Fragen, die nicht gestellt wurden!

Interviews über die deutsche Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren
zwischen Kontinuität und Aufbruch

Von Konrad H. Jarausch und Rüdiger Hohls

"Die 'Abrechnung' mit der Generation der Väter, Eduard hatte es längst zugegeben, war keineswegs aus Versehen 'strukturell' ausgefallen. (...) Man reimte Väter auf Täter und sprach von 'der Generation, die für den Nazifaschismus verantwortlich war', aber selten vom eigenen Vater oder Großvater; man fixierte sich auf 'die sozialen und psychologischen Voraussetzungen" des Megaverbrechens, interessierte sich nicht für die kleinen Feigheiten, die unerzwungenen Denunziationen und Gemeinheiten der Verwandten, die alle zusammen den Holocaust ermöglicht hatten."

Aus: Peter Schneider: Eduards Heimkehr (Roman), Rowohlt Berlin 1999, S. 185.

1. Einleitende Bemerkungen

Seit Monaten bewegt die wissenschaftliche und politisch interessierte Öffentlichkeit eine in dieser Schärfe und zu diesem Zeitpunkt unerwartete Kontroverse - das Verhalten deutscher Historiker im Dritten Reich. Nicht ohne Schadenfreude blicken manche Kollegen aus den Nachbardisziplinen auf die Geschichtswissenschaften, welche die Aufarbeitung der 'braunen' Belastung in anderen Disziplinen wie der Medizin oder Rechtswissenschaft eingefordert hatten und nun selbst von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt werden. Die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit von Geschichte als Wissenschaft verlangt daher eine schnelle und schonungslose Untersuchung der von den Kritikern erhobenen Vorwürfe.

Im September 1998 drängten sich auf dem Frankfurter Historikertag, angeregt von einem selbstkritischen Zeitungsinterview und der Eröffnungsrede des Vorsitzenden des Historikerverbandes (VdH) Fried, hunderte Zuhörer derart in einen Saal, daß in einem zweiten Hörsaal eine Videoübertragung arrangiert werden mußte. [1] Das enorme Interesse galt einer emotionsgeladenen Debatte darüber, daß innerhalb der eigenen Zunft die Mittäterschaft oder auch nur geistige Nähe vieler Historiker zum Dritten Reich einfach totgeschwiegen wurde. [2] Über fünf Jahrzehnte nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrors kam die Aufmerksamkeit für dieses Thema überraschend, da sich Medien wie Politiker zuletzt eher mit den Unrechtsfolgen der zweiten deutschen Diktatur und der Unterstützung der ostdeutschen Historiker für das SED-Regime beschäftigt hatten. [3] Worum dreht sich die gegenwärtige Kontroverse, und wie berechtigt sind die von den Kritikern erhobenen Vorwürfe?

Themen der Debatte

Durch die diversen Presseinterviews, Podiumsdiskussionen und Veröffentlichungen zieht sich ein roter Faden von drei eng miteinander verknüpften Themen. Zunächst einmal geht es bei der Diskussion um das Verhalten von einigen Historikern wie Theodor Schieder, Werner Conze, Karl Dietrich Erdmann, Hermann Heimpel u.a., die ihre Karriere als junge Menschen im Dritten Reich starteten und in der Nachkriegszeit führende Positionen in der deutschen Geschichtswissenschaft einnahmen. Neuere Quellenfunde und Veröffentlichungen von Michael Burleigh, Willi Oberkrome, Ursula Lehmkuhl, Mathias Beer, Gadi Algazi usw. belegen eine viel stärkere nationalistische und teilweise sogar rassistische Affinität vieler Historiker, insbesondere von Forschern im Umfeld der sogen. Historischen Volkstumsforschung und Historischen Landeskunde (Ost- und Westforschung, Südosteuropaforschung), zum Nationalsozialismus als bisher bekannt war. [4] Erste Untersuchungen von Hermann Heiber und Karl Ferdinand Werner in den sechziger Jahren hatten zwar schon einige Umrisse der akademischen Kollaboration mit dem Dritten Reich angedeutet, aber ihr erschreckendes Ausmaß noch nicht vollständig belegen können. [5]

Zweitens dreht sich die Debatte um die Frage des Umgangs dieser Wissenschaftler mit ihrer Verstrickung, also um ihre Rolle nach 1945, als akademische Lehrer einer neuen Generation von Historikern in der sich vom Nationalsozialismus absetzenden, zur Demokratie hinbewegenden und westliche Werte aufnehmenden Bundesrepublik. Kritiker wie Götz Aly, Peter Schöttler, Michael Fahlbusch oder Ingo Haar haben wiederholt auf das peinliche Verschweigen dieser Leitfiguren hingewiesen, daß ihr Eintreten für demokratische Werte und internationale Verständigung in der Nachkriegszeit in einem zweifelhaften Lichte erscheinen läßt. Durch den Vorwurf, der damalige akademische Nachwuchs hätte es unterlassen, 'peinliche' Fragen an seine Lehrer bezüglich ihres Verhaltens im Nationalsozialismus zu stellen, haben sie indirekt auch die von diesen prominenten Historikern ausgehende Strömung der durch Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka u.a. repräsentierten Gesellschaftsgeschichte mit in Frage gestellt.

Und drittens geht es mittlerweile auch um die Fairneß der Angriffe oder Antworten sowie den Ton der gegenwärtigen Kontroverse selbst. Einen negativen Höhepunkt markierten die über die Presse lancierten Absagen und gegenseitigen Beschuldigungen anläßlich des im März dieses Jahres von der Heinrich-Böll-Stiftung gemeinsam mit der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt / Oder) veranstalteten Kolloquiums zum Thema "Historiker und Nationalsozialismus" in Berlin. Durch diese eigenartige Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart erhält die Auseinandersetzung ihre eigentliche Brisanz.

Sensibilisierung für den Holocaust

Der Zeitpunkt der Debatte wurde weitgehend von dem Aufkommen einer neuen Sensibilität für den Umgang mit dem Holocaust bestimmt. Alle Befürchtungen, daß die geringeren Untaten der SED-Diktatur die größeren Verbrechen des Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der deutschen Intellektuellen in den Hintergrund drängen könnten, haben sich als falsch erwiesen. Gerade mit dem allmählichen Aussterben der Mehrheit der Täter und ihrer Opfer hat sich ironischerweise der Begriff des Holocaust als erneuerter moralischer Standard durchgesetzt, so daß das Verhalten früherer Generationen nunmehr an ihrer "Mittäterschaft" gemessen wird. Die über die Fachöffentlichkeit hinausgehende Rezeption des methodisch und quellenmäßig problematischen, aber in seinen holzschnittartigen Beschreibungen und vereinfachenden Erklärungen eindrucksvollen Buches von Daniel J. Goldhagen ist ein Indikator für diesen Bewußtseinswandel von weitgehender Verdrängung zu offener Selbstanklage. [6]

Generell läßt sich für die vergangenen Jahre beobachten, daß sich die Debatten um die Judenvernichtung aus der Wissenschaft heraus bewegten und in medienwirksame Diskussionen um den Holocaust verdichteten. Fachinterne Auseinandersetzungen, wie um den Intentionalismus, Funktionalismus oder die polykratische Struktur des NS-Herrschaftssystems oder das genaue Datum von Hitlers Entscheidung für die Endlösung, hatten nur eine begrenzte Ausstrahlung. Statt dessen erregten schon in den 1950/60er Jahren Prozesse wie der gegen einige Haupttäter von Auschwitz und gegen Eichmann in Israel viel öffentliche Aufmerksamkeit, aber erst die von einem Millionenpublikum mit Bestürzung und Betroffenheit aufgenommenen Filme "Holocaust" (1978ff.) und "Schindlers Liste" (1992ff. ) sensibilisierten eine breitere Öffentlichkeit schließlich für das menschliche Leiden, das von den nationalsozialistischen Verbrechen ausgelöst wurde. Zweifellos sind große Teile der Nachkriegsgenerationen von diesen Medieneindrücken und dem wachsenden Bemühen des Schulunterrichts um dieses Thema nachhaltig geprägt.

Daneben waren es die öffentlichen geschichtspolitischen Debatten, welche den Holocaust gegen erhebliche Widerstände als zentralen Referenzpunkt im kulturellen Gedächtnis Westdeutschlands verankerten: Zunächst ist es der sogen. Historikerstreit (1984ff.) um die Einzigartigkeit des Holocaust; seit 1988 zieht sich nun schon die Dauerdebatte um das Berliner Holocaust-Mahnmal hin; seit 1997 hat sich die Diskussion um ausstehende, nochmalige bzw. um das Ende von Wiedergutmachungsleistungen verschärft; im Herbst 1998 löste Martin Walser mit seiner Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche einen heftigen öffentlichen Disput aus und seit etwa zwei Jahren gibt es eine Kontroverse um die sogen. 'Berliner Republik', in der Befürchtungen mitschwingen, daß die Verlegung des politischen Schwerpunkts an einen historischen Ort der 'ersten' Zeitgeschichte, die deutsche Politik aus der Westintegration lösen und zu neuen nationalistischen 'Sonderwegen' verleiten könnte. In einem durch diese Debatten geschärften geistigen Klima mußte die Entdeckung der Mittäterschaft namhafter Historiker und ihrer potentiellen Verbindungen zur Nachkriegsgeschichte wie eine Ungeheuerlichkeit anmuten.

Generationsaspekt

Die Heftigkeit der öffentlichen Auseinandersetzungen hat natürlich auch mit einem fundamentalen Generationsaspekt zu tun, der Abfolge und Verhältnis der Alterskohorten in der Bundesrepublik belastet hat. Die putativen Täter wie Schieder, Conze, Brunner, Erdmann, Heimpel, Schramm oder Petri, deren eigene Lehrer (Aubin, Brackmann, Rothfels etc.) einer noch älteren Generation angehörten, waren sozusagen die 'Väter' vieler Nachkriegshistoriker. Denn diese in der Weimarer Republik geformte und im Dritten Reich in wissenschaftliche Stellungen eingerückte Alterskohorte besetzte in der Nachkriegszeit die intellektuellen und institutionellen Schlüsselstellungen der Geschichtswissenschaft.

In partieller Weiterführung ihrer methodischen Ansätze, aber mehr noch in dezidierter Absetzung von deren Nationalgeschichte, schufen ihre talentierten 'Söhne', die Wehler, Kocka, Mommsen oder Winkler, eine politisch progressive und methodisch innovative Gesellschaftsgeschichte des deutschen Sonderwegs innerhalb der kapitalistischen und demokratischen Modernisierung des Westens, sozusagen als Meistererzählung der Bundesrepublik. Obgleich diese selbstkritische Sicht der deutschen Vergangenheit die Profession nie völlig beherrschte, dominierte sie doch die intellektuelle Agenda der siebziger und achtziger Jahre und veränderte dadurch die öffentliche Geschichtskultur der Bundesrepublik fundamental.

Deren Schüler wiederum, also wissenschaftliche 'Enkel' wie Götz Aly, Michael Fahlbusch oder Peter Schöttler, die keine direkten Erinnerungen an das Dritte Reich mehr haben, sind diejenigen, die die 'Großväter' wegen ihrer Verfehlungen und die 'Väter' wegen der fehlenden Fragen an ihre Mentoren anklagen. Ironischerweise führen sie eigentlich den kritischen Impuls der westdeutschen Gesellschaftsgeschichte zeitversetzt weiter, prangern aber deren Kompromisse mit den früheren Vertreter der Volksgeschichte als intellektuelle Halbheit an und fordern nun eine rigorose Aufklärung der politischen Belastung der eigenen Zunft.

Die heutigen Studenten schließlich sind sozusagen die 'Urenkel' der Tätergeneration und stehen, wie das intellektuelle Publikum insgesamt, vor der Herausforderung, sich aus den unterschiedlichen Verhaltensweisen der vorangegangenen Wissenschaftlerkohorten ein eigenes Bild zu machen. Jedoch wäre dieser quasi-genealogische Erklärungsrahmen auch zu problematisieren, denn er suggeriert Abhängigkeiten und Prägungen, die nicht immer in dieser Weise vorhanden waren: So bestand das Schüler-Lehrer-Verhältnis meist nur wenige Jahre, war deshalb allenfalls partiell persönlichkeitsbildend; andere Hochschulmilieus und andere Hochschullehrer geraten darüber leicht in Vergessenheit; schließlich waren nur wenige der vermeintlichen Täter so charismatisch wie Rothfels und Th. Schieder.

2. Design der Interviews

Aus dem Wunsch heraus, die Diskussion aus dem Wechselspiel von Anklagen wie Entschuldigungen der 'Söhne' und 'Enkel' herauszuführen, entstand die Idee, daß heutige Studenten eine Reihe von prominenten Historikern nach ihren Erfahrungen mit ihren eigenen Lehrern in der frühen Bundesrepublik befragen. In der gegenwärtigen Kontroverse beziehen sich Kritiker sowie Apologeten immer wieder auf das Weiterwirken nationalsozialistischen Gedankenguts sowie das 'Beschweigen' der Untaten in der Nachkriegszeit, ohne die damaligen Umstände, wissenschaftlichen Schriften und den Kontext akademischen Lehrens und Lernens explizit zu thematisieren. Die folgenden Interviews mit der Generation der Nachkriegsstudenten haben zum Ziel, diese wichtige Lücke in der Argumentation durch die Erinnerung von Beteiligten zu schließen und dadurch Anregungen zu einer detaillierten dokumentarischen Aufarbeitung zu geben.

Nach den einschlägigen Erfahrungen der Kommunikationsmuster in der Oral History schien es wahrscheinlich, daß die sich angegriffen oder betroffen fühlenden Forscher, die teilweise schon emeritiert sind, gegenüber jungen Anfängern freier reden würden als mit den Kritikern aus der nächsten, biologisch wie wissenschaftlich nachdrängenden Generation. Zu diesem Zwecke wählten Peter Helmberger und Rüdiger Hohls drei vor dem Examen stehende Magisterstudenten der Humboldt- und der Freien Universität Berlin aus, nämlich Jens Hacke, Julia Schäfer und Marcel Steinbach-Reimann, die nach eingehenden Besprechungen über die Kontroverse und die Methoden der Befragung gemeinsam mit den Autoren dieser Vorbemerkungen einen Fragebogen ausarbeiteten. Gleichzeitig sollte das elektronische Netzwerk H-Soz-u-Kult genutzt werden, um die Transkriptionen dieser Interviews in standardisierter Kurzform per Email und in ihrer Gesamtlänge auf einer besonderen Web-Seite im Internet zugänglich zu machen.

Auswahl der Interviewpartner

Die Auswahl der Interviewpartner richtete sich zunächst nach den in der öffentlichen Diskussion am häufigsten genannten Namen, d.h. den Wortführern der Gesellschafts- und politischen Sozialgeschichte, die unter Angehörigen der sogen. Tätergeneration in der Nachkriegszeit bis in die sechziger Jahre studiert hatten. Um aber das Spektrum der Aussagen zu erweitern und potentielle Verzerrungen durch die Konzentration auf einen zu engen Kreis zu vermeiden, wurden mehr als zwei Dutzend Anfragen verschickt, die auch eine breitere Gruppe von methodisch weniger sozialgeschichtlich und politisch anders orientierten Wissenschaftlern mit einschließen. Wegen des höheren Grades der Politisierung von Arbeiten über die letzten beiden Jahrhunderte wurden die Interviews bewußt auf Neuzeithistoriker beschränkt, um durch eine gewisse inhaltliche Ähnlichkeit ihrer Forschungsprobleme die Aussagen vergleichbarer zu machen. Da in der DDR die bürgerlichen Kollegen in den fünfziger Jahren ausgeschaltet oder verdrängt wurden und die kommunistische Lehrergeneration - wie Joachim Petzold berichtet [7] - in entschiedener Gegnerschaft zum Nationalsozialismus stand, mußten sich die Befragungen ausschließlich auf westdeutsche Historiker konzentrieren. Etwa drei Viertel der Kollegen waren zu einem Gespräch bereit und äußerten sich erstaunlich offen über ihre Erfahrungen mit ihren akademischen Lehrern in der Nachkriegszeit sowie über ihre eigene akademische Karriere.

Nun soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß es sich bei der Interviewserie um ein 'low-budget'-Projekt handelt, das ganz wesentlich vom Engagement der die Interviews durchführenden Studenten lebt und dem nur geringe Reisemittel zur Verfügung standen. Die Mehrzahl der Interviews konnte in Berlin durchgeführt werden, wenn die Interviewpartner zu Tagungen oder Kongressen in der Stadt weilten. Diese Rahmenbedingungen sind für das zeitliche Auseinanderfallen der Interviewtermine verantwortlich, die Reihenfolge der Interviews ist daher nicht inhaltlich begründet, sondern durch die 'Zufälligkeit' zustande gekommener Gespräche. Durch dieses Zufallsprinzip entsteht eine bunte Reihe, welche unterschiedliche Reaktionen in lockerer Folge zugänglich macht, und so eine inhaltliche Choreographie der Aussagen durch die Herausgeber verhindert.

Trotz solcher Probleme bei der praktischen Durchführung hat es das Sample der Interviewten in sich: Alle haben bei maßgeblichen Historikern in der Nachkriegszeit studiert oder gearbeitet. 'Maßgeblich' meint dabei,

In vielen Fällen sind die Interviewten dann ein, zwei oder drei Dekaden später in diese oder vergleichbare akademische wie wissenschaftspolitisch maßgebliche Positionen nachgerückt, standen dem Historikerverband vor, präsentierten Historische Kommissionen, sind oder waren Herausgeber von bedeutenden Zeitschriften und wirkten über wissenschaftspolitische Instanzen (Wissenschaftsrat, DFG, Gutachtergremien etc.) maßgeblich an der Ausgestaltung des Wissenschaftssystems mit. Einige der Interviewten wirkten nach 1990 aktiv als Moderatoren, Evaluatoren, Gutachter oder auch als Institutsgründer entscheidend beim Neuaufbau der Geschichtswissenschaften in den fünf neuen Ländern und Berlin mit. Ganz überwiegend repräsentiert das Sample daher die Mitgestalter und Meinungsführer der bundesdeutschen (Neuzeit-)Geschichtswissenschaft der 1970er bis 1990er Jahre, deren Stellung innerhalb der Disziplin durchaus mit der ihrer Lehrergeneration in den 1950/60er Jahren vergleichbar ist bzw. war. Einen Schwachpunkt weist diese "Positivliste" allerdings auf: Sie berücksichtigt mehr die erfolgreichen 'Stars' als die weniger prominenten Durchschnittswissenschaftler und erst recht nicht die Verlierer unter den Nachwuchshistorikern der ersten Nachkriegsgeneration, die womöglich anders und kritischer über ihre Erfahrungen mit ihren akademischen Lehrern berichtet hätten.

Auch vom Lebensalter her konnte das Sample nicht völlig homogen sein. Fast eine Generation liegt zwischen dem ältesten (R. Vierhaus) und dem jüngsten Interviewpartner (W. Schulze). Der altersbedingte Erfahrungshintergrund nivelliert sich jedoch ein wenig durch kriegsbedingte Verzögerungen des Studienbeginns, da es sich vor allem um die Studenten der ersten fünfzehn bis zwanzig Nachkriegsjahre handelt. Aus der Kohortenperspektive ist es allerdings bedeutsamer, daß das Sample in zwei Teile mit unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen zerfällt:

Unter den Interviewten befinden sich mit Helga Grebing und Adelheid von Saldern leider nur zwei Frauen. Dieser geringe Anteil hat seine Ursache darin, daß in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft Professorinnen eher die Ausnahme als die Regel waren. So bitter es klingen mag, aber mit zwei von 17 Interviewten sind die Frauen, gemessen an der realen Besetzungsstruktur historischer Institute in (West-) Deutschland, im Sample vermutlich nicht unterrepräsentiert.

Interviewpraxis

Die Interviewer haben sich auf die Gespräche durch die Lektüre von Schriften der Befragten vorbereitet, um dadurch sachkundige Fragen stellen und Nuancen der Antworten beurteilen zu können. Der 'Fragebogen' enthält einen freien biographischen Teil, um die Dynamik des Gesprächs wiederzugeben, sowie einen Standardteil mit Kernfragen, welche einen Vergleich zwischen den Interviewpartnern ermöglichen sollen. Letztlich werden damit zwei übliche Befragungstechniken verwandt: Zum einen handelt es sich um narrative Interviews, deren Verlauf offen ist, die geprägt sind vom Erzählfluß und situativen Assoziationen der Gesprächspartner. Dagegen tritt im zweiten Teil mit den standardisierten Fragen der narrative Charakter der Interviews zugunsten einer diskursiven Prägung zurück; die Antworten sind weit mehr von Intention, Reflexion und Abstraktion geprägt.

Die mühsame und zeitaufwendige Transkription der Interviews hatte - wie alle vergleichbaren Vorhaben - einen Spagat zu vollbringen: einerseits sollte sie so viel wie möglich von der Gesprächssituation einfangen, andererseits einen verständlichen sowie lesbaren Text vorlegen, der den üblichen Regeln der Syntax und Grammatik genügt. Der Transkriptionsaufwand unterschied sich je nach Sprachduktus und Erfahrung der befragten Historiker mit vergleichbaren Interviewsituationen. Die Transkripte gingen anschließend an die Interviewten zur Korrektur. Das Spektrum der Änderungswünsche seitens der Interviewpartner variierte erheblich: Einige beschränkten sich auf das Ausmerzen der Tipp- und Rechtschreibfehler, andere modifizierten ganze Passagen und den Sprachduktus und gaben den Gesprächsaufzeichnungen damit teilweise einen essayistischen Touch. Wieder andere verschleppten die Korrektur und Freigabe der Texte, da ihnen vermutlich bei der Lektüre ihrer eigenen Worte die Ambivalenz einzelner Aussagen, z.B. die Spannung zwischen ihrem affirmativen Umgang mit der eigenen Biographie und den distanzierten Bewertungen im Standardteil, ins Auge stach.

Die ersten Interviews, die in den kommenden Wochen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt werden, sind für Historiker eine Quelle von ungewöhnlichem Reiz. Sie variieren erheblich im Umfang und in der Gewichtigkeit der beiden Teile. Während die freien Passagen eher autobiographische Skizzen des persönlichen und wissenschaftlichen Werdegangs bieten, reicht die Spannweite im Standardteil von nachdenklichen Reflexionen zu polemischen Diskussionsbeiträgen. Trotz aller Unterschiede in Länge, Ton und Offenheit bieten diese Gespräche indessen faszinierende Einblicke in den beruflichen Werdegang und geistigen Horizont einer Historikergeneration, welche die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik während der letzten Jahrzehnte weitgehend prägte.

Generell stellen autobiographische Texte von Wissenschaftlern ein ungewöhnliches Genre dar und sind zudem in Deutschland seltener als in anderen Ländern. Völlig unbekannt sind sie jedoch auch hierzulande nicht, wie die erst jüngst von Karl Martin Bolte herausgegebene Aufsatzsammlung mit Erinnerungen westdeutscher Soziologen an die Nachkriegszeit belegt. [8] Dies liegt auch daran, daß Historiker nur selten Autobiographien verfassen, wenn sie nicht wie Felix Gilbert, Peter Gay ,Werner T. Angress u.a. durch traumatische Erfahrungen von Unterdrückung, Flucht und Vertreibung dazu angeregt werden. [9] In diesem Kontext fallen auch eine Reihe von biographisch angelegten Interviews mit emigrierten jüdischen Wissenschaftlern, wie z.B. mit George L. Mosse. [10] In dem reichen Genre der Festschriften finden sich manchmal autobiographische Fragmente, wie bei Georg G. Iggers oder Rudolf Vierhaus, oder auch kurze Gesprächstexte, wie bei Helga Grebing, aber der Anlaß der Ehrung nimmt solchen Einlassungen generell den kritischen Biß. [11] Intensive Befragungen, die Lebensgeschichte, wissenschaftliche Entwicklung und weltanschauliches Engagement miteinander verbinden, wie die Interviews von Karl Dietrich Bracher und Reinhart Koselleck in der "Neuen Politischen Literatur", sind daher selten. [12]

Anders als in Großbritannien, Frankreich, den Vereinigten Staaten oder auch anderen Ländern sind hierzulande wissenschaftliche Interviews mit Historikern nahezu unbekannt, zumindest wenn man den fehlenden Nachweisen in den einschlägigen Verbundkatalogen und Datenbanken Glauben schenken darf. [13] Der Harvard-Katalog weist sogar eine umfangreiche Sammlung dort archivierter Videoaufzeichnungen von Interviews mit bekannten britischen und amerikanischen Historikern wie Eric Hobsbawm, E.P. Thompson, Chistopher Hill, Peter Laslett und vielen anderen aus. [14] Vielleicht stellten bisher das herausgehobene Sozialprestige deutscher Professoren und der implizite Verhaltenskodex ein Hindernis dafür dar, am Beispiel der eigenen Biographie Entwicklungen und Tendenzen des Faches zu reflektieren. Zumindest jüngeren Historikern sind angesichts der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt die kohortenspezifischen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten evident. Die folgenden Interviews verstehen sich daher auch als ein Beitrag zu einer überfälligen disziplinären Selbstreflexion der Historiker.

3. Erste Ergebnisse

Wie steht es nun um die Erinnerungen der Historiker an ihre berufliche und wissenschaftliche Sozialisation in der Nachkriegszeit? Einerseits zeigen die Transkriptionen - was nicht sonderlich überrascht -, daß Wissenschaftler auch nur Menschen sind und daher ihr Gedächtnis, wie Kommentatoren zu "history and memory" argumentieren, selektiv arbeitet. Andererseits aber sind Forscher, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, keine naiven Interviewpartner, denn sie sind sich der potentiellen Implikationen ihrer Aussagen bewußt und versuchen, deren Interpretation durch Wortwahl, Darstellungsform, Inhalt der Mitteilungen usw. zu beeinflussen. Manche Kollegen äußerten sich den jungen Leuten gegenüber erstaunlich frei, andere blieben eher reserviert. Generell sind die Texte offener, je weiter sie von neuralgischen Punkten entfernt sind, und geschlossener oder kontrollierter, je näher sie an schmerzhafte Topoi herankommen. Bei manchen Aspekten scheint die Erinnerung relativ spontan und sogar für den Befragten erstaunlich zu sein, in anderen Bereichen ist sie durch wiederholte Antworten schon so stilisiert, daß sie quasi automatisch abgerufen werden kann. Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung der einzelnen Aussagen ist daher nicht nur die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses, sondern auch die Konstruktion der Erinnerung als ein Sinnzusammenhang, der bestimmte Gefühle oder Einsichten weitergeben will.

Die Aussagekraft der bisher geführten Interviews ist daher durchaus unterschiedlich für die verschiedenen in ihnen angesprochenen Zeithorizonte. Wie zu erwarten war, ergeben die Gespräche wenig Neues zum eigentlichen Verhalten der Historiker im Dritten Reich, denn Angehörige der sogen. Tätergeneration konnten nicht mehr befragt und ihre Handlungen nur indirekt erschlossen werden. Wesentlich detaillierter sind die Aussagen zu den Studienbedingungen der Nachkriegszeit, denn die Interviewpartner schienen den Rückblick auf ihre eigene Jugendzeit zu genießen und durch eine farbige Erzählung ihrer Studienbedingungen um Verständnis für ihr ambivalentes Verhältnis zu ihren akademischen Lehrern werben zu wollen. In diesen atmosphärisch dichten Schilderungen liegt der eigentliche Kern der Gespräche, die ein nuanciertes Portrait der intellektuellen Suche der ersten Nachkriegsgeneration und ihres wissenschaftlich durchaus spannungsgeladenen, aber menschlich immer noch verbundenen Verhältnisses zu ihren Mentoren zeichnen. Bei den Aussagen zur gegenwärtigen Kontroverse variieren die Antworten wieder erheblich, da manche Partner die Auseinandersetzung für eminent wichtig erachten, andere sie aber eher für einen Sturm im Wasserglas halten. In fast allen Interviews vermischen sich aber die drei Zeithorizonte, so daß dieses komplexe Wechselspiel zwischen unterschiedlichen temporären Bezügen einen Teil ihres Reizes ausmacht.

ZEITHORIZONT 1: NS-Zeit

Zum Verhalten der Historiker im bzw. gegenüber dem Nationalsozialismus bieten die Interviews bis auf Wolfgang J. Mommsen und Hans-Ulrich Wehler, die sich mit dem Thema bzw. vergleichbaren Stoffen monographisch beschäftigt haben, eher indirekte Hinweise, da die Gesprächspartner nur über den nachträglichen Umgang mit diesem Gegenstand informieren können.[15] Die meisten Schüler nahmen an, daß ihre Lehrer irgendwie im Dritten Reich involviert waren, hatten aber wenig detaillierte Informationen darüber und versuchten eher, das NS-Trauma hinter sich zu lassen. Bei einigen besonders exponierten Vertretern wie Hermann Aubin oder Percy Ernst Schramm war die Kriegstätigkeit bekannt, bei anderen gab es eher Gerüchte oder Andeutungen in früheren Vorworten sowie Publikationen. Angesichts des hohen Überschneidungsgrades von nationalem und nationalsozialistischem Gedankengut ging man davon aus, daß Historiker aus Überzeugung der "deutschen Sache" in bezug auf die Revision des Versailler Vertrages und die Stärkung des "Volkstums" im Osten dienten. Auch schien es verständlich, daß energische junge Leute, die im Dritten Reich Karriere machen wollten, sich partiell mit dem Nationalsozialismus einließen, ohne deswegen mit Haut und Haaren Nazis geworden zu sein. Dieses im Bürgertum tradierte Selbstverständnis einer "Mitläufergesellschaft" verhinderte bei der Mehrzahl der Interviewpartner, daß sie unangenehme Fragen stellten. Im Einzelfalle haben loyale Schüler beim Wiederabdruck früherer Veröffentlichungen ihrer Lehrer sogar versucht, die schlimmsten Stellen zu ändern und dadurch ihre Lehrer vor sich selbst in Schutz zu nehmen. Die Tendenz der retrospektiven Aussagen zum Dritten Reich ist daher eine Mischung von Erschrecken über das Ausmaß der Involvierung und Verständnis für dessen mildernde Umstände.

ZEITHORIZONT 2: Nachkriegsära

In diesen intergenerationellen Gesprächen werden vor allem die schwierigen Studienbedingungen und paradoxen Sozialisationsprozesse der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich. Fast alle Erzählungen erwähnen die Wiederherstellung der Ordinarienuniversität mit der ungebrochenen Autorität des Lehrstuhlinhabers, der über jede studentische Kritik erhaben schien. Manche Interviews betonen auch die materiellen Zwänge durch fehlende Mittel, die zu persönlichen Abhängigkeiten führten, um eine der wenigen Hilfskraft- oder Assistentenstellen zu ergattern. Einzelne Gesprächspartner führen auch drastische Beispiele der Disziplinierungsmechanismen der Zunft gegenüber allzu kritischen Ansichten an. Viele Interviews kreisen um den Grundwiderspruch zwischen dem konsistenten Schweigen der national denkenden Professoren über ihr eigenes Verhalten im Dritten Reich und ihrem gleichzeitigen Suchen nach neuen intellektuellen Orientierungen sowie der liberalen Unterstützung von ersten Emanzipationsversuchen bei ihren Schülern.

Die Darstellungen des Gedankenhorizonts der Studierenden suggerieren eine ähnliche Gespaltenheit zwischen Respekt vor dem großen Wissen und der interpretativen Souveränität ihrer Lehrer bei gleichzeitiger Ungeduld gegenüber antiquierten Methodenpräferenzen oder nicht mehr zeitgemäßen politischen Haltungen. Es ist erstaunlich, wie stark die Beschreibungen der führenden Professoren der Nachkriegszeit noch immer von einer fundamentalen Ambivalenz zwischen persönlicher Achtung und intellektueller Distanzierung bestimmt sind. Für viele der Interviewpartner sind diese nicht ausgetragenen Spannungen, welche insgesamt für die restaurative Modernisierung der 1950er Jahre typisch sind, der eigentliche Grund für die Befangenheit auf beiden Seiten, welche es unmöglich machte, gewisse Fragen zu stellen oder auch auf ungestellte Fragen zu antworten.

Sozialisationsmilieus

In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten scheint nach diesen Interviews die historische Ausbildung und auch die eigentliche Fachdiskussion auf einige zentrale Orte beschränkt gewesen zu sein. Die Hauptrolle spielte die Kölner Universität wegen Theodor Schieders Seminar, das eine ganze Gruppe von exzellenten Historikern wie Wolfgang J. Mommsen, Hans-Ulrich Wehler, Lothar Gall usw. anzog, die einen informellen eigenen Diskussionskreis bildete, der noch immer Kern des Herausgebergremiums von "Geschichte und Gesellschaft" (GG) ist.[16] Wichtig war auch die Tübinger Universität wegen der charismatischen Gestalt von Hans Rothfels, der u.a. Hans Mommsen und Heinrich August Winkler ausbildete und als national-konservativer jüdischer Emigrant eine Schlüsselrolle als Herausgeber der "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" (VjhZG) spielte. Zu Werner Conzes Zeit war Heidelberg ebenso populär, während Karl Dietrich Erdmann in Kiel weniger Studenten betreuen konnte. Auch Göttingen scheint eine Reihe von talentierten Forschern wie Reinhard Rürup usw. hervorgebracht zu haben, und das Institut für Zeitgeschichte vermittelte kritische Impulse (Imanuel Geiss). Schließlich trugen auch einige 'katholische' Universitäten wie München (Franz Schnabel), Münster und Mainz zur Infragestellung der bildungsprotestantischen Nationaltradition bei.

Gleichzeitig weisen die Interviews aber auf die wichtige Rolle von Auslandsaufenthalten, vor allem in den Vereinigten Staaten, hin, welche der jüngeren Forschergeneration ein methodisch breiteres und politisch demokratischeres Geschichtsbild vermittelten. Schließlich propagierten einige der zeitweilig oder langfristig zurückgekehrten Emigranten wie Hans Rosenberg heterodoxe Ansätze und protegierten kritische Studenten wie Helga Grebing oder Heinrich August Winkler. Vor allem im weltoffeneren Berlin und in benachbarten Disziplinen wie der Politikwissenschaft (Hochschule für Politik, dem späteren OSI) scheinen anglo-amerikanische Einflüsse durch Fraenkel, Löwenthal usw. gewirkt zu haben. Bei aller Kontinuität der führenden Personen und Anschauungen war die graduelle Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft daher das Resultat eines komplexen, durch äußere Anregungen vorangetriebenen, dezentralen internen Reflexionsprozesses.

Generationelle Lernprozesse

Gerade wegen ihrer unterschiedlichen Reaktionen können diese Interviews einen wichtigen Beitrag zur Diskussion derjenigen Lernprozesse beisteuern, die nach 1945 in unterschiedlichem Maße Professoren wie Studenten vom Nationalsozialismus zur Demokratie führten. Im Vergleich zu den dramatischen Veränderungen in den ostdeutschen Universitäten überwog in den ersten Nachkriegsjahren die Kontinuität mit dem bürgerlichen Erbe einer national ausgerichteten Politikgeschichte, die von der Mehrheit der überlebenden Professorenschaft weitergeführt wurde. Nur eine Minderheit von besonders belasteten Kollegen wie Erich Botzenhart, Ulrich Crämer, Willy Hoppe, Wilhelm Mommsen oder Karl Alexander von Müller wurde auf Dauer, einige, wie Günter Franz und Otto Brunner, wurden für viele Jahre oder, wie Werner Conze und Franz Petri, vorübergehend von der Lehre ausgeschlossen, ohne deswegen aber ihre Publikationsmöglichkeiten zu verlieren. Die Kontinuität dokumentiert sich auch an der Spitze des 1948 neu gegründeten Verbandes der Historiker Deutschlands, dessen Vorsitzende zwischen 1953 und 1976 (Aubin, Rothfels, Erdmann, Schieder, Conze) inzwischen allesamt als belastete Mitläufer/ Täter gelten.

Sei es aus Opportunismus, sei es aus eingefleischter Staatsnähe, sei es aus genuinem Umdenken veränderten aber die im Amte verbliebenen Historiker wie Theodor Schieder während der 1950er Jahre tatsächlich ihre wissenschaftliche Sprache, ihr methodisches Rüstzeug, ihre zentrale Thematik und ihre politische Ausrichtung. Irritierend bleibt aber auch nach diesen Interviews bis auf einzelne Ausnahmen wie Hermann Heimpel die Weigerung der Lehrergeneration, über ihre eigene Kollaboration mit dem Nationalsozialismus zu sprechen und den Verlauf ihrer Umorientierung gegenüber ihren eigenen Studenten zu kommentieren. Auch hat die Reputation von einzelnen Figuren wie Rothfels oder Conze durch das Bekanntwerden von wissenschaftspolitischer Unduldsamkeit gegenüber kritischen Ansätzen und die Fortführung des Königsberger Netzwerkes zweifellos Schaden erlitten. Insgesamt jedoch werfen die Texte bezüglich des langsamen und widersprüchlichen Umdenkens nach 1945 notwendigerweise mehr Fragen auf, als sie beantworten können, und regen dadurch weitere Forschungen an.

Auf der anderen Seite zeichnen die Gespräche ein eindrucksvolles Kollektivporträt der jüngeren Historikergeneration, die nach dem Zweiten Weltkrieg studierte, mit der katastrophalen Hinterlassenschaft ihrer Eltern konfrontiert wurde und sich schwor, es selbst besser zu machen. Einerseits war sie auf die professionelle Ausbildung und Anerkennung ihrer Lehrer durchaus angewiesen, andererseits wollte sie aber dezidiert mit den Methoden und Werten der älteren Generation brechen - eine paradoxe Situation, die zahlreiche Spannungen hervorrief, sich aber erst in den 1960er Jahren zum offenen historiographischen Konflikt entwickelte (siehe die vielen Hinweise auf die Fischer-Kontroverse). Das normale Problem des wissenschaftlichen Lernens von den älteren und des Versuchs der jüngeren, über diesen Forschungsstand hinauszugehen, wurde in der Nachkriegszeit dadurch kompliziert, daß die Autorität der Elterngeneration durch den verlorenen Krieg und die NS-Verbrechen untergraben war. Gleichzeitig hatte die Jugend aber einen Hunger nach unbeschädigten Vorbildern und Wertvorstellungen, um sich daran neu zu orientieren.

Besonders bei Forschern mit bildungsbürgerlichem Hintergrund wie Reinhard Rürup verlangte diese Auseinandersetzung mit der älteren Generation auch einen persönlichen Wandlungsprozeß, der sich schrittweise von der nationalen Gesinnung des Elternhauses oder des Gymnasiums emanzipierte, um in der neuen Demokratie und der internationalisierten Kultur der Moderne anzukommen. Bei manchen Interviewpartnern finden sich wichtige Hinweise zu den Ursachen und Abläufen dieser schrittweisen persönlichen Emanzipation aus dem eher rechtsgerichteten Milieu. Im Gegensatz dazu war bei Historikern, die wie Helga Grebing schon aus sozialistischen Elternhäusern stammten, der Tabubruch leichter, dafür machte aber die Überwindung der eigenen Marginalität erhebliche Schwierigkeiten. Sie gelang nur, wenn sich einzelne akademische Lehrer, die auch an weniger prestigeträchtigen Institutionen tätig waren, gezielt aufmüpfige Studenten förderten und dadurch manchen Außenseitern den Weg in eine Hochschulkarriere ebneten.

Die Interviews vermitteln daher einen lebendigen Eindruck einer Generation auf der Suche nach Orientierungen, der es mit partieller Tolerierung ihrer problematischen Lehrer und auch in bewußter Absetzung von deren Halbheiten gelang, die westdeutsche Geschichtswissenschaft methodisch, inhaltlich und politisch neu zu orientieren. Die Gespräche geben auch einige Hinweise auf die Entstehung von Spannungen innerhalb des akademischen Nachwuches, dessen gemeinsames Generationsprojekt, die Konzeption einer kritischen Sozialgeschichte, nicht ohne Widerspruch ablief (Michael Stürmer). Vielleicht hängt der kollektive Ansatz der Gesellschaftsgeschichte, der vehement die Kontinuität repressiver Strukturen kritisierte, aber nur selten die Verantwortung einzelner Täter thematisierte, mit diesem emotional ambivalenten Generationsverhältnis zusammen.

ZEITHORIZONT 3: Gegenwart

Zur Klärung des Sachverhalts der gegenwärtigen Kontroverse tragen die Interviews nur partiell bei, da sie selbst in der Beurteilung der Angriffe von Aly, Schöttler u.a. geteilter Meinung sind. Die meisten Gespräche begrüßen ausdrücklich den Impetus der Kritiker, Fragen nach dem Verhalten der Historiker im Dritten Reich explizit zur Diskussion zu stellen, auch wenn einige der Interviewten nicht gerade glücklich über den begleitenden Medienrummel sind. Jedoch gehen die Bewertungen des Verhaltens der Lehrergeneration ziemlich stark auseinander, so z.B. zwischen Wolfgang J. Mommsen, der die Veröffentlichungen und Denkschriften Schieders, Conzes und Erdmanns dem jung-konservativen, protestantisch-nationalen Lager zuordnet, und seinem Zwillingsbruder Hans, der diese Publikationen schon mit dem Nationalsozialismus selbst identifiziert.

Trotzdem lehnt die Mehrheit der Interviewpartner die These von den Historikern als "Vordenkern der Vernichtung" (Aly) dezidiert ab, da sie weniger direkt als die Mediziner, Biologen usw. für die Verbreitung eines militanten Rassismus verantwortlich waren, und stuft ihr Wirken eher als wissenschaftliche Beihilfe bei der Vertreibung der Juden aus Osteuropa ein. Zweifellos gehen Beiträge wie die kartographische Darstellung der Siedlungsmuster, die ethnographische Identifizierung der unterschiedlichen Volksgruppen und die ideologische Rechtfertigung der kulturellen Überlegenheit der Deutschen über ein einfaches Mitläufertum hinaus und sind schon ein Mittätertum, da sie die Vertreibungspläne und Umsiedlungsfantasien der SS erleichterten. Jedoch scheint den meisten Interviewpartnern ein schlüssiger Beweis, daß diese historischen 'Hilfs'-Arbeiten einen direkten Einfluß auf die Judenvernichtung hatten, noch auszustehen.

Bei der Diskussion des eigenen Verhaltens gegenüber der Lehrergeneration schleicht sich u.a. bei Hans-Ulrich Wehler ein defensiver Grundton ein, der plausibel zu machen versucht, daß in der Ordinarienuniversität der 50er Jahre den Professoren Fragen über ihr Verhalten im Dritten Reich nicht gestellt werden konnten. Da sich diese Formulierung in mehreren Interviews findet, suggeriert sie einen neuralgischen Punkt der Erinnerung, um den die Erklärungsversuche kreisen. Im nachhinein erscheint den meisten Interviewpartnern dieses Versäumnis durchaus bedauerlich, und sie versuchen immer wieder, eine Reihe von Entschuldigungen vorzulegen, die einerseits auf die Autoritätsstrukturen des damaligen Lehrer-Schüler-Verhältnisses, andererseits aber auch auf ihre eigene Befangenheit und ihr damaliges Interesse, nicht nach rückwärts, sondern nach vorne zu schauen, abheben. Aber das Versäumnis als solches wird nun nicht mehr bestritten.

Auch bei der Beurteilung des moralischen Rigorismus der Kritiker gehen die Meinungen durchaus auseinander. Einige der Interviewpartner begrüßen dieses Insistieren im Sinne einer weiteren Aufklärung von Verfehlungen der eigenen Disziplin. Andere jedoch verurteilen den Versuch der Diskreditierung der Gesellschaftsgeschichte als ahistorischen Präsentismus, weil er die Vergangenheit zu sehr an den politischen Standards der Gegenwart zu messen scheint. Auch sind einige Kritiker der Kritiker nicht mit den Assoziationen und (versteckten) Andeutungen zufrieden, sondern insitieren auf schlüssige Beweise und nachprüfbare Belege. Insgesamt ist der Tenor der Interviews eher differenzierend und um Verstehen der Nachkriegssituation werbend als in Bausch und Bogen verdammend. Man könnte diese Meinungsunterschiede daher auch dahingehend deuten, daß sie trotz aller generationeller Gemeinsamkeiten eine erfolgreiche Pluralisierung der deutschen Historikerschaft belegen.

4. Hinweise für die Lektüre

Wie sollte ein interessierter Leser mit diesen Interviews umgehen? Zunächst ist es wichtig, daran zu erinnern, daß die elektronische Publikation dieser Texte ein Experiment darstellt, das in lockerer Gesprächsform Erinnerungen und Argumente, welche die gegenwärtige Kontroverse beeinflussen, einem breiteren Publikum zugänglich machen soll. Auch nach korrigierender Durchsicht handelt es sich daher nicht um ausgefeilte wissenschaftliche Formulierungen, die dauernde Geltung beanspruchen, sondern eher um spontane mündliche Äußerungen, die eigenes Nachdenken nachvollziehbar machen sollen. Diese leserfreundliche Textform hat ihre eigenen Gesetze, die es zu respektieren gilt, indem man nicht einzelne Fragmente aus dem Zusammenhang reißt und als diffamierende Zitate zur Polemik gegen einen unbeliebten Gegner benutzt. Gerade durch ihre Ungeschütztheit laden manche Aussagen zum Widerspruch ein, der aber nicht zu persönlichen Vorwürfen führen, sondern in einem ähnlich offenen Ton formuliert werden sollte, um die Diskussion inhaltlich weiterzubringen.

Desiderate der Forschung

Die Interviews machen ebenso deutlich, daß erhebliche Teile des Sachverhalts im Dritten Reich und vor allem in der Nachkriegszeit erst durch weitere Quellenforschung eruiert werden müssen, bevor ein abschließendes Urteil möglich ist. Die Welle gegenwärtiger Publikationen scheint sich vor allem auf das Verhalten der Historiker im Nationalsozialismus zu konzentrieren (Rezensionen zu einigen dieser Publikationen sind über die H-Soz-u-Kult-Homepage einsehbar). Denn es werden immer mehr bestürzende Einzelheiten über die Rolle führender Historiker im Dritten Reich sowie die Aktivitäten der volksdeutschen Forschungsgemeinschaften und anderer damals herausgehobener Institutionen (Grenzlanduniversitäten) bekannt. Auch auf diesem Gebiet bleibt noch einiges zu tun, um die Implikationen des Volksbegriffs, die Auswirkungen persönlicher Netzwerke und Einflüsse außeruniversitärer Forschungseinrichtungen auf die Geschichtswissenschaft detailliert zu eruieren. [17]

Dagegen ist trotz wichtiger Vorarbeiten, u.a. durch Winfried Schulze und Georg Iggers, die Entwicklung der Geschichtswissenschaft und ihrer zentralen Vertreter nach dem Zweiten Weltkrieg noch weitgehend unerforscht. [18] Bis auf die beispielhafte Edition Schwabes u.a. zu Gerhard Ritter fehlt es noch an Untersuchungen der einschlägigen Korrespondenzen in den Nachlässen und an akribischen Aufarbeitungen der Veränderungen der Terminologie und der Interpretationen in den publizierten Texten - von den diversen Querverbindungen mit der Politik ganz zu schweigen. [19] Daher ist das Ausmaß der professionellen Ausgrenzungen, der internen Wandlungsprozesse und ihrer vielfältigen Widerstände nach 1945 erst in groben Umrissen sichtbar. Eine genauere Untersuchung der zentralen Tendenzen der Geschichtswissenschaft in ihrem Versuch der nationalhistorischen Kontinuitätsbewahrung bei gleichzeitiger Distanzierung von nationalsozialistischen Verbrechen und teilweiser Öffnung zu neuen Methoden und Wertbezügen ist ein eminentes Desiderat der Forschung. Bisher fehlt es allerdings noch an elementaren Informationen u.a. zur (personellen) Struktur und Entwicklung historischer Lehr- und Forschungseinrichtungen im universitären wie außeruniversitären Bereich, oder es mangelt an Untersuchungen über die Lehrcurricula oder an Studien über bedeutsame historischen Institutionen. [20]

Unterschiedliche Wissenschaftsverständnisse

Hinter den Sachfragen verbirgt sich ein noch grundsätzlicheres Problem des historischen Selbstverständnisses, welches das Verhältnis von Wissenschaft und Politik betrifft. Manchen Forschern geht es vor allem um ein hermeneutisches Verstehen der Vergangenheit in ihrer Andersartigkeit, während weltanschaulich engagierte Intellektuelle meist eine offene Verurteilung früherer Fehlentwicklungen für notwendig halten. Aufgrund der schlimmen Erfahrungen der Vergangenheit setzen einige Wissenschaftler auf größtmögliche Distanz zur Politik, während andere Kollegen gerade diesen Rückzug aus der Verantwortung für die Instrumentalisierung der Wissenschaft in der NS-Zeit verantwortlich machen und auf ein eindeutiges Engagement für Demokratie drängen. Vor dem Hintergrund der "Holocaust-Sensibilisierung" kann schon das Bemühen um Historisierung schnell Mißverständnisse hervorrufen, wie die Kontroverse zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer Ende 1980er Jahre zeigt. [21]

Besonders kompliziert wird es, wenn diese moralischen Fragen an den Untaten oder Unterlassungen der eigenen Zunft abgehandelt werden, sich also nicht auf neutrale Gegenstände, sondern auf die Tradition des eigenen Faches und daher auch auf ein Geflecht von menschlichen Verbindungen beziehen, die noch in die Gegenwart hineinwirken. Vielleicht würde es der weiteren Diskussion helfen, wenn ihre Protagonisten die Unterschiede zwischen diesen fundamentalen Ansichten respektierten und nicht die jeweils andere Seite sofort unlauterer Motive verdächtigten. Bei solchen Fragen handelt es sich nämlich um "Grundparadoxe" der Geschichtswissenschaft insgesamt, die auch von so engagierten Theoretikern wie Jörn Rüsen, Chris Lorenz oder Richard Evans nicht ganz aufgelöst werden können.

Eigene Beteiligung

Sinn dieser elektronischen Veröffentlichung ist es vor allem, die langen Anlaufzeiten einer Papierpublikation zu verkürzen und dadurch eine schnellere und breitere wissenschaftliche Diskussion anzuregen. Viele Listenmitglieder werden nur in das eine oder andere Interview hineinschauen wollen, weil sie den Gesprächspartner persönlich kennen oder mit ihm durch gemeinsame Forschungsinteressen verbunden sind. Um sich ein Gesamtbild der verschiedenen Reaktionsformen dieser enorm produktiven Nachkriegsgeneration zu machen, ist jedoch gerade wegen ihrer inhaltlichen und argumentativen Unterschiedlichkeit die Lektüre aller Texte notwendig. Durch ihren persönlichen Stil wollen die Gespräche zu Kommentaren oder Einwänden anregen, die sich hoffentlich zu einer breiten Diskussion über das Ausmaß der Kollaboration von Historikern mit dem Nationalsozialismus, über das Problem des kollektiven Beschweigens in der Nachkriegszeit oder über den Tenor der gegenwärtigen Debatte entwickeln werden. In Erwartung einer lebendigen Auseinandersetzung von durchaus unterschiedlichen Standpunkten soll diese Interviewserie ein wissenschaftliches Diskussionsforum für diese schwierigen, die Vergangenheit der deutschen Historikerschaft belastenden Fragen bieten.

Natürlich sind der H-Soz-u-Kult-Redaktion nicht nur elaborierte Diskussionsbeiträge willkommen, sondern auch Hinweise auf Erinnerungslücken, inhaltliche Ergänzungen auf Grundlage eigenen Erlebens und Korrekturen zu einzelnen Interviewpassagen. Mit diesen einleitenden Bemerkungen möchten wir Sie ermuntern, sich selbst mit weiteren Informationen oder eigenen Stellungnahmen zu beteiligen. Das elektronische Forum soll und darf hier auch seine Stärken gegenüber dem konventionellen Publikationsweg ausnutzen. Vielleicht stellen Sie die 'Fragen, die nicht gestellt wurden'?

5. Anmerkungen zur Veröffentlichungspraxis

Eine erste Gruppe von Interviews wird im folgenden zur Diskussion gestellt. Sobald die nächsten Gespräche stattgefunden haben und die Transkriptionen ediert und freigegeben worden sind, werden weitere Texte in lockerer Reihenfolge folgen. Mit den nachfolgend gelisteten Historikerinnen und Historikern wurden in den vergangenen Wochen bzw. werden demnächst Interviews unter dem Motto "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren" geführt.

Name Geburtsjahr Interviewtermin
Fischer, Wolfram 1928 18.05.99
Gall, Lothar 1936 16.06.99
Geiss, Imanuel 1931 19.02.99
Grebing, Helga 1930 19.01.99
Kocka, Jürgen 1941 15.06.99
Lehmann, Hartmut 1936 27.04.99
Mommsen, Hans 1930 03.02.99
Mommsen, Wolfgang 1930 25.02.99
Ritter, Gerhard A. 1929 03.07.99
Rürup, Reinhard 1934 02.02.99
Saldern, Adelheid von 1938 06.07.99
Schieder, Wolfgang 1935 12.03.99
Schulze, Winfried 1942 in Vorbereitung
Stürmer, Michael 1938 25.03.99
Vierhaus, Rudolf 1922 27.04.99
Wehler, Hans-Ulrich 1931 04.02.99
Winkler, Heinrich August 1938 03.03.99

Der gesamte Vorgang der Veröffentlichung kann daher einige Monate dauern. Die Listenmitglieder können aber jederzeit zu den einzelnen Interviews oder den darin angesprochenen Problemen Stellung nehmen.

Veröffentlichungsablauf:

  1. Die Interviewpassagen zu den Standardfragen, die Sie abschließend aufgelistet finden, werden in den kommenden Wochen in unregelmäßiger Folge über die Mailingliste veröffentlicht.
  2. Parallel zur Verteilung über die Mailingliste wird das Interview in voller Länge, also inkl. des biographischen Abschnitts, auf den Webserver von H-Soz-u-Kult kopiert und damit einsehbar (Zugang über Link auf der Homepage von H-Soz-u-Kult: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de)
  3. Auf dem Webserver finden Sie zudem auch eine knappe Auswahlbiographie und eine biographische Skizze zu den Interviewten, um die Lektüre durch einige Hintergrundinformationen zu erleichtern.

Frageraster für den "Standardteil":

  1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?
  2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen", wie im Falle Conze und Schieder, durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?
  3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?
  4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?
  5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?
  6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?
  7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?
  8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streits in der Historikerzunft?

Die Veröffentlichung der sehr unterschiedlichen Interviewtexte erlaubt einen seltenen Einblick in den Erfahrungshorizont, der hinter den wissenschaftlichen Werken von Historikern steht und ihre Interpretationen mit beeinflußt. In vielen Antworten wird die Betroffenheit der Gesprächspartner über die Brüche der deutschen Geschichte, die für sie prägende lebensgeschichtliche Konsequenzen gehabt haben, überaus deutlich. Dieses Mitleiden an den Konsequenzen des Dritten Reichs ist ein zentrales Motiv der Nachkriegsgeneration für ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit. Allerdings ergeben sich aus dieser gemeinsamen Grunderfahrung durchaus unterschiedliche Reaktionsmuster und historische Erklärungsversuche, die stark von den jeweiligen vorwissenschaftlichen Wertvorstellungen bedingt sind. Trotzdem machen diese Interviews deutlich, daß Historiker nicht nur in postmoderner Beliebigkeit aus den Trümmern früherer Zeiten ihre Geschichte konstruieren, sondern daß ihre Arbeit einen methodisch kontrollierten, rationalen Prozeß der Verarbeitung und Diskussion verlangt. Die Herausforderung der Debatte über das Verhalten der Historiker im Nationalsozialismus und des darauffolgenden Verschweigens besteht darin, diese Grundsätze auch auf schmerzliche Verfehlungen der eigenen Disziplin anzuwenden. Wegen der Emotionalität der Debatte wird es nicht immer leicht sein, eine klare Verurteilung von aktenkundigem Vergehen mit einem differenzierenden Verständnis für die Umstände einer anderen Zeit zu verbinden.

 

 

Anmerkungen:

[1] Johannes Fried: Eröffnungsrede zum 42. Deutschen Historikertag, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 869-874.

[2] Die Texte dieser Auseinandersetzung werden im Herbst d.J. in einem Sammelband unter dem Titel "Deutsche Historiker im Nationalsozialismus" veröffentlicht, der von Otto Gerhard Oexle und Winfried Schulze herausgegeben wird.

[3] Vgl. dazu als aktuelle Bestandsaufnahme: Georg G. Iggers, Konrad H. Jarausch, Matthias Middell, Martin Sabrow (Hrsg.): Die DDR-Geschichtswissenschaft als Forschungsproblem, München 1998 (= Beiheft 27 der Historischen Zeitschrift).

[4] Hier können nur einige ausgewählte Titel der Veröffentlichungswelle angeführt werden: Michael Burleigh: Germany turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988; Angelika Ebbinghaus / Karl Heinz Roth: Vorläufer des "Generalplans Ost". Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 1992, H. 1, S. 62-94; Willi Oberkrome: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; Götz Aly: "Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995; Ursula Wolf: Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996; Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt am Main/New York 1996; Peter Schöttler (Hrsg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt am Main 1997; Götz Aly: Macht - Geist - Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997; Willi Oberkrome: Historiker im "Dritten Reich", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 50 - 1999, S. 74-98; Mathias Beer: Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, H. 46/3, 1998; Mathias Beer: Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hintergründe - Entstehung - Ergebnis - Wirkung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 50 - 1999, S. 99-117; Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" von 1931-1945, Baden-Baden 1999.

[5] Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Karl Ferdinand Werner: Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft, Stuttgart [u.a.] 1967.

[6] Daniel J. Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust (aus d. Engl. v. Klaus Kochmann), Berlin 1996.

[7] Joachim Petzold: Parteinahme wofür? DDR-Historiker im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft, in: Martin Sabrow / Waltraud Petzold (Hrsg.): Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Fallanalysen zum Umgang mit der Vergangenheit in der frühen DDR, Köln 1999 (im Druck).

[8] Karl Martin Bolte (Hrsg.): Soziologie als Beruf. Erinnerungen westdeutscher Hochschulprofessoren der Nachkriegsgeneration, Baden-Baden 1998 (= Soziale Welt / Sonderband 11). Den Wandel der Geschichtsbilder und die Entwicklung der Geschichtsphilosophie seit Beginn des Jahrhunderts im Spiegel autobiographischer Texte behandelt das Buch von Michael Jaeger: Autobiographie und Geschichte: Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Stuttgart [u.a.] 1995.

[9] Peter Gay: My German question: growing up in Nazi Berlin, New Haven [u.a.] 1998; Felix Gilbert: Lehrjahre im alten Europa: Erinnerungen 1905 - 1945, Berlin 1989; Werner T. Angress: Generation zwischen Furcht und Hoffnung: Jüdische Jugend im Dritten Reich, Hamburg 1985 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Beiheft 2). Weitere Beispiele: Peter Alter (Ed.): Out of the Third Reich: refugee historians in post-war Britain, London [u.a.] 1998; Fritz Ernst: Im Schatten des Diktators: Rückblick eines Heidelberger Historikers auf die NS-Zeit, hrsg., eingeleitet, erl. und mit einem Quellenanhang versehen von Diethard Aschoff, Heidelberg 1996.

[10] Irene Runge / Uwe Stelbrink: "Ich bleibe Emigrant": Gespräche mit George L. Mosse, Berlin 1991; Hajo Funke: Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil, unter Mitarb. von Hans-Hinrich Harbort, Frankfurt am Main 1989.

[11] Karsten Rudolph (Hrsg.): Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie: Festschrift für Helga Grebing, Essen 1995; Hartmut Lehmann (Hrsg.): Erinnerungsstücke. Wege in die Vergangenheit: Rudolf Vierhaus zum 75. Geburtstag gewidmet, Wien [u.a.] 1997; Gerald Diesener (Hrsg.): Historiographischer Rückspiegel: Georg G. Iggers zum 70. Geburtstag, Leipzig 1997.

[12] "Von der Alten Geschichte zur Politikwissenschaft." Karl Dietrich Bracher im Gespräch mit Werner Link, in: Neue Politische Literatur, 2.1997, S. 257-274; "Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte." Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, in: Neue Politische Literatur, 2.1998, S. 187-205.

[13] Ausnahmen stellen die beiden folgenden Sammelbände dar: Aus einem deutschen Leben. Lesearten eines biographischen Interviews. Von Christian Geulen; Volkhard Knigge; Alf Lüdtke; Oliver Sill; Karoline Tschuggnall; Harald Welzer; Dorothee Wierling, hrsg. v. Christian Geulen; Karoline Tschuggnall, Tübingen 1998 (= Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord, 00002); Auf den Trümmern der Geschichte. Gespräche mit Raul Hilberg, Hans Mommsen, Zygmunt Bauman, Vorw. u. hrsg. v. Harald Welzer, Tübingen 1999 (= Studien zum Nationalsozialismus in der edition diskord, 00003).

[14] Die folgende Aufstellung belegt diese abweichende Praxis nur exemplarisch:
- Frankreich:
Pariser Gespräche mit Michel Foucault. Geführt von François Ewald, Berlin1989; Pierre Nora (Hrsg.): Leben mit der Geschichte: vier Selbstbeschreibungen [Pierre Chaunu, Georges Duby, Jacques LeGoff, Michelle Perrot], Frankfurt am Main 1989; Fran
çois Chatelet: Une histoire de la raison: entretiens avec Emile Noel, Paris 1992; Georges Duby: Passions communes: entretiens avec Philippe Sainteny, Paris1992; Paul Veyne: Le quotidien et l'interessant: entretiens avec Catherine Darbo-Peschanski, Paris 1995; Jacques LeGoff: Une vie pour l'histoire: entretiens avec Marc Heurgon, Paris1996.
- Großbritannien:
Henry Abelove / MARHO (Organization) (Eds.): Visions of history. "Interviews with E.P. Thompson, Eric Hobsbawm, Sheila Rowbotham, Linda Gordon, Natalie Zemon Davis, William Appleman Williams, Staughton Lynd, David Montgomery, Herbert Gutman, Vincent Harding, John Womack, C.L.R. James, Moshe Lewin.". Includes bibliographies and index, New York1983; Interviews with historians: Eric Hobsbawm [videorecording], London: Institute of Historical Research, 1988; Interviews with historians: Peter Laslett [videorecording], London: Institute of Historical Research 1990; Interviews with historians Third series: Interviews with Asa Briggs, Michael Howard, Rosalind Mitchison, Harold Perkin, Marjorie Reeves, Christopher Smout, Edward Thompson, and Hugh Trevor-Roper, London: University of London, Institute of Historical Research 1995.
- USA:
Joseph Campbell: The power of myth, New York1991; Roger Adelson (Ed.): Speaking of history: conversations with historians, East Lansing1997; Roger Mudd: American Heritage great minds of history, New York1999; Howard Zinn: The future of history: interviews with David Barsamian, Monroe 1999.
- Österreich / Schweiz / sonstige Länder:
Hermann Baltl (Hrsg.): Recht und Geschichte: Ein Beitrag zur österreichischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit. Zwanzig Historiker und Juristen berichten aus ihrem Leben, Sigmaringen 1990; Klara Obermüller im Gespräch mit Jean Rudolf von Salis. Dem Leben recht geben, Zürich, 2. Aufl. 1993; Ernst Hans Gombrich: A lifelong interest: conversations on art and science with Didier Eribon, London 1993; Zin in geschiedenis. Ian Nauta in gesprek met historici, Utrecht1986; Nancy Elizabeth Gallagher (Ed.): Approaches to the history of the Middle East: interviews with leading Middle East historians, Reading1994; Leonard Blussé / Frans-Paul van der Putten / Hans Vogel (Ed.): Pilgrims to the past. Private conversations with historians of European expansion, Leiden 1996.

[15] Kurt v. Kluxen / Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 60. Geburtstag, München 1968; Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Kultur und Krieg die Rolle der Intellektuellen. Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Historiker, Göttingen 1973 (5 Bde.); Ders.: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum "Historikerstreit", München 1988; Ders.: Politik in der Geschichte. Essays, München 1998.

[16] An der Seite von Theodor Schieder ist Lothar Gall seit 1975 Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift (HZ) und seit 1984 alleiniger Herausgeber.

[17] Vgl. dazu jüngst Michael Fahlbusch: "Entzauberung der Welt der Wissenschaft", in: Frankfurter Rundschau, 8. Juni 1999.

[18] Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989 (= Beiheft HZ N.F. 10) und als Taschenbuch bei dtv: München 1993; Georg Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Wien Neuaufl. 1997; Ders.: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang. Mit einem Nachwort, Göttingen 2. durchges. Aufl. 1996.

[19] Klaus Schwabe / Rolf Reichardt / Reinhard Hauf: Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard 1984 (= Schriften des Bundesarchivs, 33).

[20] Einige wenige Studien zu einzelnen Phasen liegen allerdings schon vor, wie z.B. zur Geschichte der HZ im Dritten Reich: Ursula Wiggershaus-Müller: Nationalsozialismus und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte der Historischen Zeitschrift und des Historischen Jahrbuchs 1933 - 1945, Hamburg 1998.

[21] Martin Broszat: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: Hermann Graml / Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat, München 1986, S. 159-173; Saul Friedländer: Überlegungen zur Historisierung des Nationalsozialismus, in: Dan Diner (Hrsg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt 1987, S. 34-50; Martin Broszat / Saul Friedländer: Um die "Historisierung des Nationalsozialismus". Ein Briefwechsel, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 36. Jg. (1988), S. 339-372.

Datum der letzten Überarbeitung: 15.06.1999


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