L. Fasora u.a. (Hrsg.): Obcanske elity a obecni samosprava 1848 – 1948

Cover
Titel
Občanské elity a obecní samospráva 1848 – 1948 [Bürgerliche Eliten und Gemeindeselbstverwaltung 1848 – 1948].


Herausgeber
Fasora, Lukáš; Hanuš, Jiř í; Malíř , Jiř í
Anzahl Seiten
388 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Miloš Řezník, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz

Die Erforschung von gesellschaftlichen Eliten gehört in der tschechischen Historiographie zu den relativ neuen Themen, die, beginnend in den 1990er-Jahren, intensiver erst nach 2000 bearbeitet werden. Die Kategorie der Eliten wurde nach der Wende relativ schnell in der Politikwissenschaft und der Soziologie aufgegriffen1, doch es handelte sich bis auf Ausnahmen um wenig konzeptualisierte Begriffe, die zumeist lediglich soziometrischen Forschungen und Umfragen über positionelle Eliten dienten. Aus diesem Grund stammten die Inspirationen für die tschechische historische Elitenforschung nicht aus der tschechischen Soziologie und Politologie, sondern aus dem Ausland, in der Regel aus der Historiographie. Stärker ausgewirkt haben sich diese Einflüsse einerseits auf die neue tschechische, mehr sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Adelsforschung.2 Andererseits können Eliten in neueren Forschungen zu Bürgertum, Selbstverwaltung und Repräsentationssystemen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, aber auch im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit nachgewiesen werden.3 Typisch für diese Forschungsschwerpunkte ist, dass sie sich zwar immer häufiger auf den Begriff der Eliten beziehen, ihn dennoch nur in Ausnahmefällen4 auch im konzeptuellen Sinne diskutieren oder entwickeln.

All diese Umstände treten in dem anzuzeigenden Sammelband über bürgerliche Eliten und Gemeindeselbstverwaltung zwischen 1848 und 1948 deutlich hervor: Sichtbare Entfaltung der diesbezüglichen Forschungen, wachsende Verknüpfung einzelner Forschungsvorhaben und Kommunikation zwischen den Wissenschaftlern, eine gewisse, wenn auch beschränkte Internationalisierung, Konzeptualisierungsansätze und doch oftmals eine eher intuitive Arbeit mit Elitenbegriffen sind Eindrücke, die die Veröffentlichung insgesamt vermittelt. Die Textsammlung basiert auf einer 2006 in Brno/Brünn abgehaltenen Tagung, woraus sich auch die Vielfalt an Teilthemen sowie die Tatsache erklärt, dass in einigen Beiträgen nur mühsam oder indirekt Bezüge zum Titelthema zu finden sind, insbesondere dann, wenn man eine durchdachte thematische Verknüpfung beider Perspektiven – der Eliten und der Selbstverwaltung – erwartet.

Andererseits jedoch weist ein großer Teil der Aufsätze eine relativ hohe gegenseitige Kompatibilität und Kohärenz auf. Dies betrifft vor allem – und logischerweise – die einführende Betrachtung und diejenigen Fallstudien, die sich auf das Projekt direkt oder indirekt beziehen, in dessen Rahmen die Brünner Tagung organisiert und der Sammelband herausgegeben wurde. Lukáš Fasora und Pavel Kladiwa versuchen im ersten Beitrag, die Ausgangspunkte, Methoden, Inspirationen, Thesen und Zwischenergebnisse des Projektes zu schildern, das sich mit dem Problem der bürgerlichen Eliten und der Selbstverwaltung vornehmlich in mährischen und österreichisch-schlesischen Städten beschäftigt. Stellenweise ist hier sogar von der „mährischen Schule“ die Rede, was jedoch nicht nur mit dem Forschungsfeld zu begründen ist, sondern auch – in der Überzeugung der Autoren – in den Herangehensweisen, die in Mähren viel stärker als die Ansätze der meisten anderen tschechischen Forscher zu diesem Thema auf bezifferbare und statistische Angaben setzen. Die Begründung für diese Orientierung wirkt allerdings zum Teil naiv (so wird bezüglich der Diskussion der Unterschiede zwischen der „Frankfurter“ und der „Bielefelder“ Forschung unter anderem die Meinung vertreten, die Ergebnisse der Bielefelder Forschungen seien „wegen einer starken Tendenz zu Überlappungen aus dem Gebiet der Kultur- und Mentalitätsgeschichte nicht ausreichend überzeugend“, S. 11f.), um so mehr, da sich auch die „mährischen“ Projektteilnehmer keinesfalls auf Statistik und Prosopographie beschränken und die kulturgeschichtlichen und lebensweltlichen Aspekte stellenweise reichlich berücksichtigen – und das durchaus zum Wohl des Projektes.

Internationalität als Anspruch spiegelt sich verstärkt nicht nur in der Viersprachigkeit des Sammelbandes mit Aufsätzen in Tschechisch, Deutsch, Slowakisch und Polnisch sowie tschechischen und deutschen Zusammenfassungen, sondern auch und vor allem im einführenden Teil. Unter dem Titel „Bilanz des Forschungsstandes“, werden neben Forschungsberichten auch methodische und konzeptuelle Überlegungen veröffentlicht. So beschäftigen sich Jiří Pešek und Hana Svatošová (beide Prag) mit einigen Grundsatzproblemen der Beziehung zwischen Selbstverwaltungseliten und Staat bzw. Bürokratie in mitteleuropäischen Metropolen zwischen 1848 und 1918, die sie als Grundlage für einen regionalen Vergleich anbieten. Peter Urbanitsch (Wien) berichtet ausführlich und strukturiert über (zumeist österreichische) Forschungen zu bürgerlichen Eliten, Modernisierung und Wertewandel in Mittel- und Kleinstädten Cisleithaniens. Zu den eindrucksvollsten Aufsätzen des Sammelbandes gehört sicherlich der Beitrag über die Konzepte der regional- und lokalhistorischen Forschung in Niederösterreich von Stefan Eminger (St. Pölten). Unter der Trias der Label Heimat – Region – Identität charakterisiert er gewiss vereinfachend und methaphorisch, aber sehr prägnant und pointiert zentrale methodische Ansätze und ideologische Zusammenhänge in diesen Forschungsfeldern.

Im zweiten Teil des Bandes finden sich unter dem Titel „Selbstverwaltung in Theorie und Praxis“ einerseits diskursanalytische und ideengeschichtliche Beiträge, andererseits Aufsätze über das Funktionieren der Selbstverwaltung (allerdings nicht nur auf der Gemeindeebene). Jiří Štaif (Prag) vermittelt eine knappe Übersicht über Idealkonstruktionen der Gemeinde in tschechischen Erziehungsschriften des 19. Jahrhunderts. Luboš Velek (Prag) hinterfragt die These, nach der die tschechische Selbstverwaltung a) als Ersatz für den nichtexistierenden Nationalstaat (und eine nicht existente genuin tschechische Staatsverwaltung) sowie b) als Vorstufe der nationalstaatlichen Selbstständigkeit anzusehen sei, die es ermöglichte, Fachkräfte mit enstprechenden verwaltungsrechtlichen, praktischen und politischen Erfahrungen zu generieren. Jiří Malíř (Brünn) untersucht am Beispiel Mährens die Verbindungen zwischen dem Engagement in der Selbstverwaltung auf der Gemeinde- und Bezirksebene einerseits und Abgeordnetenkarrieren im mährischen Landtag und österreichischen Reichsrat andererseits. Milan Hlavačka (Prag) analysiert Probleme der Bezirksselbstverwaltung in den Landbezirken Böhmens, die zu den vernachlässigten Themen der tschechischen Verwaltungs- und Politikgeschichte gehört. Im Anschluss an die Fokusierung seiner Studien auf die Person des Fürsten Georg Christian Lobkowicz konstatiert er unter anderem einen enormen Anteil der Aristokratie an der Arbeit der Selbstverwaltungsorgane in den Bezirken. Aleš Vyskočil (Brünn) befasst sich am Beispiel der mittelmährischen Stadt Prostějov mit den schwierigen, durch Konkurrenzen und Kompetenzstreitigkeiten gekennzeichneten Beziehungen zwischen der Gemeindeselbstverwaltung und der österreichischen Staatsverwaltung sowie mit den Folgen, die sich für diese Beziehung im nationalen Kontext aus der Übernahme der Selbstverwaltung durch die tschechischen Lokalpolitiker ergaben. Lukáš Fasora (Brünn) schildert dann die Entstehung und Entwicklung des Brünner Munizipalsozialismus in den Jahrzehnten um 1900. Vor dem Hintergrund der modernen Urbanisierungsprozesse im industriellen Ballungszentrum Brünn, des Aufstiegs der Sozialdemokratie und der damit zusammenhängenden Herausforderungen für die liberale Politik stellt er die Frage, inwieweit diese Gemeindepolitik eine Plattform für eine begrenzte Zusammenarbeit zwischen den bürgerlich-liberalen und den Arbeiterführungsgruppen darstellte.

Der dritte Abschnitt des Bandes ist problemorientierten Fallstudien über Zusammensetzung und Funktionieren der Selbstverwaltungsgremien, -institutionen und -organe in den meist mährischen Städte der zweiten Hälfte des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts gewidmet. Gerade hier weist die Mehrzahl der Artikel eine vordergründig statistische Orientierung und gegenseitige Kohärenz auf. Pavel Cibulka (Brünn) beschäftigt sich ausführlicher mit der Kommunalpolitik in Královo Pole (Königsfeld) bei Brünn unter besonderer Berücksichtigung der Probleme und Ambivalenzen, die sich aus der tschechischen Selbstverwaltung dieser Gemeinde in der Nachbarschaft zum „deutschen“ Brünn ergaben. Jiří Kořalka (Prag) schildert den Charakter der wirtschaftlichen Elite in der durch das ländliche Umfeld geprägten südböhmischen Stadt Tábor. Durch seine Orientierung auf Personen, politische Entwicklungen und Aspekte des Alltaglebens unterscheidet sich Kořalkas Ansatz von dem seiner mährischen Kollegen. Martin Markel (Brünn) beschäftigt sich in seinem Aufsatz über Lokaleliten im südmährischen Znojmo (Znaim) ausführlich mit der Frage, welche Elemente der Peripherität dieses Regionalzentrums der ländlichen Gebiete an der Thaya, oder aber welche Bezüge auf die Zentralregionen um Wien und Brünn von Bedeutung für ihre lebensweltliche Orientierung waren.

Der Sammelband ist sicherlich nicht frei von problematischen Punkten, die geradezu typisch für viele Tagungsbände sind: in einem Teil der Beiträge ein fehlender oder nur indirekter Bezug auf das im Titel sowie in der Einführung dargestellte Problemthema und die Fragestellung, oft auch ein eher unreflektierter Umgang mit zentralen Begriffen und Konzepten. Ungeachtet dieser Kritikpunkte müssen der Gesamteindruck und das Fazit nach der Lektüre des Brünner Sammelbandes positiv ausfallen, denn den Herausgebern ist es gelungen Aufsätze zu vereinen, die im konzeptuellen, interpretatorischen und/oder materiellen Sinne einen hohen Wert besitzen und besondere Aufmerksamkeit verdienen. Es ist auch gelungen, in einem ausgewogenen Maße Forschungsberichte, konzeptuelle Beiträge und Fallstudien zusammenzubringen. Man wird sich nicht nur auf viele dieser Ergebnisse in konkreten Fällen stützen müssen. Wer sich in der aktuellsten tschechischen Forschung zur lokalen Selbstverwaltung orientieren und dazu auch über viele internationale Zusammenhänge informieren will, kann diesen Band nicht ignorieren.

Anmerkungen:
1 Nur als Beispiele seit den 1990er-Jahren: Mišovič, Ján; Tuček, Milan, Pohled české veřejnosti na elity působící v politice a ekonomice [Die Ansicht der tschechischen Öffentlichkeit über die Eliten in der Politik und Wirtschaft], Praha 2003; Vajdová, Zdenka, Politická kultura lokálních politických elit. Srovnání českého a východoněmeckého města [Politische Kultur der lokalen politischen Elite. Ein Vergleich einer tschechischen und einer ostdeutschen Stadt], Praha 1997; Tuček, Milan u.a. (Hrsg.), České elity po patnácti letech transformace [Tschechische Eliten nach 15 Jahren Transformation], Praha 2006.
2 Beispielsweise Cerman, Ivo; Velek, Luboš (Hrsg.), Adelige Ausbildung. Die Herausforderung der Aufklärung und ihre Folgen, München 2006.
3 Fejtová, Olga; Ledvinka, Václav; Pešek, Jiří (Hrsg.), Pražské městské elity středověku a raného novověku – jejich proměny, zázemí a kulturní profil [Prager Stadteliten im Mittelalter und der Frühneuzeit – ihre Umwandlungen und kulturelles Profil], Praha 2004.
4 Pešek, Jiří, Pražské městské elity středověku a raného novověku. Úvodní zamyšlení [Prager Stadteliten im Mittelalter und der Frühneuzeit. Einführende Überlegungen], in: Fejtová, Olga; Ledvinka, Václav; Pešek, Jiří (Hrsg.), Pražské městské elity středověku a raného novověku – jejich proměny, zázemí a kulturní profil [Prager Stadteliten im Mittelalter und der Frühneuzeit – ihre Umwandlungen und kulturelles Profil], Praha 2004, S. 7–22; Svátek, František, Politické a sociální elity [Politische und soziale Eliten], Praha 2003.

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