Deutsche Historiker im Nationalsozialismus.
Beobachtungen und Überlegungen zu einer Debatte
von
Winfried Schulze, Gerd Helm, Thomas Ott
»Quem sua culpa premet, deceptus
omitte tueri!«
(Horaz, Epistulae 1, 18,
79)
Die Art, wie Themen verhandelt werden, dient als Seismograph für jede Form intellektueller Erschütterungen einer Wissenschaftsdisziplin. Die aufwühlende Debatte um die Rolle deutscher Historiker im Nationalsozialismus, die auf dem 42. Historikertag in Frankfurt am Main im Herbst 1998 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, belegt eine bemerkenswerte Klimaveränderung innerhalb der Zunft, vergleichbar der »Fischer-Kontroverse« seit Beginn der sechziger oder dem »Historikerstreit« Mitte der achtziger Jahre. Für diese Beobachtung spricht die aufmerksame Resonanz, von der die Thematik im Herbst 1998 in der allgemeinen Öffentlichkeit ausgehen konnte - längst hatte die Presse die kontroverse Diskussion von den Fachzeitschriften in ihre Feuilletons verlagert.
Während der Andrang zur Sektion über die Vergangenheit der Historiker im »Dritten Reich« schon die formale Organisation vor einige Probleme stellte, war der Zulauf bei jenen Sektionen, die sich mit der Vergangenheit der intellektuellen Eliten in der ehemaligen DDR beschäftigten, durchaus überschaubar. Es ist hier nicht der Ort, diesen frappierend unterschiedlichen Umgang mit Vergangenheit zu vertiefen oder gar zu spekulieren, ob das scheinbare »Desinteresse« analoge Gründe haben könnte, wie dies auch für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nach dem Krieg galt. Gleichwohl scheint diese »Gleichgültigkeit« zu belegen, daß sich unser Denken noch immer nicht mit den totalitären Irrwegen unseres Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit auseinandersetzt. Dieser Befund überrascht, auch wenn wir ihn zugleich wieder relativieren müssen. Nicht nur in Deutschland - wo die Aufarbeitung der DDR-Geschichte im Unterschied zur Nachkriegsgeschichte durch die Politik forciert wird - quält man sich mit der historischen Bearbeitung brauner wie roter Diktatur; in allen postkommunistischen Staaten steht man vor dem Problem, wie die eigene belastete Geschichte zu begreifen ist. Die Frage, ob, wann und wie Vergangenheit bewältigt wird, stellt sich beharrlich, findet aber überall verschiedene Antworten. Dabei fällt auf, daß es im Deutschen - anders als beispielsweise in der englischen Sprache - bereits Begriffe gibt, die den Umgang mit totalitärer Vergangenheit benennen. Wenn von »Trauerarbeit« oder ihrem Pendant, der »Strategie des Vergessens«, die Rede ist, dann wird damit das besondere Verhalten der nach Identität ringenden Generation in einer Umbruchsphase angesprochen. Eine Debatte um die Vergangenheit deutscher Historiker im Nationalsozialismus ist auch eine Debatte um die Geschichte der frühen Bundesrepublik. Eben dies begründet, warum - selbst nach einem halben Jahrhundert - die Debatte emotional geführt wird, ja vielleicht geführt werden muß.
Gegenstand der Sektion war das Verhalten deutscher Historiker im Dritten Reich. Dabei ging es jedoch nicht um die Gruppe derer, die bereits in den späten vierziger Jahren vom Dienst suspendiert wurden, sondern es ging vor allem um Gelehrte, die ohne jeden Zweifel zu den methodisch innovativen und führenden Köpfen der Zunft in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten gehörten. Die Historiker wurden hier auf eine schmerzhafte Weise mit der Geschichte der eigenen Disziplin konfrontiert, und zwar in doppelter Weise. Einmal rücken die konkreten Zusammenhänge und Gründe des Sich-Einlassens einer Generation von Historikern mit dem Nationalsozialismus ins Blickfeld. Zum anderen verbindet sich damit auch ein grundsätzliches Interesse, weil Historiker immer eingebunden sind in die lebensweltlichen Zusammenhänge ihrer Zeit, ja aus ihnen heraus erst sinnvoll arbeiten können. Insofern geht es um ein Grundproblem unserer Zunft. Dies sollte über der Aktualität des Themas und den unterschiedlichen Graden persönlicher Betroffenheit nicht vergessen werden.
Zunächst ist zu erklären, warum es den Veranstaltern dieser Sektion sinnvoll und notwendig erschien, eine solche Diskussion auf dem Historikertag zu führen. Es sei betont, daß Vorstand und Ausschuß des Historikerverbandes den Gedanken zu einer solchen Diskussion von Anfang an unterstützt und gefördert haben. Insofern ist jeder Verdacht unangemessen, der Verband habe irgendein Interesse daran gehabt oder habe es noch, Dinge unter den Teppich zu kehren. Der Vorsitzende des Verbandes, Johannes Fried, hat in seiner Rede zur Eröffnung des Historikertages und in entsprechenden Interviews diese Position bekräftigt, nämlich die Verpflichtung zu Aufklärung und Engagement in dieser Angelegenheit.[1]Wenn zudem die Mitgliederversammlung auf demselben Historikertag einen Nachwuchspreis für Geschichtswissenschaftler gestiftet hat, der den Namen Hedwig Hintzes [2] trägt, dann mag man diese Entscheidung im Lichte jenes Aufrufs zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des eigenen Fachs sehen [3] Weiter ist dem Einwand zu begegnen, man habe sich auf dem Historikertag in Frankfurt am Main erstmals der Geschichte des eigenen Faches gestellt. Die Sektion und ihre Beiträge finden sich vielmehr inmitten einer Diskussion wieder, die weiter zurückreicht, seit Anfang dieses Jahrzehnts indes immer intensiver geführt wird. Tatsächlich war es keineswegs immer so, daß dieses Thema so gründlich diskutiert wurde.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es zunächst die relativ kurze Phase der »Ordnungs«- und »Reinigungs«-Ausschüsse und der kurzfristigen Entlassungen durch die jeweiligen Besatzungsmächte.[4] Diese Politik verlief sehr unterschiedlich, sie folgte keinem klaren Konzept, zuweilen gerieten Historiker eher zufällig in das Raster tiefergehender Überprüfung.[5] Die Kommentierung dieser Vorgänge oder gar ihre politische Wertung durch deutsche Kollegen lieferte Ansätze zu einer Untersuchung der Nähe zum Nationalsozialismus, mehr nicht.[6] Es herrschte insgesamt eher einverständliches Schweigen, wenn es um die geistige Nähe oder gar persönliche Mittäterschaft der Historiker im Dritten Reich ging, ein Einverständnis, das für Hermann Lübbe rückblickend durchaus auch eine stabilisierende Wirkung hatte.[7]
Immerhin wurden in dieser ersten Phase die sogenannten »Unbelehrbaren« aus dem Dienst entfernt. Als solche galten Historiker, von denen man wußte, daß sie ihre akademischen Positionen allein ihrer Nähe oder ihrer Zugehörigkeit zur NSDAP verdankten, daß sie aktiv an der Entfernung politisch mißliebiger Kollegen beteiligt waren, oder daß sie in ihren Schriften eindeutig rassistische Konzeptionen von Geschichte vertreten hatten. Nach der Wiedereröffnung der Universitäten wurden sie (zunächst) nicht wieder in das akademische Leben integriert, und sie unterlagen auch anfänglich einem erheblichen Reputationsverlust innerhalb der Zunft. Freilich wurden sie keineswegs aller Wirkungsmöglichkeiten beraubt; sie fanden Stellungen in Verlagen und Redaktionen, sie beteiligten sich auch seit Beginn der fünfziger Jahre wieder durchaus aktiv am publizistischen und dann auch wissenschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland. Das Beispiel des Mediävisten Theodor Mayer ist hierfür aufschlußreich, er wurde zum Gründer des »Konstanzer Arbeitskreises«, des wichtigsten Zusammenschlusses der bundesrepublikanischen Mittelalterforschung. Auch die Gründung der Ranke-Gesellschaft samt ihrer Zeitschrift »Das Historisch-Politische Buch« durch Günther Franz und Gustav Adolf Rein gehört in diesen Zusammenhang.[8]
Den meisten Historikern gelang es, nach der mit deutlichem Widerwillen überstandenen Absolvierung der Entnazifizierungsverfahren wieder als akademische Lehrer tätig zu werden. Die sogenannte »131er«-Gesetzgebung [9] brachte dann Ende der fünfziger Jahre sogar die Gruppe der zunächst ausgeschlossenen Akademiker wieder an die Hochschulen zurück, oft gegen den erklärten Willen der betroffenen Fakultäten. Auch wissenschaftlich gaben sie sich keineswegs geschlagen: Bekannt ist der Kampf des schon erwähnten Theodor Mayer gegen seine Entmachtung als Präsident der Monumenta Germaniae Historica. Erst eine Koalition von Walter Goetz, Friedrich Baethgen, Friedrich Glum sowie bayerischen Politikern und amerikanischen Offizieren konnte seine Entfernung durchsetzen.[10]
Die äußeren Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens erleichterten nicht gerade die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Historikern. In den Universitätsarchiven wurden die Bestände der Personalakten gesperrt, für die Entnazifizierungsakten galt das gleiche, das Berlin Document Center wurde erst spät der allgemeinen Forschung zugänglich gemacht. So entstand eine Grundstimmung, die in der Nähe von Historikern zum Nationalsozialismus kein Problem mehr sah: Als Werner Conze auf dem Schlußvortrag des Mannheimer Historikertages 1976 die nunmehr dreißigjährige Entwicklung der Geschichtswissenschaft in beiden deutschen Staaten durchmaß, ließ er sich zur nationalsozialistischen Belastung seiner Kollegen nur mit wenigen Worten vernehmen. Lapidar stellte er für die junge Bundesrepublik fest: »Die Universitäten wurden wieder geöffnet. Die personelle Kontinuität blieb, von Kriegsopfern und entlassenen Nationalsozialisten abgesehen, gewahrt.« [11] Conze bekannte bis zuletzt, er selbst habe unmittelbar nach Kriegsende eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichtswissenschaft als »unnötig« empfunden, wo doch »die wenigen NS-Historiker damals durch Tod oder durch Amtsverlust aus der Öffentlichkeit« ausgeschieden seien; auch hatte er es vorgezogen, an der damaligen Diskussion um eine »Revision des deutschen Geschichtsbildes« nicht teilzunehmen, er hielt sie »nicht für ergiebig«.[12]
Insofern waren es wichtige Schritte, als zuerst Helmut Heiber 1966 sein kompendiöses Werk über »Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands« publizierte und Karl Ferdinand Werner 1967 sein kleines Buch über die Geschichtswissenschaft während des Nationalsozialismus herausbrachte. [13] Während Heibers monumentales und faktenreiches Werk eher als Handbuch genutzt wurde, hatte Werners Buch gerade auf die Studenten eine erhebliche Wirkung, wiewohl es sich vor allem auf die Mediävistik konzentrierte. Es war ein starker Anstoß für intensiveres Nachfragen und bot eine neue Strategie gegen das, was man damals den »hilflosen Antifaschismus« der universitätsinternen Vorlesungsreihen zur Universitätsgeschichte im Dritten Reich nannte.[14] Diese Unternehmungen der frühen sechziger Jahre hatten insgesamt stark die nazifreien Bereiche der Universität herausgehoben und damit die gefällige Interpretation unterstützt, die schon unmittelbar nach 1945 von Gerhard Ritter und Gerd Tellenbach formuliert worden war.[15]
Es gab zahlreiche Belege dafür, wonach insbesondere die historischen Fakultäten nicht den - wenn auch diffusen - Erwartungen des Hitler-Regimes entsprochen hatten. So blieb es dabei, Universitäten und nationalsozialistische Ideologie in einem gewissen Spannungsverhältnis zu sehen. Mochte man dieses Bild auch bis Ende der achtziger Jahre vielfach differenzieren, so wich man nicht von der Vorstellung ab, daß trotz politischer Affinität die Historiker in persönlicher Distanz zum Nationalsozialismus gestanden hatten.
Dieser Konsens wurde durch die umfangreiche Literatur der letzten Jahre aufgebrochen. Ehe dazu die neuesten Studien der in diesem Band versammelten Autoren vorgestellt werden, ist an die jüngeren, freilich unterschiedlich wertenden Publikationen von Wissenschaftlern wie Michael Burleigh, Willi Oberkrome, Karen Schönwälder oder Ursula Wolf zu erinnern.[16] Auch eine Reihe vorzüglicher Darstellungen von Akademie-, Universitäts- oder Institutsgeschichten während der NS-Zeit sind zu nennen.[17] Frühere Historikertage widmeten sich bereits speziell der delikaten Rolle deutscher Geschichtswissenschaftler im Rahmen der zeitgenössischen »Ostforschung« [18], ebenso wie das umstrittene Werk Otto Brunners eingehender Kritik unterzogen wurde.[19]
Unsere Vorstellung von der deutschen Geschichtswissenschaft im Dritten Reich wurde damit in einer zunehmenden Zahl von Einzelfällen korrigiert, um schließlich auf breiter Front revidiert zu werden. Wir wissen heute sehr viel besser, wie die akademische Geschichtswissenschaft jenes »geschichtliche Rüstzeug« bereitstellte, das Theodor Mayer und Walter Platzhoff 1941 »für das zentrale Problem des jetzigen Krieges und der bevorstehenden Neuordnung Europas« hielten.[20] Die Geschichtswissenschaft präsentierte sich dem Nationalsozialismus durchaus nicht mit »leeren Händen«, wie Karl Alexander von Müller schon 1933 versprochen hatte; tatsächlich waren es Texte zur »Umvolkung« und »Entjudung«, mit denen die Historiker vor dem Regime aufwarteten. Revidiert werden mußte erst recht die Bewertung jener Forschungseinrichtungen, die, oft durch jüngere Histo-riker besetzt oder geleitet, zu aktivistischen Vertretern nationalsozialistischen Gedankenguts wurden. Hier ist vor allem das »Großwissenschaftssystem« der »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« zu nennen, aber auch andere Unternehmungen wie die großen NS-Ausstellungen und die sogenannten »Frontuniversitäten« Straßburg, Prag, Königsberg und Posen, die wohl noch genauerer Untersuchung bedürfen. Nicht zuletzt gilt dies für das »Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums«[21] und den hinter ihm stehenden Apparat. Dessen Funktion war es, den Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte und seine Dominanzansprüche in Mittel- und Osteuropa zu legitimieren. Die Zahl dieser willigen Helfer ging in die Tausende.
Heute kennen wir die Quellenbelege, denen zufolge eine größere als bisher bekannte Zahl von Historikern sich dem Nationalsozialismus angedient hat. Es sind dieselben Quellen, die belegen, daß längst nicht nur »wildgewordene Studienräte oder Außenseiter« (Hans Rothfels) [22] oder auch nur junge Parteimitglieder zu diesem Kreis zählten. Der Kreis erstreckt sich - dies ist der zentrale Befund - vielmehr selbst auf jene, die als die »Gründerväter« der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft gelten. Selbst sie haben in verschiedener, im Endergebnis jedoch unleugbarer Weise mitgeholfen, die Diskriminierung der Juden, die Legitimation des Führerstaates und die nationalsozialistischen Forderungen einer Volksboden- und Großraumpolitik »wissenschaftlich« zu untermauern. Das gilt gewiß nicht für sämtliche der jüngeren Historiker. Aber selbst unter denjenigen, die bislang eindeutig als Gegner des Nationalsozialismus galten, treffen wir etwa auf die Person Karl Dietrich Erdmanns, von dem wir inzwischen wissen, daß er sich als Propagandist der Partei betätigte, ein Schulbuch verfaßte, in dem er sich damals wohlfeiler antisemitischer Bemerkungen nicht enthielt und noch im April 1945 für den »Führer« bewundernde Worte fand.[23] Hatte der »Fall Erdmann« bereits das Bedürfnis nach Aussprache geweckt [24], so machten neue Erkenntnisse über die Vertreter der »Volksgeschichte« eine gezielte Auseinandersetzung im Rahmen einer Historikertags-Sektion vollends unausweichlich.
Auf dieser Sektion traten Peter Schöttler, Pierre Racine, Götz Aly, Michael Fahlbusch und Mathias Beer als Referenten auf, während Jürgen Kocka die Aufgabe eines Kommentators übernahm. Für die Buchveröffentlichung sahen sich die Herausgeber gehalten, einige der Repliken aus den Reihen der Zuhörer ausformulieren zu lassen. Daher erscheinen Arnold Esch und Wolfgang Schieder mit ihren knappen Einwürfen ebenso wie Wolfgang J. Mommsen, Hans Mommsen und Hans-Ulrich Wehler, aus deren Stellungnahmen vor dem Auditorium in Frankfurt je ausführlich abwägende Betrachtungen erwachsen sind. Überdies bot die anstehende Publikation Gelegenheit, weitere aktuelle Studien zu berücksichtigen, die geeignet sind, die Diskussion mit neuen Ergebnissen anzureichern, sie um neue Aspekte zu vertiefen: Ausweis dafür, wie sehr der Diskussionsbedarf in dieser Frage anhält und wie vielfältig zugleich die Anstrengungen der Forschung geraten sind, die dieser Band ansatzweise zusammenführt. Die Beiträge von Frank-Rutger Hausmann, Wolfgang Behringer und Ingo Haar sowie von Otto Gerhard Oexle - der es vermied, nur ein pauschales Herausgebervorwort beizusteuern - erforderten es freilich auch, daß man der Gliederung des Sammelbandes eine eigenständige Systematik verlieh.
Die Beiträge dieses Bandes wurden in drei Abschnitten angeordnet, was als Orientierung dienen mag. So wurden an den Anfang diejenigen Aufsätze gestellt, die sich der Rolle der Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus in allgemeiner Zusammenschau widmen, noch nicht mit dem ausschließlichen Blick auf das Fach Geschichte. Hierauf folgen die beiden Komplexe der »historischen Westforschung« und der »Ostforschung« - nach ihnen läßt sich die Mehrzahl der Beiträge subsumieren -, ehe Jürgen Kockas Kommentar wie schon auf dem Frankfurter Sektionspodium die Reihe der Autoren beschließt.
Zur Rolle der Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus
Otto Gerhard Oexles Beitrag stellt die »Fragen der Emigranten« an den Anfang, die nach Kriegsende darüber rätselten, wie ein Geistesleben unter den Bedingungen der Hitler-Diktatur überhaupt habe möglich sein können; es sind die gleichen Fragen, die auch die Nachgeborenen beschäftigen, unsere Fragen. Je weiter sich der Nationalsozialismus zeitlich von der Gegenwart entfernt, desto eher scheinter als Epoche sui generis begreifbar zu werden, als »fremde« Vergangenheit, die sich vorzugsweise mit Ansätzen der Mentalitätengeschichte zu analysieren empfiehlt. Oexle ruft dazu auf, »Dispositionen« und »Haltungen« zu rekonstruieren, wie sie sich etwa am Vorwalten spezifischer Schlüsselbegriffe erweisen lassen. Er erinnert an den Begriff der »Gemeinschaft«, dessen suggestive Kraft das Denken gerade der Gebildeten und Gelehrten in hohem Maße konditionierte.
Dieser »Gemeinschafts«-Gedanke wurde etwa im sogenannten »Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften« der Jahre 1940 bis 1945 augenfällig. Ihn hat der Romanist Frank-Rutger Hausmann untersucht. Dieser bis dahin weitreichendste Zusammenschluß deutscher Wissenschaftler belegt nicht allein, in welch enormem Umfang intellektuelle Schichten im Dritten Reich mobilisierbar waren, oder besser gesagt: sich selbst mobilisierten. Das »Gemeinschaftswerk« diente vielen Gelehrten auch als Schule »moderner« Wissenschaftsorganisation, die sie unter den veränderten politischen Bedingungen nach 1945 zu behaupten wußten. Hausmann stellt fest, daß der rasche Wechsel der politischen Systeme (und herrschenden Ideologien) seit dem Ersten Weltkrieg dem Selbstverständnis jener - vorwiegend ein und derselben Altersgruppe zugehörigen - Geisteswissenschaftler nur wenig anhaben konnte. Die Autonomie der Wissenschaft hielt man am besten in steter Nähe zur Macht gewahrt.
Zur historischen Westforschung
Was für die Geisteswissenschaftler im Dritten Reich im allgemeinen gilt, trifft auf die Historiker im speziellen nicht minder zu. Insbesondere die Domäne der historischen »Westforschung« offenbart, wie deren Vertreter sich zu organisieren verstanden, »Netzwerke« schufen, die über Zusammenbruch und Neubeginn hinaus funktionstüchtig blieben. Peter Schöttler stellt hierfür das Beispiel der rheinischen Landesgeschichte vor, die seit dem Versailler Friedensvertrag die Revision der deutschen Westgrenze propagierte, dabei nicht nur die Gebietsverluste von 1918/19 bestritt, sondern ebenso manche der Kriegsziele des Kaiserreichs gedanklich am Leben erhielt. In Franz Petri oder Franz Steinbach fand Hitler jedenfalls Befürworter der Annexion Walloniens und weiter Teile Nordfrankreichs, nicht unähnlich den Begehrlichkeiten der Alldeutschen bei Kriegsausbruch 1914. Waren im Ersten Weltkrieg aber noch industriepolitische und militärstrategische Kriterien maßgeblich, so gaben nun solche Ansprüche den Ausschlag, die Historiker wie Steinbach und Petri aus der Sprachgeschichte und den anthropologischen Gegebenheiten herleiten wollten. Schöttler sieht hierin Landesgeschichte und nazistische »Volksgeschichte« in einem symbiotischen Verhältnis. Aber auch nach 1945 habe die Westforschung ihren Einfluß behalten, aus der »Westdeutschen Forschungsgemeinschaft« wurde ein »Arbeitskreis für westdeutsche Landes- und Volksforschung«, der seit den fünfziger Jahren nicht länger im Zeichen von Revisionismus oder Expansionismus stand, sich dafür einer »europäischen Zusammenarbeit« verschrieb. Entscheidend ist nach Schöttler zweierlei: der Umstand einer deutlichen »Kompatibilität« der Raum- und Volkstumstheorien mit der Eroberungs- und Rassepolitik des Führerstaates - von den Genannten kaum problematisiert und höchst selten eingestanden; daneben die Beobachtung, wonach die rheinische Landeshistorie mit Ende des Dritten Reiches einzig ihr Vokabular wechselte, nicht jedoch von ihrer überlieferten Methodik Abstand nahm. Sofern dieser Sprachwandel nur Anpassung bedeutete, darf an der Bereitschaft zur Verantwortung bei Charakteren wie Petri oder Steinbach gezweifelt werden. Ferner aber ist zu fragen, ob ein nur äußerlich revidierter Verständigungszusammenhang nicht geeignet war, einen Kreis von »Initiierten« zu beschreiben, darin ein wissenschaftliches Arkanum zu bewahren und über alle Wechselfälle aufrechtzuerhalten. Wolfgang Behringer stellt ebensolche Vermutungen an, dargetan an der detailreichen Studie über den Agrarhistoriker Günther Franz, dessen wissenschaftliches Itinerar von Marburg über Rostock und Heidelberg nach Jena, 1940-44 gar an die »Reichsuniversität« Straßburg führte. Mit der Person Günther Franz', der erst spät nach Kriegsende wieder eine Professur erhielt, verbinden sich auch die Gruppierungen mancher »Habenichtse« der frühen Bundesrepublik, die sich unter dem Dach der »Ranke-Gesellschaft« und von Verlagen wie der Darmstädter Wissenschaftlichen Buchgesellschaft zusammenfanden. Behringers Anliegen ist es, die Fäden, die Günther Franz als »politischer Historiker« zumal innerhalb der SS-Hierarchie knüpfte, auf einer Linie mit seinen wissenschaftlich-programmatischen Vorstellungen zu sehen. Den politischen Netzwerken habe ein gelehrter Diskurs korrespondiert, der sich sowohl vor als auch nach 1945 sprachliche Zügel anlegte, jedoch für die eingeweihten Gesinnungsgenossen erkennbar niemals von einer völkischen, zumindest stark rechtslastigen Doktrin abwich.
Hermann Heimpel war wie Günther Franz als Geschichtsprofessor an der »Reichsuniversität« Straßburg tätig, und auch er trat als Anhänger der historischen Westforschung auf, insofern er die Geschichte Westeuropas seit den fränkischen Reichsbildungen so umdeutete, wie es den Zielen deutscher Hegemonialpolitik entsprach. Pierre Racine, selbst Mediävist in Straßburg, der an einer Geschichte der Philosophischen Fakultät dieser Universität arbeitet, sieht Heimpels Rolle als Exponenten deutscher Geschichtswissenschaft im Dritten Reich als durchaus ambivalent. Aus seinen Werken, aus Stellungnahmen von Zeitzeugen wie im speziellen aus seinem Briefwechsel mit dem Gründungsdekan Ernst Anrich während der Jahre 1940/41 ergibt sich ein differenziertes Bild mit allerlei Grautönen. An Heimpel, dem begnadeten Dozenten und Wissenschaftler, ist dessen stupende Gelehrsamkeit zu rühmen, ebenso, daß er persönlich stets gedankliche wie fachliche Integrität wahren wollte. Dennoch hat sein Werk die nationalsozialistische Eroberungspolitik wirksam unterstützt. Erst nachträglich hat er sein Versagen eingestanden. Für Arnold Esch ist dies wiederum Anlaß, sich dagegen zu verwahren, daß der Name Heimpels in Verbindung mit anderen Historikern gebracht werde, die keinerlei Reue zeigten, keine Verantwortung übernehmen wollten.
Zur historischen Ostforschung
Volkstums- und Kulturraumforschung in expansionistischer Absicht findet sich auch im Bereich der historischen Ostforschung wieder, wenngleich in viel größerem Maßstab und mit einer noch verheerenderen Radikalität ihrer Folgen. Der Holocaust, so Götz Aly, sei das Ergebnis eines Zusammenwirkens lauter einzelner »Tatbeiträge« in Intention und Vollzug, jeder für sich von schwer zu messender und doch nicht leugbarer Relevanz. Der Genozid an den europäischen Juden sei die schreckliche Konsequenz einer ins Totale übersteigerten Politik gewesen, in der Volksgruppen und deren historische Angestammtheit zu Objekten unbarmherzig gewaltsamer Verfügbarkeit herabgezwungen wurden; eine Politik, die in Begriffen von »Umvolkung« und »Entjudung« dachte, ganz so, wie etliche Historiker ausweislich ihres Schrifttums dies taten. Es sind Eingaben an die Exekutive oder aber wissenschaftliche Abhandlungen, die das Entfernen gewachsener Zivilisation empfahlen, sich für die Vertreibung europäischer Nachbarvölker stark machten. Es waren Historiker wie Werner Conze und Theodor Schieder, die dafür als Verfasser zeichneten.
In den folgenden Beiträgen von Wolfgang J. Mommsen, Ingo Haar, Michael Fahlbusch, Hans Mommsen und Mathias Beer gewinnt das Milieu der historischen Ostforschung der dreißiger, vierziger und notabene auch der fünfziger Jahre an Kontur.
In seiner Studie zum »Volkstumskampf« der deutschen Ostforschung skizziert Wolfgang J. Mommsen den Habitus der Gelehrten um Albert Brackmann, Hermann Aubin, Hans Rothfels, Theodor Schieder oder auch Theodor Oberländer als von jungkonservativen, antiparlamentarischen, zumal bündischen Ideen geprägt. Diese Historiker und Geographen waren dem völkischen Credo der Nationalsozialisten anfangs durchaus abhold. Desto näher standen sie dem extremen, dogmatischen Revisionismus der äußersten Rechten. Dieser Revisionismus zielte beileibe nicht nur auf die Wiederherstellung der Grenzen des Kaiserreichs ab. Toto coelo verwarf man die Pariser Friedensordnung, hielt dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker und dem westlichen Modell der Staatsnation die grundlegende Antithese vom »Volks- und Kulturraum« entgegen und formulierte demgemäß Ansprüche auf Gebiete weit jenseits der Grenzen von 1914. Die Kriegsniederlage, so hat es den Anschein, galt hier lediglich als retardierendes Moment, ehe erneut eine völlige Umgestaltung »Zwischeneuropas« vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer an die Reihe kommen sollte. Mit gespenstischer Folgerichtigkeit scheinen sich die Kriegsziele des kaiserlichen Deutschlands für den Osten, die Friedensbestimmungen von Brest-Litowsk (1918) und schließlich die Programme jener unbeirrbaren politischen »Volkstumsforschung« aneinanderzufügen. Nachdem man am Hitler-Regime den erwünschten politischen Rückhalt gefunden hatte, ging die historische Ostforschung schon nach dem Polenfeldzug dazu über, selbst die Deportationspläne der Reichsleitung zu unterstützen. Die ideelle Distanz, die die Volkstumsforscher von der eigentlichen Rassenpolitik des Nationalsozialismus trennte, wurde nun restlos preisgegeben, um - so schildert Wolfgang Mommsen - nicht den Anschluß an die Machthaber zu verlieren. Man unterwarf sich den Imperativen der Kriegs- und Besatzungspolitik, nahm mit den lange erwarteten Eroberungen nun auch die massiven »völkischen Flurbereinigungen« hin, versuchte gar, sie »wissenschaftlich« zu qualifizieren. Der »Volkstumskampf« der historischen Ostforschung hatte in der Weimarer Zeit den Aufstieg des Nationalsozialismus mit befördert, hatte den kruden antiwestlichen und antipolnischen Stimmungen akademische Weihe verliehen, und wurde zuletzt in seinem Streben nach deutscher Vorherrschaft in Osteuropa von der noch radikaleren Germanisierungspolitik des NS überholt und mitgerissen.
Der Beitrag von Ingo Haar lenkt den Blick zurück auf die »Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung«, die seit 1926 dem Auswärtigen Amt und dem Reichsinnenministerium Rechenschaft über die Situation der deutschen Minderheiten in Osteuropa ablegte. Was sich über ihre Auflösung 1931 hinaus erhielt, war der erwähnte territoriale Revisionismus der Historiker und Geographen, der in der Ära Stresemann noch hintangehalten bleiben mußte. Unter den Auspizien einer aggressiven »Lebensraumpolitik« fiel es dann um so leichter, »völkische« Geschichte zu propagieren, die den traditionellen bürgerlich-nationalen Staatsbegriff hinter sich ließ, um einer rassisch definierten Gesellschaftsutopie das Wort zu reden. Ingo Haar beobachtet im Aufstieg der Königsberger Geschichtswissenschaft (der Gruppe junger, hochbegabter Historiker um Hans Rothfels, der allerdings seiner jüdischen Abstammung wegen emigrieren mußte) den Paradigmenwechsel zu einer »Volksgeschichte«, die nach den Maßgaben »kämpfender Wissenschaft« (Walter Frank) den Historikern auch ein politisches Aktions- und Experimentierfeld versprach. In Teilen der deutschen Geschichtswissenschaft hatte man die Kategorie des »Volkes« als gedanklichen Fixpunkt gewählt; dieser bot Ersatz für das zeitgenössisch erschütterte Leitbild des »Staates«, mochte gar als dessen überlegene konzeptionelle Alternative erscheinen. Mit der Kategorie des »Volkes« wurde, je offensiver und unbedingter man ihre Geschichtsmächtigkeit betonte, zugleich jedoch ein politisches Telos kreiert, das jeden nationalen Rahmen zu sprengen drohte. Aus der »politischen Volksgeschichte« ließen sich eben nicht allein Identität und Selbstbehauptung schöpfen, sie goß ebenso-gut Öl ins Feuer imperialistischer Vorstellungen, von ihrem Umkippen in chauvinistisches und antisemitisches Ressentiment ganz zu schweigen. - Ihre institutionelle Heimstatt fanden die Königsberger Volkshistoriker dann ab Ende 1933 in der »Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft« (NOFG). Komplementär dazu die »Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft« (SODFG, seit 1931), eine Großforschungsorganisation auch sie. Mit ihr unterhielten, dies zeichnet Michael Fahlbusch nach, deutsche und österreichische, selbst Schweizer Geschichtswissenschaftler, Germanisten, Geographen, Volkskundler und Archäologen eine länderübergreifende Kooperation ihrer Fächer zum Zwecke politischer »Volkstumsforschung«. Der propagandistisch vorbereitete Anschluß Österreichs 1938 sowie die Gutachtertätigkeit für Wehrmacht und Besatzungsbehörden auf dem Balkan sah diese Volkstumsforschung im Einsatz.
Jede dieser »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften«, die mit reichen, immer reicheren staatlichen Alimenten bedacht wurden, gilt als »Denkschule« oder »Brain-Trust«, ihr Personal als »Funktionselite« angewandter Forschung zur Begleitung einer Politik auf hochambitioniertem, bald kriegerischem Kurs. Zugleich wird jedoch vermerkt, man habe das Wechselverhältnis von Politik und Wissenschaft nirgends eindeutig reflektiert, geschweige denn systematisiert. Deutet sich hier etwas von jener mutmaßlichen »Ideologieresistenz« respektive »inneren Ideologiedurchtränktheit« (Hausmann) an, einer Genügsamkeit, die die Wissenschaft nach etwaiger Systemnähe oder Systemkonformität gar nicht erst fragen ließ? Muß man aus Sicht der Gelehrten nicht eher von geistig-konzeptionellen Wahlverwandtschaften, gar von Zweckbündnissen ausgehen, selbst unter den Bedingungen einer totalitären Diktatur? Noch deutlicher läßt sich Hans Mommsen dazu vernehmen. Er hebt hervor, daß das Verhalten der deutschen Ostforschung im Dritten Reich das ganze Ausmaß der zeitgenössischen Krise der Geschichtswissenschaft offenbare: geschichtlich gewachsene Strukturen galten nicht länger als sakrosankt, sondern verleiteten zu Vorstellungen von ihrer eigenmächtigen Gestaltbarkeit - gleichgültig, um welchen Preis. Ein solcher Gestus dürfe nach Hans Mommsen nicht länger nur als »affin« zum NS begriffen werden. Er sei wesentlich typisch, insofern er hart an den Kern »nationalsozialistischer Mentalität« heranreiche.
Was bleibt, ist der Eindruck einer wohlkalkulierten, selbstgewählten Nähe der Historie zur Staatsmacht. Dieser Eindruck setzt sich fort in Hinsicht auf den weiteren Gang der Ostforschung, die in der Vertriebenenforschung nach 1945 ihre Meriten erwarb. Mathias Beer stellt das Forschungsprojekt der »Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa« vor, das in den Jahren 1951-1961 ins Werk gesetzt wurde. Als wissenschaftlicher Leiter dieses Unternehmens begegnet uns erneut Theodor Schieder. Dessen Kompetenz als Volksgeschichtler wies ihn dafür aus, eine umfassende Expertise der Umsiedlungen zu erstellen, die nunmehr den Deutschen östlich Oder und Neiße wie auch außerhalb des Reichsgebiets widerfahren waren. Sowohl Schieder als auch anderen Vertretern des Königsberger Kreises, die man in das Projekt aufnahm, mochte mit dieser Arbeit ein stückweit das eigene gedankliche Fehlverhalten von vordem zu Bewußtsein kommen. Denn immerhin lief die Planung eines Schlußbandes der »Dokumentation« darauf hinaus, in einer Gesamtinterpretation den Zusammenhang zwischen Hitlers Ostpolitik (mitsamt dem Völkermord an den Juden) und der Vertreibung der Deutschen aufzuzeigen. Die Bundesregierung verweigerte diesem Vorhaben bis zuletzt die Zustimmung. Ihr hätte das Unternehmen als Farbbuch zur Anfechtung der alliierten Deportationspraxis dienen sollen, nicht jedoch zur Historisierung europäischer Vertreibungspolitik. Die volksgeschichtliche Forschung hatte die längste Zeit hindurch den revisionistischen Zielen der deutschen Politik entsprochen, nun tat sie es nicht mehr. Der Gleichtakt von Revisions- bzw. Eroberungspolitik und Volksgeschichte war zum Anachronismus geworden, er hinterließ eine geschichtstheoretische Aporie: diejenige der praktischen Unvereinbarkeit der »Zeitgeschichten« vor und nach 1945.
Die Gebrochenheit im Werk und Verhalten der Zeitzeugen verweist zurück auf die individuell-biographische Dimension, namentlich diejenige Theodor Schieders und Werner Conzes. Wolfgang Schieder - des einen Sohn, des anderen Assistent in Heidelberg - bestätigt, daß beide zu einer Stellungnahme über ihre persönliche Vergangenheit nicht willens oder fähig waren. Immerhin legten beide während ihrer Tätigkeit als Hochschullehrer später eine vorbildhafte geistige Liberalität an den Tag. Anstelle offener Selbstkritik also wenigstens ein »beredtes Schweigen«. Oder doch noch mehr als das?
Hans-Ulrich Wehler, der in Frankfurt den Einwand erhob, besagte Historiker könnten angesichts ihres verdienstvollen Wirkens nach dem Kriege schlechterdings nicht für allezeit als »braun kontaminiert« gelten, hat zu dieser Problematik Ende des vorigen Jahres einen stark beachteten Vortrag vor dem Wissenschaftskolleg zu Berlin gehalten. Der vorliegende Essay führt diese Gedanken fort, die auch deshalb besondere Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, weil Wehler als Schüler Theodor Schieders zum unmittelbaren Kreis der »Betroffenen« gehört. Auch zählt er zweifelsohne zu jenen Historikern, die vermutetes wissenschaftliches und politisches Fehlverhalten anderer Fachvertreter bis dato deutlich anzusprechen pflegten. Er hebt hervor, es gebe Indizien für eine »reflexive Lernbereitschaft« bei Schieder: seine Studien zur vergleichenden Nationalismusforschung, die Initiative zum »Handbuch der europäischen Geschichte« (anhand dessen die nationalstaatliche Perspektive zumindest konterkariert werden sollte), in erster Linie aber sein stetes Bemühen um theoretische Reflexion und Sorgfalt der Begriffsbildung. Ein Lernprozeß im stillen, im Ergebnis jedoch nichtsdestoweniger »schule-bildend«. Bei Werner Conze wiederum war es die Hinwendung von genuin bäuerlich-agrargeschichtlichen Themen zum Leitbegriff der »industriellen Welt«, die Wehler zufolge als redliche Neuorientierung zu verstehen ist. Ein solches gewissenhaftes Umdenken fand durchaus nicht bei allen ehemaligen »Volkshistorikern« statt - zumal Otto Brunner wird davon ausgenommen. Wehler unterläßt es auch nicht, den Vergleich mit der Haltung gegenüber ehemaligen DDR-Historikern anzustrengen. Dürfe man etwa den regimetreuen Wissenschaftlern des SED-Staates die Fähigkeit absprechen, ihre Anschauungen zu korrigieren?
Somit ist man bei einer Bestandsaufnahme der Gegenwart angelangt. Die Geschichte der Bundesrepublik, so der kommentierende Beitrag von Jürgen Kocka, sei ein weiteres Mal mit der Tatsache konfrontiert worden, sie gründe auf den Erblasten der nationalsozialistischen Diktatur. Die westdeutsche Geschichtswissenschaft deutete diese Kontinuität in ihrer Vielgestalt herkömmlich als »deutschen Sonderweg«. Kocka bestätigt aus seiner Sicht, es sei die Historische Sozialwissenschaft gewesen, die das »Sonderwegs«-Theorem als Erklärungsmuster forciert habe, um das eigene programmatische Profil davon abzuheben, zugleich es zu schärfen. Die Kritik an fehlgeleiteten Traditionen in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik lief allerdings auf den Entwurf einer überpersonalen, nachgerade anonymen »Struktur« des Versagens, einer säkularen »Konstellation« des Mißlingens deutscher Nationalstaatlichkeit hinaus, welche Art der Interpretation jedoch immer weniger Stich hält. Daher sei es an der Zeit, so räumt Kocka ein, daß die weitere Aufklärung auf biographische Forschungen setze.
Es entspricht keineswegs einer vorgeblichen »Dramaturgie«, schon gar keiner »Tendenz«, wenn die Beiträge von Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka, die zweifellos in mancher Hinsicht um Verständnis für die gefallenen »Väter« werben, am Ende des Bandes stehen. Diese Anordnung bot sich vielmehr an, um mit Überlegungen zu schließen, wie den vorliegenden Ergebnissen künftig analytisch entsprochen werden könne. Hingegen schon eine Bilanz dieser Diskussion anzustreben hieße, diese vorzeitig (womöglich weit vor der Zeit) abschnüren zu wollen. Kocka bleibt nur, die großen, noch klaffenden Desiderate einer Aufarbeitung anheimzustellen und dafür warnende Hinweise auszusprechen. Nicht als salomonisches Schlußwort war sein Beitrag gedacht, sondern als Kommentar. Dabei bleibt es.
Im folgenden sollen einige zentrale Aspekte, die sich in den vorliegenden Beiträgen auf die eine oder andere Weise wiederfinden lassen, querschnittartig herauspräpariert werden. Vor allem geht es darum, die Kontroverse gleichsam »anzumoderieren«. Das meint, Fragen - mitunter in weiterführender Perspektive - an den Leser heranzutragen, Standpunkte zu benennen und Deutungen vorzuschlagen.
Der Zeitpunkt
Noch immer herrscht der Eindruck, die Geschichtswissenschaft setze sich mit ihrer eigenen NS-Vergangenheit auffallend spät auseinander. Dieser Eindruck läßt sich - wie gezeigt - durchaus anfechten, ganz von der Hand weisen läßt er sich nicht. Schließlich gibt es Standpunkte in der Debatte, die desto eher von sträflichen Versäumnissen der Aufarbeitung sprechen wollen, je schwerwiegender ihre Befunde sind. Warum wird jetzt erst revidiert, was doch so dringend nach Revision verlangte? Die verschiedenen Erklärungsansätze hierfür sind nebeneinanderzustellen, sollen abgewogen werden und mögen zeigen, wie komplex und wichtig die Frage nach dem Zeitpunkt ist.
Die Frage nach dem »Warum erst jetzt?« wird wohl am häufigsten mit der Beobachtung eines Generationenwechsels beantwortet. Das Diktum von den »schuldigen Vätern, milden Söhnen und strengen Enkeln« ist griffig und unmittelbar plausibel: Erst eine dritte Generation hat den nötigen Abstand zur ersten und stellt Fragen, die aus lebensweltlichen Gründen zuvor nicht gestellt wurden - so die Interpretation. Doch erklärt die Vorstellung von den »jungen Wilden«, den »Enkeln«, angemessen, daß zuvor eine Debatte nicht stattfand? Und: Was meint die Vorstellung von der »Milde« der »Söhne«? Ist damit allein das Loyalitätsbedürfnis des Schülers gegenüber seinem respektierten Lehrer gemeint oder schon der selektive und strategische Umgang mit der Vergangenheit des »Ziehvaters«, den man - um der eigenen Karriere willen - schützt, und sei es durch Vertuschung? Gerade weil ein solcher, gleichsam anthropologischer Erklärungsrahmen verschiedenste Deutungsmöglichkeiten zuläßt, ist er so attraktiv und doch problematisch zugleich.
Ganz zweifellos können wir in jüngster Zeit von einer neuen Sensibilität im Umgang mit dem Holocaust sprechen. Trotz veritabler Anstrengungen der Geschichtswissenschaft, den Holocaust aufzuarbeiten, war es möglich, die Öffentlichkeit mit einem neuen Zugang zur Thematik zu überraschen, wie es Steven Spielberg mit seinem Film »Schindlers Liste« gelang. Wie weit sich die deutsche Geschichtswissenschaft von ihrem Publikum entfernt hatte, wurde sinnfällig im »Goldhagen-Schock«. Doch ist es nicht allein der konzedierte Nachholbedarf in der Vermittlung von Erkenntnissen, der das neue Engagement begründet, sondern vor allem auch die neuen Fragen, die gestellt werden: Der Holocaust wurde zwar immer als das zu Erklärende, nicht aber als das zu Beschreibende betrachtet. Bei der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus können wir heute beobachten, daß sich die Forschung von einer allgemeinen, theoretischen Untersuchung (»Wie konnte 1933 die Machtergreifung stattfinden?«) hin zu einer personenbezogenen verlagert hat. In zunehmendem Maße nimmt die Forschung das Umschlagen der Diktatur in ein System der Massenvernichtung in den Blick. Diesen Perspektivwechsel müssen wir vor Augen haben, wenn wir unsere Debatte kontextualisieren: Unverkennbar ist, wie das Fragen nach der Beteiligung von Historikern an den Verbrechen des Dritten Reiches in seiner Insistenz von dieser neuen Sensibilität beflügelt wird.
Neben dieser weitreichenden Neuakzentuierung im Forschungsinteresse wird die professionelle Geschichtswissenschaft konfrontiert mit einer bemerkenswerten Debattenvielfalt um die NS-Vergangenheit. Mit wachsendem Abstand zur »deutschen Katastrophe« verstärkt sich deren Präsenz im öffentlichen Bewußtsein. Die Geschichtswissenschaft kommt kaum noch nach, die unterschiedlichen Formen der Erinnerung zu begleiten und diese - sind sie allzu selektiv - zu korrigieren. Einerseits wird die Beschäftigung mit den deutschen Historikern im Nationalsozialismus durch eben diesen Kontext befruchtet, andererseits birgt der augenblickliche »Debattentaumel« Gefahren für das historische Arbeiten. War der Verdacht einer möglichen Instrumentalisierung von Vergangenheit, wie ihn Martin Walser in seiner Friedenspreisrede äußerte, noch Auslöser und Gegenstand wiederum einer weiteren Debatte, so schien aber eine verbreitete Legitimations-Rhetorik während des Kosovo-Krieges genau diesen Verdacht zu bestätigen. Gerade weil die Debatte über unser eigenes Fach in diesem Kontext stattfindet, muß die Geschichtswissenschaft von der Ambivalenz ausgehen, die zwischen Aufgeschlossenheit für und Vereinnahmung durch das Thema besteht.
Um ferner zu verstehen, warum die Debatte »eben jetzt« stattfindet, ist schließlich der Blick auf die binnenfachliche Situation der Geschichtswissenschaft notwendig. Der Hinweis auf eine nunmehr veränderte Archivlage, welche eine seriöse Diskussion um die NS-Vergangenheit von Historikern erst habe ankurbeln können, ist - bei aller Evidenz (Ostarchive haben mittlerweile die Pforten geöffnet, sukzessive werden weitere Nachlässe zugänglich) - nicht in allen Fällen eine hinlängliche Erklärung für die späte Aufarbeitung. Es trifft zu, daß zentrale Quellen bereits seit längerem zugänglich, jedoch noch nicht gesichtet waren. Man fragt sich, warum. Die Behauptung, das Material sei prinzipiell unzugänglich gewesen, war dabei ebenso vorschnell wie die Kritik polemisch war, in diesem Hinweis nur Irreführung oder Apologie zu sehen.
Läßt sich die Debatte um die Historiker im Nationalsozialismus vielleicht auch an einen Forschungszweig anbinden, der in den letzten Jahren eine auffällige Konjunktur erlebt hat? Gemeint ist der Bereich der »Wissenschafts-, Unternehmens- und Institutionengeschichte«. Aus ihm gingen Darstellungen der Geschichte großer Konzerne zumal während des Nationalsozialismus hervor: Deutsche Bank, Volkswagenwerk, demnächst die Allianz Versicherung. Gleiches gilt für Studien über das wissenschaftspolitische Stiftungs- und Förderwesen wie die Geschichte des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in absehbarer Zeit auch der Max-Planck-Gesellschaft. Fruchtbar werden hier mittlerweile Personen- und Institutionengeschichtsschreibung, Netzwerkanalyse und Mentalitätsgeschichte von Funktionseliten integriert. Wir dürfen mit Fug von einer neuen Qualität dieser Forschungszweige sprechen. Gibt es Verbindungen zwischen diesen mit veränderten Methoden operierenden Subdisziplinen und der gegenwärtigen Diskussion? Möglicherweise können die Untersuchungen zur historischen Forschung während der Hitler-Diktatur unter diesem Blickwinkel als kongenial für jene Erträge gelten, die durch sie umgekehrt neuen Anstoß erfahren.[25]
Ein weiterer binnenfachlicher Aspekt. Auffällig ist die Koinzidenz einer allgemeinen Krise der Historischen Sozialwissenschaft mit den Angriffen auf die Wurzeln der deutschen Sozialgeschichte. Haben wir eine Erklärung für den mutmaßlichen Zusammenprall beider Phänomene? Gibt es einen Zusammenhang? Unzweifelhaft beansprucht die »moderne Kulturgeschichtsschreibung« seit geraumer Zeit eine Vorrangstellung unter den geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Bedürfte es für diese Beobachtung eines Beweises, so ließe sich auf die Bemühungen einer besorgten Historischen Sozialwissenschaft deuten, die die »Herausforderung« der Kulturgeschichte offensiv zu bewältigen sucht.[26] Mehr und mehr wird deutlich, daß Fragen, die heute gestellt werden, sich mit dem methodischen Inventar der Sozialgeschichte nicht beantworten lassen: Können wir bei den umstrittenen NS-Historikern von »Vordenkern der Vernichtung« sprechen? Was ist ein »Vordenker«? Welche analytischen Kategorien stehen uns zur Verfügung, um das Verhältnis von Geist und Macht, von Sagbarem und Machbarem, von Idee und Wirkung zu bestimmen? Statt der Beschreibung von Ideologien sollten »Dispositionen« (Oexle) analysiert werden, um jenes Phänomen zu erklären, das man als »Politikberatung« bezeichnen könnte. Daß die Vertreter der Sozialgeschichte neuerdings zu hermeneutischen Methoden Zuflucht nehmen, wenn es um die Vergangenheit der »Volksgeschichte« geht, ist von den Kritikern mehrfach verwundert, ja spöttisch bemerkt worden, waren es doch gerade sie, welche den Wert dieser Verfahren bisher geringschätzten.[27] Doch führt eine solche Polemik in der Sache letztlich nicht weiter. Womit auch die Kritiker (noch) nicht aufwarten können, ist eine moderne Ideengeschichte, die gewappnet ist für die Komplexität der zu beantwortenden Fragen. Es ist bezeichnend, daß die Frage nach der realhistorischen Wirksamkeit damaliger Geschichtsforschung, die Jürgen Kocka auf dem Frankfurter Historikertag stellte, spontan emotionale Empörung hervorrief. Bezeichnend deshalb, weil die Frage zu stellen offensichtlich im Publikum zu der Annahme führte, er, Kocka, bestreite eine politische Relevanz und wolle damit die Verantwortung des Historikers kleinreden. Dabei kann an dem Phänomen von Relevanz gar nicht gezweifelt werden, wenn man prinzipiell von einem systemischen Zusammenspiel gesellschaftlicher Faktoren ausgeht. (Hätte man dies bedacht, so wären die scharfen Reaktionen in einem überhitzten Frankfurter Auditorium wohl unterblieben.) Vielmehr zeichnet sich als Desiderat ab zu beschreiben, wie dieses Zusammenspiel von historischer Forschung (bzw. intellektueller Äußerungen allgemein) und politischer Realität funktioniert hat. So läßt sich die Frage, ob die Debatte um die NS-Vergangenheit der Historiker in einer Beziehung steht zu methodischen und theoretischen Neuordnungen, mit vorsichtiger Zustimmung beantworten.
Das Erkenntnisinteresse am Wesen des Nationalsozialismus
Die vorgestellten Befunde in diesem Band treten teils in erheblichen Widerspruch zur sogenannten »Polykratie-Theorie«, der Annahme einer weitgehend ungesteuerten Dynamik der nationalsozialistischen Herrschaft. Die zahlreichen Fälle, in denen damalige Großforschung durch die Planungsbürokratie des NS zuverlässig und wirkungsvoll koordiniert wurde, sprechen eher für einen einheitlichen politischen Willen. Hier lag kein nur behelfsmäßiges Orchestrieren eilfertiger Aktivisten vor; die Indizien empfehlen es, von einer weit rationaleren Steuerung, Motivation und Pflege der geistigen Ressourcen auszugehen. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus aber für das Verhältnis des Regimes zu den ihm dienstbaren geistigen Eliten? Bedarf die Rollenverteilung von Machthabern und Ideengebern, von Befehlshabern und Sekundanten, politischer Führung und ideeller Leitung nicht einer nachhaltigen Korrektur, wenn sich der Staatsapparat und sein Organisationsgrad weitaus höherentwickelt ausnehmen als bislang?
Deutsche Geschichtswissenschaft in jener Zeit stellt sich jedenfalls nicht länger nur als »Legitimationswissenschaft« dar[28], sie erscheint mehr noch als initiative, hochgradig politisierte, tonangebende, zuletzt als im Wortsinne »kämpfende« Wissenschaft. Weiterführend muß daher die Frage gestellt werden, ob es sich lediglich um eine größere Nähe einiger Gelehrter zu den Machthabern des Nationalsozialismus handelt; oder ob nicht gar jenes Einvernehmen von »Macht« und »Geist« im Dritten Reich als konstitutiv zu gelten hat. Nach Götz Aly »[...] entstand die extrem zerstörerische Potenz des NS-Staats aus der hohen Integrations- und Mobilisierungsfähigkeit der unterschiedlichsten sozialen Gruppen, Generationen, geistigen Strömungen und Temperamente«, was die »Tatbeiträge« von Geschichtswissenschaftlern mit einschließt. Hans Mommsens beherzter und mit allerhand Beifall bedachter Zuruf auf dem Historikertag, man solle angesichts der ausgebreiteten Befunde nicht länger nur von »Affinität« zum Nationalsozialismus sprechen, dies SEI der Nationalsozialismus, hat in diesem Zusammenhang einen ebenso pointierten wie nachdenkenswerten Anstoß geliefert. Trifft es zu, daß die »völkische Geschichtswissenschaft« nur die Machtphantasien der Reichsleitung bediente, ohne sie auch selbst zu generieren? Ist es vorstellbar, daß das Dritte Reich eine einzige, grauzonenhafte Peripherie geistiger Kollaboration um sich herum anlagerte, ohne daß nicht auch einige der bürgerlichen Gelehrten mitten in diesem Machtgefüge operierten? Haben die besagten Wissenschaftler das nationalsozialistische Deutschland auf seinem »Sonderweg« tatsächlich nur begleitet, oder ihm diesen Weg nicht auch vorgeleuchtet? Das oben erwähnte Diktum vom »geschichtlichen Rüstzeug« läßt es jedenfalls offen, ob sich die betreffenden Historiker entweder einem Herrschaftssystem andienen wollten, das bereits voll ausgereift war, oder ob sie es nicht auch maßgeblich mit- und ausgestalteten. Hierbei ginge es auch darum, dem intellektuellen Profil des NS-Herrschaftssystems deutlichere, authentischere Züge abzugewinnen. Solche Züge nämlich, die hinter dem namenlosen Terror und der entfesselten Barbarei des Regimes dessen »rationales Supplement«[29], seine doktrinäre Basis oder gar einen originären ideellen Kern zum Vorschein brächten - wider die Annahme, der Nationalsozialismus stellte nur ein Konglomerat ideologischer Anleihen dar. Erst nach einer Klärung dieser Fragen sollte eine Typologie möglich sein, die zwischen »Vordenkern«, Tätern und Mitläufern, zwischen passiven Regimekonformen und opportunistischen Nachäffern, zwischen Verführten und Verführern, »willigen Vollstreckern« oder Verzagten unter den Historikern angemessene Unterscheidung trifft.[30]
Das Interpretament einer »reflexiven Lernbereitschaft«
Bislang fand eine intensive Auseinandersetzung um die Frage statt, wie weit die Kontinuität zwischen »Volksgeschichte«, »Strukturgeschichte« und moderner Sozialgeschichte in Deutschland reicht.[31] Hier ging es um Wissenschaft als kollektives Phänomen, um die Rolle von Traditionen, Institutionen, Leistungen, um die Bedeutung von Paradigmen und ihren Wechsel. Neuerdings kreist der Streit jedoch auch um den Habitus einzelner Gelehrter. So wird etwa »Modernität« vorzugsweise nicht mehr allein auf dem Feld abstrakter Theorie und deren Selbsteinschätzung [32]entweder geltend gemacht oder bestritten [33]; »Modernität« oder Innovationsvermögen wird nunmehr zum individuell-subjektiven Untersuchungsmaßstab, wenn um die Aufgeschlossenheit, Lernbereitschaft, die Fähigkeit zur Reflexion und zur Neuorientierung mancher Wissenschaftler debattiert wird. Diese Entwicklung ist in mindestens zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Einerseits gelingt es der Sozialgeschichte, das Kriterium der »Modernisierungsbereitschaft« sowohl theoretisch als nun auch personell-empirisch mit ihrem Ansatz zu verquicken, andererseits wird die Notwendigkeit deutlich, die Frage nach der Leistungsfähigkeit biographischer Ansätze erneut zu stellen. Hierüber wird trefflich gestritten. Die derzeitige Konjunktur der Biographie hängt u.a. mit der Einsicht zusammen, daß die Geschichtswissenschaft eine »Bringschuld gegenüber der Gesellschaft« (Johannes Fried) [34] hat. Man erwartet von ihr solche literarischen Formen, mit denen Erkenntnisse narrativ vermittelt werden können. [35] Während also auf der einen Seite die Biographie als natürlicher Zugang bezeichnet wird, betonen die Kritiker die Grenzen eines biographischen Zugriffs. Die Biographie tauge allenfalls dazu, »dissoziative Phänomene der Persönlichkeitsstruktur aufzuzeigen« und verbinde sich rasch mit einer »apologetischen Historisierung«, die »sich zur Schadensbegrenzung des Erinnerns« entwickle (Michael Fahlbusch).[36]
Wenn nun Hans-Ulrich Wehler mit einiger Plausibilität seinem Lehrer Theodor Schieder »reflexive Lernbereitschaft« attestiert und bei ihm »Lernschritte« nachvollzieht, so ist dieses zentrale Argument auch vor dem Hintergrund jener Kontroverse um die Möglichkeiten der Biographie zu sehen. Die Kritik neigt dabei sehr schnell dazu, das Vertrauen auf »Lernbereitschaft« als aufklärerische Illusion abzutun, was aber eher deutlich macht, daß es analytischer Kategorien ermangelt, mit denen solche »Lernprozesse« exakt nachvollziehbar würden. Ganz abgesehen von der besonderen Aktualität der Formen von Vergangenheitsbewältigung, wie sie etwa bei ehemaligen Stasi-Mitarbeitern zu beobachten sind, findet sich das Phänomen »biographischer Brüche« durch lebensweltliche Umbrüche in der deut-schen Geschichte spätestens seit dem Zusammenbruch des Alten Reiches zu Beginn des 19. Jahrhunderts und bedarf der historischen Aufarbeitung. Doch reicht es nicht aus, auf die methodischen Desiderate, die sich mit der Argumentation von der »reflexiven Lernbereitschaft« verbinden, hinzuweisen. Die Brisanz dieser Auseinandersetzung liegt in der prinzipiell divergierenden Bewertung von Kontinuität und Diskontinuität der wissenschaftlichen Projekte im Übergang von der Diktatur zur Demokratie, auf die weiter oben bereits hingewiesen wurde. Sind die Deutschen sich in diesem Jahrhundert ähnlicher geblieben, als sie glauben - wie beispielsweise Götz Aly vermutet? Ist der bisherige Versuch der Deutschen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, eher »Selbstbetrug« als »Bewältigung«? Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit von Historikern fügt sich damit in die Debatte um eine vermeintlich fatale Kontinuität im Umbruch von einem politischen System ins andere, denn - so die These - gerade in dem zentralen Bereich von Wissenschaft und Forschung wurden ehrgeizige Projekte auf den Weg gebracht. »Fortschrittsglaube« und »Machbarkeitswahn« seien keineswegs urplötzlich über die Deutschen hereingebrochen, so wenig wie sie im Mai 1945 über Nacht wieder verschwunden wären. Die eigentliche »Elite« dieser zwölf Jahre - so wird betont - waren jene, die auf Rationalität, Modernität und Fortschritt setzten. Ohne selbst ideologisiert zusein, setzten sie gleichsam Ideologie in Gutachten, Vorlagen und Richtlinien um. Hinter diese Feststellung kann heute keine Diskussion mehr zurück. Die Erkenntnis, wie menschenverachtend jene Gründerväter der Sozialgeschichte während des NS gewirkt haben, ist ein »schmerzender Befund«, und er belastet das Fach. Doch ist es wenig angemessen, dieses Stigma zu verabsolutieren, die Tradition deutscher Sozialgeschichte mit ihren frühen Verfehlungen gleichzusetzen. Was sich bei Aly noch als historiographische Korrektur ausnimmt, gerät anderen zum Verdikt dauernder Kontamination der Disziplin; dieser meint Aufarbeitung, manche dagegen Abrechnung. Kontinuität und Diskontinuität nach 1945 treffen in der Debatte dezidiert aufeinander, und wenn diese Positionen mitunter sehr leidenschaftlich vertreten werden, so spielt hier die bedrückende Erkenntnis eine Rolle, daß die betroffenen Historiker die Aufarbeitung der eigenen Geschichte unterließen. Wie soll man »Lernschritte« konstatieren, wenn nachweislich das Bekenntnis zur eigenen Schuld ausgeblieben ist?
Womöglich kann man sich dieser wichtigen Frage nur in großen Bögen, in Mutmaßungen nähern. Gab es außerwissenschaftliche Faktoren, die die individuelle Aufarbeitung hemmten? Welche Bedingungen waren für solche »Lernprozesse« förderlich oder abträglich?
An erster Stelle hat hier die Urerfahrung von 1918 zu stehen. Wohl keine der in den Beiträgen vorgestellten Biographien wurde nicht konfrontiert mit jener fälschlich empfundenen, aber ernsthaft geglaubten Demütigung der Nation durch ein vorschnell herbeigeführtes Kriegsende, einen zutiefst ungerecht anmutenden Friedensschluß sowie dessen noch ungerechtere Folgelasten.[37] Das »kollektive Gedächtnis« pflanzte so etwas wie den »Komplex von Versailles« fort, und die ideell ständig präsente Zäsur von 1918 ist für die deutsche Gelehrtenwelt fraglos weit prägender gewesen als der »Zivilisationsbruch« (Dan Diner), der mit der Machtergreifung 1933 seinen Anfang nahm. Für manche der Historiker mag der Komplex von Versailles bis zuletzt tiefer verwurzelt geblieben sein, als die Wahrnehmung von Auschwitz es je hätte werden können. Aber selbst wenn ein Umdenken von der lange gepflegten, hartnäckig erinnerten »Opfer«-Tradition zur Anerkennung einer Mittäterschaft stattgefunden hat [38], so hieß das ja auch, eine doppelte Niederlage, das Verschulden der beiden größten Katastrophen der Gegenwart einzugestehen. Das Schweigen, über das wir befremdet sind und das zu Zweifeln an der Aufrichtigkeit mancher Gestalten Anlaß gibt, ist vielleicht ein durch das »kollektive Gedächtnis« erzwungenes Verstummen. Es war Hermann Lübbe, der bereits Anfang der achtziger Jahre Mutmaßungen über diese Verhaltensweise anstellte: »So lange man aus Gründen, die man sich selbst zurechnen muß, sich vollständig niedergeworfen findet, ist die Vergangenheit mit der Gegenwart ihrer Folgen bruchlos eins. Erhebt man sich aber aus dem Zusammenbruch und gewinnt allmählich Stand und Anerkennung zurück, so beginnt man zugleich, in Differenz zu sich selbst zu existieren, und die Vergangenheit wird zum eigentlichen Moment der Schwäche im wiedergewonnenen Stande. Nicht die zerschmetterte, sondern die in eine neue Zukunft entlassene Identität hat eine diskreditierte Vergangenheit hinter sich, von der sie eingeholt werden könnte, und es ist unvermeidbar, daß sich nun gewisse Unsicherheiten darüber verbreiten, wie man sich, in Reden und Schweigen wann und wem gegenüber, in eine angemessene Beziehung zu ihr setzen könne.« [39]
So sehr dieser Gedankengang für sich einnimmt, so sehr muß er jedoch offenlassen, warum unter vielen Historikern keine Bereitschaft selbst zu nachträglicher, nachholender Distanzierung erkennbar ist - dann nämlich, als der Erfolg der zweiten deutschen Republik (der sich in vollem Einvernehmen mit der Historikerschaft jener Generation des Wiederaufbaus vollzog) allenthalben zu »Stand und Anerkennung« verholfen hatte. Die überwiegende Mehrzahl beschwieg das einstige Fehlverhalten auf Dauer, nur wenige wußten wie Hermann Heimpel ihre Gewissenslast zu artikulieren. Oder wurde die »Generation der Sachlichkeit«, die sich nach dem Krieg bald in gesicherten Verhältnissen wiederfand, etwa gar nicht von solchen Selbstzweifeln umgetrieben? [40]
Neben der These vom »kommunikativen Beschweigen« [41] - die auch angesichts gezielter Täuschungsversuche wie im Fall Schneider/Schwerte nicht unproblematisch ist -, sollte ein weiterer Aspekt bedacht werden, wenn wir uns vergegenwärtigen, warum Schuld - sofern sie denn Lernprozesse auslöste - nicht öffentlich bekannt wurde: Es darf nicht vergessen werden, daß etwa Theodor Schieders Engagement im Dritten Reich Gegenstand beständiger Attacken von seiten der DDR-Staatsführung war. Man mag daher bedenken, ob es nicht als strikt untunlich gelten mußte, die Vergangenheit führender bundesdeutscher Historiker im Zeichen der Konkurrenz der Systeme und des Ost-West-Gegensatzes aufzurollen. Dies mochte sich zumal verbieten, solange die Protestbewegung seit den späten sechziger Jahren ihre Anfeindungen gegen das Establishment mehr und mehr überzog, sich in ihrer Kritik gar zu einer »Delegitimierung des politischen Systems der Bundesrepublik« [42] verstieg. Rigorose Schuldbekenntnisse, so stand da zu befürchten, hätten den Eliten womöglich einen erheblichen Autoritäts- und Substanzverlust nach außen wie im Innern zugemutet. Die Debatte wäre unwillkürlich Teil eines hochpolitischen Konfliktes geworden, hätte eher einen Skandal provoziert, schwerlich dagegen einen Prozeß seriöser Selbstprüfung in Gang gebracht. Skepsis ist angebracht gegenüber der Vermutung, daß wissenschaftliche Besonnenheit und Fairneß hierbei die Oberhand behalten hätten. Ein sachgemäßer Dialog unter damals noch lebenden, zumal auf der Höhe ihrer Karriere befindlichen Personen hätte wenig Bestand gehabt in der Atmosphäre einer überempfindlichen, weil um Identität ringenden Streitwut, wie sie sich im Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre noch einmal massiv entladen hat.
Geschichtswissenschaft und Politik
Die hier versammelten Forschungsarbeiten kreisen - mit jeweils unterschiedlichem Akzent - um die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Macht im 20. Jahrhundert. Obschon dieses Unternehmen noch am Anfang steht, fokussiert die Debatte um die intellektuelle Anbiederung wichtiger Historiker an den Nationalsozialismus bereits das zentrale Problem: Was ist Politikberatung? Wie funktionierte während des Dritten Reiches das Zusammenspiel von geschichtswissenschaftlicher Forschung und politischer Nachfrage? Gab es diese Nachfrage überhaupt? War historische Forschung im Kern autonom oder hatte die Disziplin ihre Seele verkauft?
Eine provokante Antwort auf diese Fragen liefert Heinz-Dieter Kittsteiner. Dieser argwöhnt, die Geschichtswissenschaft befände sich - damals wie heute - in der »Beraterfalle«, weil sie sich jedergeschichtsphilosophischen Selbstvergewisserung enthalte. Dieses »Theoriedefizit« der Disziplin berge die Gefahr prinzipieller Manipulierbarkeit, gar Verführbarkeit. So sei insbesondere die Anlehnung an die nationalsozialistische Politik nicht aus blankem Opportunismus geschehen; eher schon aus einem spezifischen »Sicherheitsbedürfnis«, der Scheu vor selbständiger Theoriebildung mit der notwendigen Folge einer Hingabe an politische Ideologien überhaupt. [43]
Hiergegen sind Bedenken angezeigt. Es erscheint voreilig, eine moralische Güte theoretischer Reflexion anzunehmen, die allein schon die Autonomie einer integren Wissenschaft garantiere. Muß reflektierte Wissenschaft immer zu einem »besseren Menschen« ausbilden? Wie, wenn man sich auch bei stattgehabter Reflexion der Hitler-Diktatur angedient hätte?
In den vorliegenden Beiträgen wird festgestellt, wie sehr gerade die Geschichtswissenschaft in jener Zeit eine »drängende« Wissenschaft war. Derart ungeduldig formulierte der Mediävist Hermann Aubin gegenüber Albert Brackmann 1939: »Die Wissenschaft kann nicht einfach warten, bis sie gefragt wird, sie muß sich selber zum Worte melden.« [44] Man frönte dem Ethos eines »Dienstes am Volksganzen«, wollte »anwendbare« Erträge liefern und entwickelte dabei eine Kreativität, die bald alle moralischen Hemmungen verlor. Dabei geht es hier nicht um die Frage nach einer zweifelsfreien Kausalität, die die Verbrechen der Machthaber zu Folgen jenes pervertierten Eifers der Gelehrten erklärt, wie es das »Vordenker«-Konzept nahelegt - ein Ansatz, der wohl einer überkommenen Vorstellung von Ideengeschichte verhaftet bleibt, die in linearer Abfolge Intention und Durchführung aneinanderreiht. Es geht um das Phänomen, daß die Historiker offensichtlich keinerlei Mutmaßungen angestellt haben, wie ihr Verhältnis zur Politik beschaffen sei oder auszusehen habe. Es ist eben jene Malaise der Quellenlage, die auch die Rekonstruktion späterer »Lernprozesse« so anfechtbar macht. Dieselbe Lückenhaftigkeit, angesichts derer Jürgen Kocka mit einigem Recht und durchaus nicht in apologetischer Absicht fragen muß, ob die »Entjudungs«-Empfehlungen der Historiker WIRK-lich, soll heißen: wirksam, am Anfang der Vernichtungspolitik stehen.
Anstatt im Sinne einer voraussetzungslosen Wissenschaft, die ohne ein ethisches Apriori auskommt und nur sagt, was die Politik hören will, können das Fehlen von Reflexion und die Konformität mit dem Herrschaftsapparat auch ganz im Gegenteil gedeutet werden. Frank-Rutger Hausmann spricht von mutmaßlicher »Ideologiedurchtränktheit« der Geisteswissenschaften in ihrem Innern. Und Otto Gerhard Oexle will den Streit um die geistige Verantwortung auf die Suche nach »Dispositionen« hinlenken, bei denen man eher fündig werde. Demnach hätte es einer Reflexion etwa über die Hinwendung vieler junger Historiker zur Volksgeschichte vielleicht gar nicht bedurft. Als eine solche Disposition, als gleichsam »freischwebendes« Gedankengut, als Grundbefindlichkeit einer in Unordnung geratenen Lebenswelt habe man sich reflexartig (und eben nicht reflektiert) die Idee von der Geschichtsmächtigkeit alles »Volkhaften« zu eigen gemacht. Und während die Volkshistoriker darüber ihr eigenes Instrumentarium entwickelten, ihre eigene Begrifflichkeit definierten und ihren eigenen politischen Visionen nachhingen, geriet zur kritischen Masse, was man vom »wissenschaftlichen Volkstumskampf« für den Staatsapparat verabreichte, um in dessen Gunst zu bleiben. Es ist die Annahme einer verinnerlichten geistigen Autonomie, über die man nicht zu räsonieren brauchte und die so lange unangetastet blieb, wie man den Machthabern gezielt zuarbeitete. Dieser Gedanke setzt ein Mindestmaß an geistiger Überlegenheit der Wissenschaft gegenüber der Politik voraus. Die Verantwortung der Historiker wöge hiernach um nichts leichter als im Falle eines »Vordenkens« oder einer systematischen Beratung der NS-Politik. Diese Historiker hätten es sehenden Auges und mit berechnender Entschlossenheit zugelassen, daß der Nationalsozialismus zu ähnlichen Ideen und Zielen gelangte, ihnen fehlte mehr der Wille als das Bewußtsein, dieser Konvergenz und Kooperation rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Die Geschichtswissenschaft trat nicht in ein ohnmächtiges Dienstverhältnis, ein Rest von Eigenverantwortung und gedanklicher Unabhängigkeit blieb bestehen. Man erkennt Spuren einer reservatio mentalis, eines teilweisen Dissenses zwischen Wissenschaft und Politik im Dritten Reich. Aber gleich, ob man nun darüber reflektiert hätte oder nicht, fest steht, daß dieser Dissens nicht zu Widerspruch noch zur Verweigerung Anlaß gab.
Überdies sagt die Nähe von Wissenschaft zur Politik ja noch nichts über ihre Qualität aus. Auch die Historische Sozialwissenschaft entsprach ihrer Zeit. Sie lieferte in den sechziger bis achtziger Jahren ein Theorieangebot zu vielen der zeitgenössischen gesellschaftlichen Bedingungen, Erwartungen und Probleme. In Zeiten einer schein-bar festgeschriebenen deutschen Teilung redete sie der Postnationalität das Wort und erinnerte an die nationale Katastrophe eines »deutschen Sonderweges«; nach »Handlungsspielräumen« in der Geschichte zu fragen [45] war angesichts der Blockbildung des Kalten Krieges wie auch zunehmender Zwangslagen einer hochtechnisier-ten Industriegesellschaft nicht ohne Belang; die virtuos geübte Ideologiekritik, die der »kritischen Geschichtswissenschaft« als Handlungsmaxime diente [46], das Aufbegehren gegen überlieferte Werte, Instanzen und Orthodoxien, mag mit der Absicht zusammenhängen, Formen zivilen Ungehorsams und staatsbürgerlicher Selbstbestimmung entweder analysierend zu erfassen oder pädagogisch anzuleiten; die Betonung aller Arten gesellschaftlicher Gegensätze, Konflikte und Schieflagen in historischer Perspektive lieferte teils das geschichtliche Äquivalent für die Gegenwart einer anwachsenden Streitkultur, teils unterstützte sie das Credo von der Sozialen Marktwirtschaft, teils schließlich mag man dahinter einen Reflex auf die Wahrnehmung globaler Verteilungskämpfe und die Emanzipationsbewegungen der nachkolonialen Welt vermuten; der Versuch gar, Prozesse und (Grund-)Begriffe als strukturelle, überzeitliche Entitäten auszuweisen [47], wurde wohl nicht zuletzt von dem Willen getragen, eine »Einheit der Geschichte« zurückzugewinnen, das Projekt der Moderne für historisch angemessen zu erklären. [48] Je dichter sich die moderne Sozialgeschichte am Puls der Zeit wähnte und je überzeugter sie von der Redlichkeit ihres Tuns war, desto streitbarer mochte sie daher auch die Errungenschaft ihrer privilegierten Stellung verteidigen. Die deutsche Sozialgeschichte hat über vieles theoretisch reflektiert. Aber gerade jene Übereinstimmung mit dem Horizont der gesellschaftlich-politischen Elite, seine Konditionen und Möglichkeiten, ließ sie in ihren Überlegungen lange Zeit unberücksichtigt.
Als dann die friedliche Revolution von 1989/90 mit der Abwahl des SED-Regimes und der deutschen Wiedervereinigung an ihr Ziel gelangte, hat man von einem »deutschen Sonderweg« nichts mehr wissen wollen. Umgekehrt haben ja die Vertreter der Sonderwegs-Theorie die Chance zur Neukonstitution eines deutschen Nationalstaates kaum für möglich, erst recht nicht für wünschbar gehalten. Über die »halkyonischen Tage«, in denen die Gesellschaft und ihre »Verhältnisse« nur in Utopien fortgedacht wurden, brach nun jedoch die Dämmerung herein. Das geeinte Deutschland wurde bare Wirklichkeit, so wie ein geeintes, freies Europa im Begriff steht, Wirklichkeit zu werden. Beides ist vornehmlich das Ergebnis von »Entscheidungen«, des Einsatzes einzelner »Persönlichkeiten«, auch der glücklichen Konjunktion von Zufällen. Einen Primat der »Strukturen« macht hier kaum noch jemand geltend. Und man kann nachvollziehen, daß die heutigen Fragen nach den handgreiflichen Fehlern einzelner, nach dem Scheitern, den Irrtümern oder Versäumnissen der Handelnden in Politik und Wissenschaft von einst dem Bemühen entgegenkommen, eine sichere, friedvolle Zukunft in Eigenverantwortung zu gestalten. Vor dem Hintergrund dieses Wandels regen sich erste Bemühungen um eine Historisierung der Sozialgeschichte im gesellschaftlich-politischen Gefüge der Bundesrepublik.[49] Was dieses exkursartige Beispiel zeigen kann: anscheinend ist Reflexion im Sinne von Historisierung nicht denkbar, ohne daß lebensweltliche Alternativen zwingend in Erscheinung treten und ohne einen gewissen zeitlichen Abstand. Unter anderen Voraussetzungen als diesen der Geschichtswissenschaft Selbstreflexion anzutragen, ist zwar wünschenswert, aber leichter gesagt als getan.
Wer sich heute anschickt, die Beiträge einer wissenschaftlichen Tagung zusammenzutragen und diese als vorläufige Bilanz einer noch andauernden Kontroverse zu publizieren, greift nicht notwendigerweise auf das Medium »Buch« zurück. Vor allem im sogenannten STM-Bereich (Science - Technology - Medicine) ist es mittlerweile üblich, das schnellere Medium des elektronischen Publizierens dem konventionellen Printmedium vorzuziehen. Die Vorteile dieser Publikationsvariante liegen auf der Hand. Es sind all jene Merkmale, die sich mit der Medienrevolution und den Möglichkeiten des Internets verbinden: die Unmittelbarkeit und allgemeine Zugänglichkeit von wissenschaftlichen Befunden; die Vernetzung der Beiträge untereinander; die Schnelligkeit des Gedankenaustauschs durch das Aufbrechen der bekannten Publikationskette; die Möglichkeit der Interaktivität von Leser und Autor; sowie das »organische Wachsen« der Texte und die ständige Aktualisierbarkeit der Beiträge durch deren Verfasser. Auch die Geisteswissenschaften sind gehalten, sich über ihr Verhältnis zu den neuen Medien Klarheit zu verschaffen. Der Blick auf einige Besonderheiten unserer Debatte regt an, über alternative Publikationen der Ergebnisse nachzudenken - wohlgemerkt: ohne dabei der Gefahr zu erliegen, die Möglichkeiten des neuen Mediums zu überschätzen.
Das Besondere an den in kurzen Abständen aufeinanderfolgendenden Kolloquien zur Thematik »Historiker im Nationalsozialismus« ist ihre jeweils ähnliche Fragestellung bei jeweils ähnlicher Besetzung.[50] Mit Fortdauer der Kontroverse haben sich die Befunde und gegenseitigen Bezüge mehr und mehr vernetzt. Es stellt sich die Frage, ob herkömmliche Tagungs-Sammelbände noch immer angemessen sind, eine solche Aussprache zu spiegeln. Dabei verfügen wir mit dem Internet über ein dynamisches Medium, welches den Verlauf der Diskussion in ihrer Vernetzung - unter Vermeidung von Redundanz - besser abbilden kann.
Und auch dies: Gemessen an dem hitzigen Historikerstreit vor fünfzehn Jahren, nimmt sich der Stil der Auseinandersetzung weitgehend sachorientiert aus. Um aber einer künftigen Emotionalisierung zu begegnen, empfiehlt es sich, alternative mediale Präsentationen des Themas zu bedenken. Heißt es in Zukunft: schnelles Interagieren statt unnötiger Aufheizung? Tatsächlich gab es erste Ansätze, die Diskussion ins Internet zu verlagern. So veröffentlichte die für deutsche Historiker maßgebliche Mailingliste »H-Soz-u-Kult« (der deutschsprachige Ableger des amerikanischen »Humanities-Network«) in unregelmäßigen Abständen einige dieser Tagungsbeiträge. Ferner haben sich die Betreiber der Berliner Mailingliste um einen Beitrag zur historiographischen Aufarbeitung unserer Zunft bemüht: Interviews von Vertretern der Gesellschafts- und politischen Sozialgeschichte wurden per Mailingliste verteilt und sollten Aufschluß darüber geben, welche Lernprozesse in welchem Maße bei Lehrern wie bei Schülern nach 1945 vom Nationalsozialismus zur Demokratie führten.
Es wird nicht angenommen, daß das neue Medium dem alten überlegen wäre. Aber zu dem alten ist ein neues Medium hinzugetreten. Wenn die Geisteswissenschaften das neue Zusammenspiel, den Medienverbund, künftig aktiv gestalten wollen, sollte das Experiment gewagt werden, Tagungsbände wie diesen im Netz zu veröffentlichen.
1 Johannes Fried, Eröffnungsrede zum 42. Deutschen Historikertag, in: ZfG 46 (1998), S. 869-874.
2 Hedwig Hintze-Guggenheimer, linksliberale Berliner Historikerin, 1933wegen ihrer jüdischen Herkunft aus dem Lehrbetrieb entlassen, nahm sich 1942 im holländischen Exil das Leben. Vgl. Bernd Faulenbach, Hedwig Hintze-Guggenheimer (1884-1942). Historikerin der Französischen Revolution und republikanische Publizistin, in: Barbara Hahn (Hrsg.), Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt, München 1994,S. 136-151.
3 Der Verband der Historiker Deutschlands hat diesen Förderpreis für ausgezeichnete Dissertationen mit 5000 DM dotiert. Bereits 1995 hatte Götz Aly dem VHD vorgehalten, dieser habe sich noch immer nicht zur Mitschuld deutscher Historiker am Völkermord der Nationalsozialisten bekannt oder dafür entschuldigt (»Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995, S. 17, Anm. 12). Peter Schöttler nahm dies zum Anlaß, für einen Preis des Verbandes zu werben, der nach Siegmund Hellmann oder Hedwig Hintze zu benennen sei; siehe ders., Deutsche Historiker im Nationalsozialismus - 10 Thesen, in: WerkstattGeschichte 17 (1997), S. 93-97, hier S. 97.
4 Vgl. Winfried Schulze, Doppelte Entnazifizierung. Geisteswissenschaften nach 1945, in: Helmut König/Wolfgang Kuhlmann/Klaus Schwabe (Hrsg.), Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 257-286 und 342-348.
5 Siehe etwa den Fall des Marburger Neuzeithistorikers Wilhelm Mommsen. Dazu zuletzt Anne Christine Nagel, »Der Prototyp der Leute, die man entfernen soll, ist Mommsen.« Entnazifizierung in der Provinz oder die Ambiguität moralischer Gewißheit, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 10 (1998),S. 55-91.
6 Vgl. etwa Gerhard Ritter, Die Fälschung des deutschen Geschichtsbildes im Hitlerreich, in: Deutsche Rundschau 70 (1947), Heft 4, S. 11-20, und ders., Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft. Eröffnungsvortrag des 20. Deutschen Historikertages in München am 12. September 1949, in: HZ 170 (1950), S. 1-22.
7 Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: HZ 236 (1983), S. 579-599, hier S. 587; zuvor bereits ders., Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart, in: Martin Broszat/Ulrich Dübber/Walther Hofer u.a. (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude zu Berlin, Berlin o.J. [1983], S. 329-349.
8 Manfred Asendorf, Was weiter wirkt. Die »Ranke-Gesellschaft - Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben«, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 4 (1998), Heft 4, S. 29-61.
9 Dazu Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 69-100.
10 Es fällt auf, daß relativ ungehindert einseitige Verteidigungsschriften publiziert werden konnten. Niemand hatte offensichtlich in diesen Jahren ein ausgeprägtes Interesse daran, den Dingen näher auf den Grund zu gehen. Vgl. dazu Adolf Helbok, Erinnerungen. Ein lebenslanges Ringen um volksnahe Geschichtsforschung, hrsg. von Fritz Ranzi und Margit Gröhsl, Innsbruck 1963.
11 Werner Conze, Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945. Bedingungen und Ergebnisse, in: HZ 225 (1977), S. 1-28, hier S. 11.
12 Ders., Der Weg zur Sozialgeschichte nach 1945, in: Christoph Schneider (Hrsg.), Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Beispiele, Kritik, Vorschläge, Weinheim/Deerfield Beach, Florida/Basel 1983, S. 73-81, hier S. 73.
13 Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Karl Ferdinand Werner, Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967.
14 Wolfgang Fritz Haug, Der hilflose Antifaschismus. Zur Kritik der Vorlesungsreihen über Wissenschaft und Nationalsozialismus an deutschen Universitäten, Frankfurt am Main 1967.
15 Siehe Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 46-76, bes. S. 46f.
16 Hier nur folgende Titel: Michael Burleigh, Germany turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988; Mechthild Rössler, »Wissenschaft und Lebensraum«. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Berlin/Hamburg 1990; Angelika Ebbinghaus/Karl Heinz Roth, Vorläufer des »Generalplans Ost«. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999, 7 (1992), Heft 1, S. 62-94; Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main/New York 1992; Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; Michael Fahlbusch, »Wo der deutsche ... ist, ist Deutschland!« Die Stiftung für Deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920-1933, Bochum 1994; Aly, »Endlösung«; Martin Kröger/Roland Thimme, Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann. Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik. Mit einem Vorwort von Winfried Schulze, München 1996; Ursula Wolf, Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996; Eduard Mühle, Ostforschung. Beobachtungen zu Aufstieg und Niedergang eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: ZfO 46 (1997), S. 317-350; Peter Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt am Main 1997; Götz Aly, Macht - Geist - Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997; ders., »Daß uns Blut zu Gold werde«. Theodor Schieder, Propagandist des Dritten Reichs, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1998, S. 13-27; Ursula Wiggershaus-Müller, Nationalsozialismus und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte der Historischen Zeitschrift und des Historischen Jahrbuchs von 1933-1945, Hamburg 1998; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« von 1931-1945, Baden-Baden 1999.
17 Als Beispiele einer sehr viel breiteren Forschung seien genannt: Peter Chroust, Gießener Universität und Faschismus. Studenten und Hochschullehrer 1918-1945, 2 Bde., Münster/New York 1994; Eckart Krause/Ludwig Huber/Holger Fischer (Hrsg.), Hochschulalltag im »Dritten Reich«. Die Hamburger Universität 1933-1945, 3 Teile, Berlin/Hamburg 1991; Cornelia Wegeler, »... wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik«. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921-1962, Köln/Weimar/Wien 1996; dies./Heinrich Becker/Hans-Joachim Dahms (Hrsg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, 2., erweiterte Ausg. München 1998; Eike Wolgast, Die Universität Heidelberg in der Zeit des Nationalsozialismus, in: ZGO 135 (1987), S. 359-406; Leopoldina-Symposion: Die Elite der Nation im Dritten Reich - Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftlichen Umfeld zum Nationalsozialismus, Halle 1995; Frank-Rutger Hausmann, »Deutsche Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940-1945), Dresden/München 1998. Siehe seinen Beitrag in diesem Band.
18 Diese Sektion war überschrieben: »Deutsche Ostforschung - Ihre Bilder und Vorstellungen von der Geschichte des polnischen Nachbarn (1918-1989)«. Die Referate erschienen in ZfO 46 (1997); siehe Mühle, Ostforschung, sowie die Beiträge von Norbert Kersken, Michael G. Müller, Hans Henning Hahn, Wlodzimierz Borodziej und Walter Schlesinger. Zur Ostforschung weiterführend nach wie vor: Christoph Kleßmann, Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik im Dritten Reich, in: Peter Lundgreen (Hrsg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1985, S. 350-382; Burleigh, Germany turns Eastwards; Gabriele Camphausen, Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich 1933-1945, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1990; Klaus Zernack, »Deutschland und der Osten« als Problem der historischen Forschung in Berlin, in: Reimer Hansen/Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen, Berlin/New York 1992 (dort S. 585f., Anm. 44 die in Polen und der DDR geleistete Forschung); Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Das Rußlandbild im Dritten Reich, Köln/Weimar/Wien 1994, sowie ders., Von Johannes Haller zu Reinhard Wittram. Deutschbaltische Historiker und der Nationalsozialismus, in: ZfG 45 (1997), S. 21-46.
19 Zur Forschung über Otto Brunners Werk: Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt am Main/New York 1996; ders., Otto Brunner - »Konkrete Ordnung« und Sprache der Zeit, in: Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung, S. 166-203 (mit weiterer Literatur unter Anm. 6, S. 187f.); demnächst Reinhard Blänkner, Von der »Staatsbildung« zur »Volkswerdung«. Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Alteuropa oder Frühe Moderne? Deutungsmuster aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik für das 16.-18. Jahrhundert in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Berlin 1999.
20 Zitiert nach Peter Schöttler, Einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hrsg.), Geschichtsschreibung, S. 7-30, hier S. 8.
21 Hierzu zuletzt Willi Oberkrome, Geschichte, Volk und Theorie. Das Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, in: Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung, S. 104-127.
22 Hans Rothfels, Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren, in: Andreas Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen. Mit einem Nachwort von Hermann Diem, Tübingen 1965, S. 90-107, hier S. 99.
23 Erdmann »verkündete« noch am 24. April 1945, Hitler habe den »Tod des Soldaten« gesucht, damit bleibe der »untilgbare Anspruch Deutschlands auf Leben und Ehre gewahrt«. (Zitiert nach Martin Kröger, Der Historiker als Mitläufer. Karl Dietrich Erdmann im »Dritten Reich«, in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte 41 (1997), S. 95-110, hier S. 105.
24 Kröger/Thimme, Geschichtsbilder; dies., Karl Dietrich Erdmann: Utopien und Realitäten. Die Kontroverse, in: ZfG 46 (1998), S. 603-621; Kröger, Historiker als Mitläufer. Vgl. auch die kritische Auseinandersetzung mit Krögers und Thimmes Buch in GWU 48 (1997), namentlich die Bemerkungen von Eberhard Jäckel (S. 224-226) und Agnes Blänsdorf (S. 227-240), ferner die Erwiderung auf beide durch Kröger und Thimme, ebenda, S. 462-478.
25 Dies mag einmal mehr belegen, daß der Aufarbeitungsschub nicht von den Medien erzwungen wurde, sondern aus der Entwicklung des Faches heraus zu verstehen ist. Die Institutionalisierungsprozesse in den modernen histori-schen Wissenschaften geraten mehr und mehr in das Blickfeld. Siehe dazu Anm. 17 und Gerald Diesener/Matthias Middell, Institutionalisierungsprozesse in den modernen historischen Wissenschaften, in: Comparativ 6 (1996), Heft 5/6, S. 7-20. Forschungsarbeiten zur Geschichte der historischen Verbände bleiben ein Desiderat, deren Verhältnis zum Nationalsozialismus offenbart erst recht Forschungsdefizite. Siehe Gerd Helm, Verband der Historiker Deutschlands (VHD), in: Vademekum der Geschichtswissenschaften, 3. Ausg. 1998/1999, Stuttgart 1998, S. 45-50, hier S. 47.
26 Siehe beispielsweise Thomas Mergel/Thomas Welskopp, Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, u.a. mit einem Kommentar von Hans-Ulrich Wehler, S. 351-366; auch ders., Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998.
27 Siehe Peter Schöttlers Beitrag in diesem Band, dort Anm. 14: »[...] Daß aber ausgerechnet gestandene Sozialhistoriker in solchen Zusammenhängen autobiographisch argumentieren und um Verständnis für ihre Lehrer werben, hat etwas Gespenstisches.« Die Kritiker deuten vor allem das Verhalten des Bielefelder Emeritus Wehler und seines Berliner Weggefährten Kocka als »Rückzugsgefechte« und implizieren damit eine »Krise« (oder Agonie?) der Sozialgeschichtsschreibung.
28 »Unter Legitimationswissenschaft wird [...] ein akademischer Diskurs verstanden, der die generelle Bereitschaft erzeugt, staatliche Entscheidungen, die inhaltlich noch unbestimmt sind, innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen bzw. zu verteidigen«, Schöttler, Einleitende Bemerkungen, S. 21, Anm. 2.
29 Ebenda, S. 17.
30 In diesem Zusammenhang ist auf das Forschungsvorhaben zu verweisen, ein Kompendium der Geisteswissenschaften, deren Netzwerke, Institutionen, Gremien, Projekte bis hin zu Einzelporträts während des Dritten Reiches anzulegen.
31 Siehe im einzelnen: Ernst Schulin, Zur Restauration und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in: ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, S. 133-143; Gerhard A. Ritter, Die neuere Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Sozialgeschichte im internationalen Überblick. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung, Darmstadt 1989, S. 19-88; Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 281-301; Klaus Schreiner, Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters nach 1945. Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Mittelalterforschung im geteilten Deutschland, in: Ernst Schulin (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1965), München 1989, S. 87-146; Hartmut Lehmann/James van Horn Melton (Hrsg.), Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge 1994; Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt am Main 1993 (darin der Abschnitt »Kontinuität, Innovation und Reflexion im späten Historismus: Theodor Schieder«, S. 357-397; vgl. dazu die kritische Einschätzung von Ingo Haar in vorliegendem Band); Oberkrome, Volksgeschichte; Thomas Mergel, Kulturgeschichte - die neue »große Erzählung«? Wissenssoziologische Bemerkungen zur Konzeptualisierung sozialer Wirklichkeit in der Geschichtswissenschaft, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996,S. 41-77; zuletzt: Thomas Welskopp, Westbindung auf dem »Sonderweg«. Die deutsche Sozialgeschichte vom Appendix der Wirtschaftsgeschichte zur Historischen Sozialwissenschaft, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 5: Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, Frankfurt am Main 1999, S. 191-237.
32 Vgl. die von Jörn Rüsen entworfene »Historik« oder die Vorstellung Horst Walter Blankes von einer »disziplinären Matrix«. Dazu Welskopp, Westbindung auf dem »Sonderweg«, S. 191-194.
33 Oberkrome, Volksgeschichte; ders., Historiker im »Dritten Reich«. Zum Stellenwert volkshistorischer Ansätze zwischen klassischer Politik- und neuerer Sozialgeschichte, in: GWU 50 (1999), S. 74-98; dagegen Schöttler, Einleitende Bemerkungen, S. 17-19, mit weiteren Literaturangaben.
34 Johannes Fried, in: Die Welt. Ein Sonderdruck zum 42. Deutschen Historikertag Frankfurt am Main 1998, S. 1.
35 Die Historiker - nicht die Literaturwissenschaftler - stiegen als erste über den Zaun jener Vorbehalte. Lothar Gall setzte mit seinem »Bismarck« neue Maßstäbe, ebenso Christian Meier mit dem Porträt Cäsars. Aus dem Bereich der Zeitgeschichte zuletzt: Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, Bonn 1996; Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868-1934. Eine Biographie, München 1998. Ferner bereitet Karsten Jedlitschka eine Münchner Dissertation über den Historiker Ulrich Crämer vor.
36 Michael Fahlbusch, Die Tragödie der Sozial- und Zeitgeschichte: Wer in die braunen Fußstapfen seiner Vorgänger tritt, hinterläßt keine eigenen Spuren, in: H-Soz-u-Kult vom 11. März 1999. Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Kommentar, gehalten auf dem Berliner Kolloquium »Historiker und Nationalsozialismus« der Heinrich-Böll-Stiftung am 5. März 1999.
37 Vgl. dazu Gideon Reuveni, Geschichtsdiskurs und Krisenbewußtsein: Deutsche Historiographie nach dem Ersten Weltkrieg, in: TAJB 25 (1996),S. 155-186; Ernst Schulin, Weltkriegserfahrung und Historikerreaktion, in: ders./Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen (Hrsg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880-1945, Frankfurt am Main 1997, S. 165-188; Ingo Haar, »Revisionistische« Historiker und Jugendbewegung: Das Königsberger Beispiel, in: Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung, S. 52-103.
38 Winfried Schulze, Der Neubeginn der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. Einsichten und Absichtserklärungen der Historiker nach der Katastrophe, in: Schulin (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 1-37.
39 Lübbe, Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, S. 589.
40 Ulrich Herbert, »Generation der Sachlichkeit«. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in: Frank Bajohr/Werner Johe/Uwe Lohalm (Hrsg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlef Peukert zum Gedächtnis, Hamburg 1991,S. 115-144.
41 Während Hannah Arendt den Deutschen Moralverlust und fortdauernde Verlogenheit attestierte, hat es für die Berliner Politologin Gesine Schwan nach 1945 zweifellos einen Mentalitätenwandel gegeben. Das »kommunikativeBeschweigen« habe aber Folgelasten nach sich gezogen, die bis heute die Herausbildung von »demokratischer Persönlichkeit« in Deutschland erschwerten. Siehe Gesine Schwan, Politik und Schuld. Die zerstörerische Kraft des Schweigens, Frankfurt am Main 1997.
42 Lübbe, Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, S. 596.
43 Jürgen Kaube, In der Beraterfalle. Viel Volk, wenig Begriff: Was deutschen Historikern lag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. März 1999, S. 49.
44 Schreiben Hermann Aubins an Albert Brackmann vom 18. 9. 1939, abgedruckt in: Ebbinghaus/Roth, Vorläufer des »Generalplans Ost«, S. 78f., das ZitatS. 79.
45 Rudolf Vierhaus, Handlungsspielräume. Zur Rekonstruktion historischer Prozesse, in: HZ 237 (1983), S. 289-309.
46 Welskopp, Westbindung auf dem »Sonderweg«, S. 194-197.
47 Reinhart Koselleck, Einleitung zu: ders./Otto Brunner/Werner Conze (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, Stuttgart 1972; ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Peter Christian Ludz (Hrsg.), Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme, Opladen 1972, S. 116-131; Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff - Entwicklungen - Probleme, 2., erweiterte Aufl. Göttingen 1986.
48 Dazu Winfried Schulze, Ende der Moderne? Zur Korrektur unseres Begriffs der Moderne aus historischer Sicht, in: Hans Maier (Hrsg.), Zur Diagnose der Moderne, München 1990, S. 55-83.
49 Dazu vorerst Thomas Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: GG 24 (1998), S. 173-198; ders., Westbindung auf dem »Sonderweg«.
50 Seitdem im Sommer 1997 Jürgen Kocka die NS-Vergangenheit von Historikern in der »Berliner Arbeitsstelle für vergleichende Gesellschaftsgeschichte« zum Gegenstand einer Tagung gemacht hatte, gab es verschiedene Folgekonferenzen, die sich mit der Thematik beschäftigten. Dem Historikertag im Herbst 1998 in Frankfurt am Main folgte dann die Berliner Tagung vom März 1999.Hier veranstaltete die Heinrich-Böll-Stiftung gemeinsam mit der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder) ein Kolloquium zum Thema »Historiker und Nationalsozialismus« und setzte damit die Introspektion der historischen Zunft fort. Ebenfalls im März widmete sich die Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus im Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Berlin) der Aufarbeitung ihrer Institution. Auch dort ging man in verschiedenen Varianten der Frage nach, in welcher Form deutsche Akademiker dem Nationalsozialismus gedankliche Vorarbeit geleistet haben.
Schulze, Winfried - Helm, Gerd - Ott, Thomas: Deutsche Historiker im
Nationalsozialismus. Beobachtungen und Überlegungen zu einer Debatte,
in: Schulze, Winfried - Oexle, Otto Gerhard (Hgg.): Deutsche Historiker im
Nationalsozialismus. Unter Mitarbeit von Gerd Helm und Thomas Ott, Frankfurt
am Main 1999, 11-48.
erschienen im
Fischer Verlag
Homepages der Autoren: Prof. Dr. Winfried Schulze - Gerd Helm, M.A. - Thomas Ott, M.A.
Von den gleichen Autoren:
Sektionsbericht im Berichtsband des Verbandes der Historiker und Historikerinnen
Deutschlands e. V.: Schulze, Winfried - Helm, Gerd - Ott, Thomas: Deutsche
Historiker im Nationalsozialismus [Sektionsbericht], in: Recker, Marie-Luise
- Eizenhöfer, Doris - Kamp, Stefan (Hgg.): Intentionen - Wirklichkeiten.
42. Deutscher Historikertag in Frankfurt am Main, 8. bis 11. September 1998.
Berichtsband, München 1999, 209-214.