Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam

Projektgruppe "Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur" (Thomas Lindenberger)

Stand. 24.09.98

Prekaere Lebenslagen. Disziplinierung und Normalisierungsdruck in der Arbeitsgesellschaft DDR

Eine Tagung des Ost-West-Kollegs der Bundeszentrale fuer politische Bildungsarbeit (OWK) in Zusammenarbeit mit dem Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF)

25. - 28. Oktober 1998, in den Raeumen des OWK, Bruehl.

Tagungsleitung:

Dr. Horst Mueller, Bruehl
Dr. Thomas Lindenberger, Potsdam (lindenberger@zzf-pdm.de)

Wie in anderen modernen Gesellschaften gab es auch in der DDR Gruppen von Menschen, deren voruebergehende oder dauerhafte Lebenslage sie vom Rest der Gesellschaft abgrenzte, ohne dass dies in einer besonders privilegierten sozialen und wirtschaftlichen Position oder in ihrer erklaerten politischen Distanz zum Regime begruendet war. Die unvermeidlichen Probleme bestimmter Lebensphasen wie Pubertaet und Jugend oder hohes Alter passten nicht ohne weiteres in das Idealbild der harmonischen "sozialistischen Menschengemeinschaft", die sich ueber kollektive Arbeit und Produktion definierte. Auch Formen des Zusammenlebens, die nicht dem Muster der "vollstaendigen" Kleinfamilie entsprachen, standen im Gegensatz zu Normen des Zusammenlebens, die von Herrschenden wie der uebergrossen Mehrheit der Beherrschten gleichermassen geteilt wurden. Daneben gab es Gruppen von Menschen, deren Leben sich dauerhaft in besonderen Institutionen abspielte, die als sexuelle oder ethnische Minderheiten "anders" lebten oder aussahen als die Mehrheit, die aufgrund "abweichenden" Verhaltens zu besonderen Objekten der Sozialpolitik geworden waren oder die aufgrund von Behinderungen nicht ohne weiteres in das Raster der sozialistischen Arbeitsgesellschaft hineinpassten. Jugendliche, Wehrdienstpflichtige, Alte, Haeftlinge, Psychiatrie-Insassen, geistig und koerperlich Behinderte, aber auch Schwule und Lesben, auslaendische Vertragsarbeiter und andere Menschen auswaertiger Herkunft bis hin zu sogenannten "Asozialen" und "Arbeitsscheuen", aber auch alleinstehenden Muettern und Vaetern: Auch fuer diese Gruppen hielt die SED-Diktatur Konzepte der sozialen Kontrolle und Integration, der Anpassung und Disziplinierung bereit. Ihr Schicksal ist in den bisherigen Debatten ueber das Leben in der DDR eher am Rande behandelt und allenfalls von Betroffenen selbst untereinander diskutiert worden.

Auf der Tagung soll unter dem Gesichtspunkt "Disziplinierung und Normalisierungsdruck in der Arbeitsgesellschaft DDR" ueber diese Aspekte des DDR-Alltags informiert und diskutiert werden. Eroerterungen ueber "den" Alltag in der DDR sind mittlerweile zum festen Bestandteil der oeffentlichen Diskussionen ueber die Geschichte der zweiten deutschen Diktatur geworden, sei es in Reportagen, in den Enqueten von Parlamentskommissionen und in geringerem Umfang auch in der wissenschaftlichen Forschung. Ueberwiegend werden dabei die Lebensbedingungen von als "durchschnittlich" angenommenen "kleinen Leuten" dargestellt: Familien von Arbeitern und kleinen Angestellten, in denen beide Elternteile berufstaetig waren, fuer die der Betrieb nicht nur die wirtschaftliche Basis, sondern auch den sozialen und kulturellen Bezugsrahmen ihrer Existenz darstellte, umgeben von fuersorlicher Bevormundung durch Erziehungseinrichtungen und Massenorganisationen im Wohngebiet. Diese Betrachtungsweise hebt vor allem die Haltungen und Verhaltensweisen der mutmasslichen Mehrheit der Bevoelkerung hervor, die nicht im offenen Konflikt mit dem politischen System lebte, aber auch nicht zu dessen ueberzeugten Anhaengern und aktiven Traegern gehoerte. Oft ist sie verknuepft mit einer nostalgischen Verklaerung des sicheren, "guten" Lebens im realexistierenden Sozialismus, das mit seit der Vereinigung von vielen Ostdeutschen erfahrenen Benachteiligungen und Verlusten kontrastiert wird.

Aus mehreren Gruenden ist es legitim und notwendig, sich mit den verschiedenen Lebenslagen, die nicht ohne weiteres mit diesem Bild vom Lebens der "normalen" DDR-Buerger in Einklang zu bringen sind, zu befassen:

Das sehr stark auf einen vorgeblichen "Normalzustand" fixierte Bild der DDR-Gesellschaft ist zu praezisieren, indem soziale und biographische "Randlagen" im weitesten Sinne des Wortes dargestellt und analysiert werden. Dies ist notwendig, um auch diesen Menschen als durchgaengigem Teil der DDR-Geschichte in der historischen Betrachtung gerecht zu werden.

Beobachtungen und Reflexionen ueber die Stellung derartiger Gruppen in einer bestimmten Gesellschaft, ueber ihre Behandlung sowohl durch das oekonomische und politische System und dessen Funktionstraeger wie durch die Mehrheit der Bevoelkerung ermoeglichen Rueckschluesse auf die in dieser Gesellschaft vorherrschenden Normen und Wertvorstellungen. Diese erschoepften sich bekanntlich nicht in der durch die SED aufoktroyierten Programmatik von der "sozialistischen Menschengemeinschaft". Auch in der DDR-Gesellschaft wirkten im Umgang mit den genannten sozialen Gruppen und Problemen Einstellungen und Sichtweisen fort, deren Herkunft in der Entstehung der modernen Massengesellschaft im spaeten 19. und der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts zu suchen ist.

Die Beschaeftigung mit diesen auch in der historischen Rueckschau eher vernachlaessigten Bereichen sozialer Wirklichkeit bietet Ansatzpunkte fuer eine weiterfuehrende und vertiefende Diskussion der verschiedenen Theorien und Paradigmen, die der Analyse kommunistischer und - allgemeiner gefasst - totalitaerer Diktaturen zugrundegelegt werden koennen. Zu fragen waere insbesondere nach der Erklaerungskraft der Totalitarismustheorie(n), aber auch nach der Anwendbarkeit herrschaftstheoretischer Ansaetze, die extreme Formen sozialer Kontrolle und Disziplinierung bislang vornehmlich im Kontext westlicher Gesellschaften untersucht haben.

Schliesslich: Fuer die historische und moralische Bewertung eines politischen Systems - so wird hier vorausgesetzt - ist der Umgang mit Menschen, deren Lebenslage aus den verschiedensten Gruenden voruebergehend oder dauerhaft nicht der herrschenden Vorstellung vom "Normalitaet" entsprach, von zentraler Bedeutung; auch in ihm erweist sich erst das konkrete Verstaendnis von "Menschenwuerde", das in einem politischen System praktiziert wird.

Derartige Themen und Problemstellungen koennen erst seit der Vereinigung ungehindert erforscht und in der Oeffentlichkeit diskutiert werden. Auf aeltere, empirisch gesaettigte Arbeiten kann nur in wenigen Faellen zurueckgegriffen werden. Werkstattberichte aus laufenden Forschungen werden daher bei der Tagung eine wichtige Rolle spielen, was zugleich jungen Nachwuchswissenschaftler/innen die Gelegenheit geben wird, ihre Arbeit vorzustellen. Ausserdem werden Betroffene als Referenten aus ihrer Erfahrung berichten. Ausgewiesene Vertreter der Zeitgeschichte bzw. Sozialwissenschaften werden in theoretischen Reflektionen die verallgemeinerbaren Dimensionen des Tagungsthemas darstellen.

Die Tagung dient der Vermittlung von Ergebnissen der wissenschaftlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und richtet sich dabei insbesondere an Multiplikatoren in der politischen Bildungsarbeit. Natuerlich sind aber auch Interessierte aus Wissenschaft, Publizistik, Verwaltungen und Verbaenden herzlich eingeladen.

Tagungsprogramm:

Sonntag, 25. Oktober

Sektion I: Eroeffnungsvortrag

Montag, 26. Oktober

Sektion II: Lebensphasen: Jugend - Wehrdienst - Alleinerziehende - Alter

Sektion III: Erziehung durch Straf-Arbeit - Haeftlinge und "Assis"

Dienstag, 27. Oktober

Sektion IV: Minderheiten

Mittwoch, 28. Oktober

Sektion V: Bilanz der Tagung (Podiumsdiskussion)

(Aenderungen vorbehalten)

Die Teilnehmerzahl ist begrenzt. Zur Teilnahme ist eine bestaetigte Anmeldung erforderlich. Das Ost-West-Kolleg traegt die Reise- und Aufenthaltskosten bei einer Eigenbeteiligung der Teilnehmer von DM 50,- .

Interessenten wenden sich bitte an:

Dr. Thomas Lindenberger
Zentrum fuer Zeithistorische Forschung Potsdam e. V.
Am Kanal 4/4a
D - 14467 Potsdam
GERMANY
Tel.: +49 331 28991-16
Fax: +49 331 28991-60
e-mail: lindenberger@zzf-pdm.de


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Lindenberger <lindenberger@zzf-pdm.de>
Subject: Tagung: "Prekaere Lebenslagen..." / Bruehl - Okt. 1998
Date: 24.9.1998


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