Der Zeitzeuge: „Feind des Historikers“? Facetten der Zeitzeugenschaft im Kontext von „1968“

Der Zeitzeuge: „Feind des Historikers“? Facetten der Zeitzeugenschaft im Kontext von „1968“

Veranstalter
Prof. Ingrid Gilcher-Holtey; Silja Behre; Björn Lück; Sonderforschungsbereich 584 "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte"
Veranstaltungsort
Universität Bielefeld, Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF)
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.03.2010 - 19.03.2010
Von
Silja Behre

Gleicht die Zeitgeschichte Johann Wolfgang Goethes Zauberlehrling? Wird sie die Geister, die sie rief, nicht wieder los? Die Zeitgeschichte konstituierte sich als Disziplin über eine neue Quelle: die Mitlebenden, den Zeitzeugen. Betrachtet man die Erinnerung an „1968“, emanzipierten sich die Zeitzeugen von ihrer Rolle als Quelle, beanspruchten Deutungskompetenz und dominierten weitgehend die Debatte über das, was „1968“ war und aus ihm folgte. Spiegelt das Beispiel „1968“ einen allgemeinen Trend? Der Deutungsanspruch der Zeitzeugen und die ihnen in der Öffentlichkeit zunehmend attestierte Deutungskompetenz werden als Folge der „postmodernen Kritik am Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Erkenntnis“ (Konrad H. Jarausch) sowie der mit dem postmodernen Paradigmenwechsel verknüpften Ablösung des „Fortschrittsoptimismus“ durch eine „Erinnerungskultur“ (Hans Günter Hockerts) interpretiert. Verstärkt durch den „Einfluß der elektronischen Medien“, die häufig dem Zeitzeugen weiten Raum in ihrer Berichterstattung gaben, habe sich, so wird argumentiert, als „Paradoxon des kulturellen Historisierungsschubs“ seit den 1980er Jahren eine „schleichende Entmachtung der Historikerzunft“ (Martin Sabrow) vollzogen. Läßt sich daraus folgern, daß sich die Zeitgeschichte auf dem Weg „in ein Zeitalter nur mündlicher Geschichtsüberlieferung“ befindet, die als „Regression“ (Horst Möller) zu bewerten ist? Oder gilt es, sich vom Topos des Zeitzeugen „als Feind des Historikers“ zu befreien (Wolfgang Kraushaar)?

Der Freund-Feind-Topos, der die aktuelle Debatte prägt, vereinfacht die Problematik und verkennt die Facetten der Zeitzeugenschaft. Um die Rolle des Zeitzeugen zu erfassen, ist, so die Prämisse der Organisatoren des Workshops, Zeitzeugenschaft differenzierter zu betrachten, als es das Freund-Feind-Schema nahelegt. Erstens: Zeitzeugenschaft kann unterschiedliche Formen der Nähe und Distanz zum erinnerten Gegenstand zum Ausdruck bringen. Sie kann zwischen Partizipation und distanzierter Beobachtung oszillieren, so daß der Protagonist/Akteur vom Mitläufer, Mit(er)lebenden oder Zuschauer zu unterscheiden ist. Zweitens: Die jeweilige Zeitzeugenaussage kann im unmittelbaren Kontext der erinnerten Geschichte entstanden sein (Tagebücher, Briefe), aber auch eine zeitversetzte, retrospektive Rekonstruktion des Erlebten repräsentieren (Interviews, Oral History, autobiographische Skizzen). Je nach Entstehungszeit und Form des Zeugnisses sind divergierende Konstitutionsbedingungen, Sinngeneratoren, ideelle und materielle Interessen in Rechnung zu stellen. Drittens: Zeitzeugen konkurrieren in bezug auf ihre Deutung der Vergangenheit nicht nur mit der wissenschaftlichen Behandlung „ihrer“ Geschichte, sondern vor allem mit anderen Zeitzeugen. Es gilt, die Konkurrenz der Erinnerungen zu erfassen, die Bedingungen der Reklamation und Anerkennung von Sprecherpositionen sowie die Marginalisierung und Ausgrenzung von Zeitzeugenstimmen zu analysieren. Viertens: Auch Literatur kann Zeugnis ablegen. „Res fictae“ in Form von fiktionalen Texten (Gedichten, Dramen und Romanen) können „res factae“ symbolisch verdichten und historische Erfahrung sowie historisches Wissen vermitteln. Sie können folglich zentrale Träger von Erinnerungsdiskursen sein, so daß Zeitgeschichte im Spannungsverhältnis nicht nur zum Zeitzeugen, sondern auch zur Literatur der Gegenwart steht. Fünftens: Politikwissenschaft und Soziologie greifen aktuelle Ereignisse sowie gegenwartsbezogene Entwicklungsprozesse häufig vor der Zeitgeschichte auf, da für sie die Sperrfrist staatlicher Archive von 30 Jahren weniger gilt. Ihre Erhebungen und Analysen bieten sich als Referenz und Quelle einer selbstreflexiven, kritischen Zeitgeschichte an, die Quellen- und Methodenkritik zu ihren Grundlagen zählt. Last but not least kommt es, sechstens, gelegentlich vor, daß der Zeithistoriker auch Zeuge der von ihm untersuchten Problematik war, so daß Zeitgeschichte und Zeitzeugenschaft personell zusammenfallen. Der Workshop setzt sich zum Ziel, den Facettenreichtum von Zeitzeugenschaft am Beispiel der 68er Bewegung zu thematisieren.

Programm

Donnerstag, 18.3.2010, 9.30-17.30 Uhr, Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Bielefeld

I. Biographische Erfahrung und wissenschaftliche Arbeit. Zur Doppelrolle von Zeitzeuge und Wissenschaftler

9.30

Empfang

10.00-12.30

Gespräch mit Alain Krivine und Emmanuel Terray

Gesprächsleitung: Ingrid Gilcher-Holtey, Silja Behre und Björn Lück

Alain Krivine und Emmanuel Terray engagierten sich in den 1960er Jahren in politisch unterschiedlichen Gruppierungen. Worin unterschieden sich ihre Utopien und ihr Engagement? Wann und warum entschlossen sie sich, die Rolle des Zeitzeugen und Zeitdiagnostikers zu reklamieren? Welches Urteil fällen beide über die Stellungnahmen von Zeithistorikern bzw. anderen Zeitzeugen in ihrem Land zu „1968“?

Mittagspause

14.00-15.30

Gespräch mit Gerd Langguth

Gesprächsleitung: Ingrid Gilcher-Holtey, Silja Behre und Björn Lück

Gerd Langguth hat als Wissenschaftler nach Ende der Protestbewegung über die Ereignisse und ihre Folgen reflektiert und Deutungen vorgelegt. Stellte sich ihm seine Doppelrolle als Zeitzeuge und wissenschaftlicher Zeitdiagnostiker als Problem? Wie kristallisierten sich seine Erklärungsmuster sowie analytischen Bezugsrahmen heraus? Wann setzte der Prozeß der Rekonstruktion ein? Von welchen Deutungen grenzte er sich ab?

Kaffeepause

II) Mein „68“ – Biographische Selbstkonstruktion im Spiegel der Protestbewegung. Das Beispiel Literatur der Arbeitswelt

16.00-17.30

Einführung

Rainer Winter: Autobiographieforschung und Cultural Studies

Freitag, 19.3.2010, 9.00-12.30 Uhr, Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Bielefeld

9.00-11.00

Gespräch mit Erasmus Schöfer

Der Autor hat in seiner Tetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ eine Autopsie der deutschen Nachkriegszeit zwischen 1968 und 1989 unternommen. Politisch engagiert, mit Erfahrung in der Fabrikarbeit und als Mitbegründer des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, übernimmt er als Schriftsteller die Rolle des Zeitzeugen, Zeitdiagnostikers sowie des Zeithistorikers.
Zudem soll die Herangehensweise Schöfers abgeglichen werden mit Beispielen aus der französischen Literatur (vorgestellt von Silja Behre und Björn Lück):
Daniel Rondeau, Journalist und Romancier, sowie Robert Linhart, Soziologe, waren Protagonisten der Pariser 68er-Bewegung und haben in den 1970er Jahren ihre Erfahrungen aus der Bewegung der „Betriebsarbeiter“, der sogenannten „Établis“, literarisch verarbeitet (zu nennen sind beispielsweise „L´Enthousiasme“ und „L´Établi“).
Wir möchten diskutieren: Wie kommt Zeitgeschichte in den Roman? Welche Rolle spielt die eigene biographische Erfahrung für den und in dem Roman? Ist die Literatur die bessere Zeitgeschichte? Wird das, was von der Geschichte übrig bleibt, letztlich allein durch die Literatur transferiert?

Gesprächsleitung: Franziska Schößler

Kaffeepause

III. Ererbte Erinnerung – Zu innerfamiliären Tradierungsmustern in der 68er-Literatur

11.15-12.30

Marie-Claire Lavabre: Virginie Linhart – eine kritische Lektüre

Gesprächsleitung: Silja Behre und Björn Lück

In Deutschland und Frankreich hat seit einigen Jahren das Phänomen der schreibenden „68er-Erben“ – zumeist Kinder ehemaliger Akteure der Protestbewegung – die scheinbar mit der Elterngeneration „abrechnen“ wollen, Furore gemacht. Virginie Linhart, Richard David Precht und Sophie Dannenberg sollen hier exemplarisch im Rahmen einer Soziologie der kollektiven Erinnerung vorgestellt werden. Die historischen Ereignisse haben sie, wenn überhaupt, unbewusst in der frühen Kindheit miterlebt. Doch die den Protesten zugeschriebenen Folgen haben, so ihre These, Erziehung und Werdegang nachhaltig geprägt, und werden ex post einer literarischen Prüfung unterzogen. Wie erinnern die „Kinder des Protestes“ die Bewegung? Welchen Schemata unterliegt ihre autobiographische Konstruktion?

Kontakt

Silja Behre

sbehre@uni-bielefeld.de

0521-106-3241

sbehre@uni-bielefeld.de

http://www.uni-bielefeld.de/geschichte/forschung/sfb584/project/index.html
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