anderen Feldern. Mich haben Christoph Dipper und Bernd Rusinek - obwohl der erstere zu meinen Freunden gehört - in einer von Heil und Erb herausgegebenen Aufsatzsammlung zur Goldhagen-Debatte als "Entsorger" des Dritten Reiches hingestellt, wovon keine Rede sein kann. Aber es ist symptomatisch, daß man plötzlich den Funktionalisten moralischen Indifferentismus vorzuwerfen pflegt und ausgerechnet ihnen vorwirft, im Grunde an dem Erfolg von Daniel Goldhagen schuld zu sein. Dahinter steht ein starker emotional und ideologiegeschichtlich geprägter Zugang zur Geschichte des Nationalsozialismus, der zum Diskussionsstand der 50er Jahre zurückführt. Die unvorstellbar scheinende Eskalation von Gewaltanwendung und Terror im NS-Regime kann indessen nicht mit einer bloß ideographischen Methode erklärt werden. Doch muß die nächste Historikergeneration diese Einsicht selbst vollziehen.

Glauben Sie, daß eine Amerikanisierung der Wissenschaft stattfindet und daß viel stärker moralisch gewertet wird?

Die gegenwärtig durchbrechenden Tendenzen haben mit Amerikanisierung überhaupt nichts zu tun, sind eher im Gegenteil eine Rückkehr zur deutschen historischen Tradition und deren ausgeprägt ideengeschichtlicher Ausrichtung. Neuartig ist der moralische Rigorismus, mit dem viele jüngere Historiker auftreten. Ich habe selbst niemals mit Werturteilen zurückgehalten, aber den Grundsatz beachtet, daß die Geschichtswissenschaft primär explanatorische Funktionen hat und sich nicht auf eine von moralischer Empörung begleitete Aufklärung, damit die Aufdeckung von in der Regel unbequemer Sachverhalte, beschränken darf, wenn sie dauernde Aufmerksamkeit beanspruchen will. Auch die Frage, warum die deutsche Intelligenz sich überwiegend an das NS-Regime angepaßt und sich in vieler Hinsicht mir ihm identifiziert hat, ist nicht einfach unter moralischen Gesichtspunkten zu behandeln. Die Historiker machten ja keine Ausnahme, und man wird ihre Haltung als Indikator für eine allgemeine Kulturkrise und den damit verbundenen Werteverfall begreifen müssen und nicht das persönliche Versagen in den Vordergrund stellen.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Im Sinne meiner Ausführungen ist das zu hoffen. Bisher haben wir es hauptsächlich mit Versuchen zu tun, die einzelnen Historiker richtungspolitisch zuzuordnen. Das eigentliche Problem besteht hingegen darin zu erklären, warum sich Angehörige der akademischen Elite in diese oder jene Richtung entwickelt haben - und dazu bedarf es eines anderen methodischen Vorgehens, als es bis jetzt überwiegend der Fall ist. Auch in der jüngsten einschlägigen Untersuchung von Ingo Haar fällt mir die Tendenz auf, zwischen Guten und Bösen zu sortieren, was meistens die Mediävisten begünstigt, die weniger zu aktuellen Problemen Stellung nehmen, während die Neuzeithistoriker regelmäßig in die Schußlinie geraten. Es gibt auch das Problem, ob man noch wie selbstverständlich von einer Einheit des Faches ausgehen kann, die vielleicht gar nicht mehr bestanden hat.

Herr Mommsen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Savoy-Hotel (Berlin-Charlottenburg)
Datum: 03.02.1999, ca. 13.00 bis 15.00 Uhr
Interviewer/in: Hacke, Schäfer, Steinbach-Reimann


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