Bild, Erzählung, Erinnerung. Visuelle Medien als Knotenpunkte faktualer und fiktionaler Erzählungen

Bild, Erzählung, Erinnerung. Visuelle Medien als Knotenpunkte faktualer und fiktionaler Erzählungen

Organisatoren
GRK 1767 Faktuales und fiktionales Erzählen, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Ort
Freiburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.10.2013 - 26.10.2013
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Von
Bettina Korintenberg, Romanisches Seminar, Universität Freiburg; Annette Schöneck, Deutsches Seminar, Universität Freiburg

Bild, Erinnerung und Erzählung – drei „Mega-Schlagworte“ der Kulturwissenschaft, die gleichzeitig auch Meta-Schlagworte sind, definierten die Thematik des Workshops. Alle drei verweisen auf Komplexe, die sowohl Inhalt als auch Form und Praxis kultureller Weltaneignung darstellen. In den größeren Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Faktuales und fiktionales Erzählen“ eingebunden, war den ReferentInnen im Kern daran gelegen, sich über den Modus des Bildlichen weiter an eine mögliche (oder nicht-mögliche) Unterscheidung von Faktualität und Fiktionalität anzunähern.

Ausgangspunkt war dabei, Erinnerung und Erzählung vom Bild aus in den Blick zu nehmen und nach dessen Funktion und Bedeutung innerhalb eines handlungspragmatischen Zusammenhangs zu fragen. Analysiert wurden praktische Ausgestaltungen des Verhältnisses von materiellen Bildern zu (evokativen) Bildern im Text und deren Relation zueinander. Bei diesen Integrations- und Umbildungsprozessen entsteht ein unsicherer Bereich, in dem die Beleuchtung von Bedeutungsverschiebungen zwischen tatsächlichem und symbolischem Bild als Zugang zur Drift zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen fruchtbar gemacht werden sollte.

Die funktionelle Einbindung von Bild und Erzählung im gesellschaftlichen Kontext ist maßgeblich für die Aufschlüsselung eines solchen Spannungsverhältnisses, und hiermit vollzieht sich der Brückenschlag hin zur Erinnerung. Jüngere Studien zum kulturellen Gedächtnis betonen die Zentralität von Mediatisierungen für die Herstellung von Kollektiverinnerungen als Erzählungen.1 In Erinnerungsmedien verdichten sich Ereignisse oft in einem Bild, das zur Medienikone wird.2 Bilder, so die These, sind wiederum für die Herstellung von kollektiver Erinnerung als Erzählung relevant: Sie besitzen Narrativität, und sie ermöglichen Narration – wie auch andererseits Erzählungen ein „Bild“ der Vergangenheit im kulturellen Imaginären ermöglichen.3

Als Keynotespeaker eröffnete ANDREW HOSKINS (Glasgow) mit seinem Vortrag „The Life and Death of the Image“ den Workshop. Das spannungsvolle Verhältnis von kollektivem Gedächtnis („collective memory“) und Massenmedien („mass media“) bildet den Schlüssel zu Hoskins Theorie eines „connective turn“, der unsere heutige Gesellschaft kennzeichnet. Neue Medien und Online-Vernetzungsplattformen machen Bilder zu einem immer und überall verfügbaren Gut. Der Akt der Produktion, der Reproduktion, der Sammlung und Archivierung wird dabei wichtiger als das mediale Produkt und dessen Rezeption. Hoskins prägt den Begriff des „new memory“ als eines fluiden Erinnerungsspeichers, der sich in ständiger Veränderung und Bewegung befindet. Die Bedeutung des Bildmediums selbst nimmt ab, wohingegen der pragmatische Aspekt, was wir mit Bildern tun, einen Bedeutungszuwachs erfährt.

BARBARA WODARZ leitete die erste Workshopsequenz (Freiburg) mit ihrem Vortrag „‚Sehendes Erzählen‘: Interaktionen zwischen Bild und Text“ ein. Als Strategie, Erinnerungen abzurufen und zu reinszenieren, leistet das ‚sehende Erzählen‘ einen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis. Als narrative Qualität bedeutet es, dass literarische Texte sprachlich einen deutlichen Fokus auf das ‚Sehen‘ legen, das dem Leser eine bildliche Imagination ermöglichen soll. Auf einer Metaebene reflektiert der Text damit die Chancen und Grenzen visueller Medien und macht die Ausdrucksmöglichkeiten der nicht-textuellen Medien für das an seine (sprachlichen) Grenzen stoßende literarische Schreiben fruchtbar. Barbara Wodarz erprobte dies an zwei Texten, die die Erinnerung an die Shoah thematisieren: Amélie Nothombs Acide sulfurique und Frédéric Bruns Perla. Das ‚sehende Erzählen‘ leistet hier nicht nur die Erinnerung an Unsagbares durch die Evokation von Bildern, wo die Sprache versagt, sondern konstituiert auch den Ausgangs- bzw. Ankerpunkt für Überlegungen zum Menschsein, zur Gesellschaft, zur gemeinsamen Vergangenheit, aber auch für das Nachdenken über eigene Werte, eigene Erlebnisse und den eigenen Schreibprozess.

In seinem Kommentar zu Barbara Wodarz’ Vortrag ging PETER KUON (Salzburg) auf den Zusammenhang der Shoahliteratur mit dem erzähltheoretischen Paradigma des ‚sehenden Erzählens‘ ein, indem er die Beschaffenheit der Erinnerung in Form von Erinnerungsbildern als Ausdruck eines traumatischen Gedächtnisses analysierte. Daran anschließend formulierte er die Frage, warum sich die zweite Generation der Überlebenden des ‚sehenden Erzählens‘ bediene. Mögliche Gründe scheinen die Orientierung an Zeugnisliteratur (Perla) oder der Ausdruck einer mediatisierten Bildwirklichkeit (Acide sulfurique), an die die Romane anschließen. Kuon beleuchtete den Zusammenhang von Unfassbarkeit/ Unsagbarkeit, Bildlichkeit und Banalisierung. Ein Bild als offenere und zugleich dichtere Form enthalte komprimiert mehr Information, jedoch eröffne sich dadurch das Dilemma, dass ein Bild einerseits Gefahr laufe, durch Sprache banalisiert zu werden, es aber andererseits versprachlicht werden müsse, damit es – als Ausdruck des traumatischen Gedächtnisses – nicht Albtraum bleibe.

Mit der anschaulichen Vergegenwärtigung der mittelalterlichen Geschichte beschäftigte sich ANNETTE SCHÖNECKS (Freiburg) Vortrag „Das Sehen von Geschichte – Literarische Geschichtsbilder im historischen Roman des 19. Jahrhunderts“. Im historischen Roman des 19. Jahrhunderts wird dem Leser Geschichte aus einer gegenwartsbezogenen Perspektive anschaulich vor Augen geführt, indem historische Ereignisse in Form literarischer Bilder präsentiert werden. Das besondere Augenmerk gilt der symbolischen Aufladung der anschaulichen Schilderung. Zum einen haben literarische Geschichtsbilder also den Anspruch, den historischen Gegenstand nach Quellenlage zu dokumentieren, zum anderen gehen sie über die bloße Dokumentation des historisch Wirklichen hinaus und besetzen ihn symbolisch, so dass zugleich das historische Geschehen für den Leser interpretiert und durch die Verdichtung in einem literarischen Bild mnemotechnisch abrufbar gemacht wird. Dies fordert eine Aktualisierung der Problematik durch den Leser; Geschichte wird in Form einer retrospektiven Teleologie zum politischen Instrument der Gegenwart.

Im Anschluss daran ging KIRSTEN DICKHAUT (Koblenz/Landau) auf die Frage ein, wie fiktionale Erzählungen visuelle Medien nutzen und gestalten, um Faktizität in spezifischer Weise zu vermitteln, sie für ein kollektives Gedächtnis zu nutzen. Durch den Rückgriff auf visualisierende Erzählstrategien nimmt der historische Roman Anleihen am medialen Modus eines fremden semiotischen Systems, der damit konstitutive Bedeutung für das eigene Feld gewinnt. Die Voraussetzung für textuelle Bildwahrnehmung liegt gerade darin, dass Texte und Bilder verschiedene semiotische Systeme sind, die durch unterschiedliche Formen der Visualität gekennzeichnet sind. In dieser Differenz liegt auch die Möglichkeit für die metaphorische Entfaltung des narrativ erzeugten Bildes. Wahrnehmungstechniken sind zudem grundsätzlich historisch und kulturell bedingt; dies gilt besonders für die voraussetzungsreichen, imaginativ erzeugten Bilder der historischen Romane.

NICOLE FALKENHAYNER (Freiburg) fragte in ihrem Vortrag „CCTV beyond surveillance: memory“ nach der kulturellen Relevanz von Überwachungskameraaufnahmen hinsichtlich kollektiver und subjektiver Erinnerungsbildung. Paradigmatische Bilder – etwa wie Prinzessin Diana und Dodi Al Fayed vor ihrem Tod durch die Drehtür das Ritz in Paris verlassen – werden zu Medienikonen. Als Film-Stills isoliert und in ein narratives Netz eingesponnen, verlieren sie ihren Status als Artefakt. Sie treten in eine Kippbewegung zwischen Faktualität und Fiktionalität ein. Es entstehen Hybridisierungsphänomene, die durch ihre fiktionalen und spekulativen Anreicherungen Rückschlüsse auf ein kollektives Imaginäres zulassen und gleichzeitig auf dieses einwirken.

JÖRN AHRENS (Gießen) setzte mit seinem Kommentar an den Grundlagen des Vortrags an, indem er den kulturellen und medialen Status von CCTV in die Diskussion einbrachte. CCTV verfügt, seiner Ansicht nach, über keine medialen Eigenschaften: Es handelt sich um ein hermetisch abgeschlossenes Bildreservoir, das nicht zirkuliert. Damit konstituiert es eine Ressource für Erzählungen; um zu erzählen, muss es erst in eine andere Rahmung übersetzt und den an sich ereignislosen Bildern eine Erzählung eingeschrieben werden. Für Ahrens sind die Bilder weniger Ikonen der Erinnerung als vielmehr Verifizierungsmarker und Ausdruck hegemonialer Strukturierungen unserer Wirklichkeit.

Mit der journalistischen Repräsentation der Finanzkrise beschäftigte sich PATRICK GALKES (Freiburg) Vortrag „Die Finanzkrise bebildern: Die narrative und rhetorische Funktion von Infographiken und Bildern“. Dabei geht er von einem Begriff der Krise als Übergangsphänomen aus, die durch ein Ereignis ausgelöst wird, das eine bis dahin gesellschaftlich wahrgenommene Normalität unterbricht. Eine Krise ist als Wendepunkt mit der sich ihr anschließenden Entwicklung, die die Möglichkeit eines positiven wie negativen Ausgangs in sich trägt, zunächst einmal neutral. Patrick Galke analysierte nun die suggestive Kraft, die Bilder und Grafiken für die Deutung dieses Wendepunktes in Nachrichtenmagazinen entwickeln. Neben einer starken Tendenz zur Personalisierung des abstrakten Ereignisses der Finanzkrise fällt auf, dass die Bebilderung der Krise auf im kulturellen Wissensvorrat vorhandene Topoi zurückgreift. Die verwendeten Infografiken unterstützen die Dramatisierung der Ereignisse. Diese Verknüpfungen von Infografik, Bild und Text suggerieren eine Eindeutigkeit, wo keine ist. Hoch komplexe historische Zusammenhänge und Prozesse fallen stark vereinfachenden und polarisierenden Argumentationsmustern anheim, die über visuell bekannte Schemata abgerufen bzw. unterstützt werden.

ANDREAS LANGENOHL (Gießen) ging im anschließenden Kommentar auf die Bedeutung der Zeitlichkeit für die Text-Bild-Interaktion ein. Zum einen soll der im Bild festgehaltene Moment einen narrativ dargestellten Verlauf illustrieren, zum anderen suggeriert die analogisierende Präsentation von Graphen die Annahme, Zeit sei reversibel. Dies scheint besonders problematisch, möchte man der spezifischen Historizität einer Krise Rechnung tragen. Eine solche Illustration der Krise läuft Gefahr, Abläufe vergleichbar zu machen, die in ihrer jeweils eigenen Struktur nicht vergleichbar sind. Von einer solchen Oberflächenmultiplikation zeugt auch der Umgang mit Photographien zur Illustration der Krise. Die rein oberflächliche Ähnlichkeit von Photographien wird genutzt, scheinbare Analogien zu ziehen, die illustrierenden Bilder lassen keinen Archetypus erkennen, sondern scheinen ubiquitär.

Den Workshop beschloss der Vortrag von BETTINA KORINTENBERG (Freiburg) „Gemälde fallen aus dem Rahmen. Akte der Bildaneignung in Manuel Mujica Lainez’ Erzählung ‘Un novelista en el Museo del Prado’“, bei dem sie sich mit der kontextuellen und institutionellen Rahmung von Bildern und Bildbedeutungen auseinandersetzte. Der Prado konstituiert einen paradigmatischen Ort der Manifestation und Repräsentation einer europäischen Kulturhegemonie. Bei der Bildbetrachtung und -rezeption durch den Protagonisten (‚novelista‘), der als Fremder aus der Ferne beschrieben ist, und der narrativen Aufnahme in den Text kommt es zu signifikanten Verschiebungen der repräsentativen Funktion der Bilder hin zu deren momenthafter Präsenz: Nachts erwachen die Bilder zum Leben, die dargestellten Figuren etc. verlassen ihre Rahmen. Die performative textuelle Bildbetrachtung wird zu einem Akt der Bildaneignung. Diese steht im Zeichen postkolonialer Re-Territorialisierung und dem Umschreiben fixierter Geschichtsvorstellungen, wie es die Konstellation Lateinamerika – Europa bereits im Protagonisten und im Setting andeutet.

MARKUS RAUTZENBERG (Berlin) machte in diesem Zusammenhang den Begriff der „Bildmagie“ stark, der jenseits der in den Bildwissenschaften prominenten oppositionären Theorielager vom Eigenleben des Bildlichen4 einerseits und dessen Reduktion als Instrument menschlicher Zeigehandlungen5 andererseits liegt. Die Spezifika des Bildlichen lassen sich, so Rautzenberg, über magische Bildepisteme herausarbeiten: Bilder können nicht allein über mimetische Qualitäten qua nachahmender Ähnlichkeit bestimmt werden. Bilder unterhalten ein komplexes Verhältnis zur Dimension der Zeit, das mit der auf Warburg zurückgehenden Idee des containment und der Bannung zu tun hat. Die wichtigsten Aspekte von Bildlichkeit sind jenseits der Sphäre optischer Sichtbarkeit angesiedelt.

Anschließend an den Vortrag von Markus Rautzenberg drehte sich die Abschlussdiskussion primär um die Frage nach dem medialen Status verschiedener Bildmodi. Besonders der Begriff des evokativen Bildes als intermediales Phänomen, das auf einen Visualität evozierenden Text zurückgeht, erschien den Teilnehmern lohnendes Desiderat einer Forschung, die die Mediendifferenz in ihrer zunehmenden Dynamisierung als Teil des Oszillierens zwischen selbst- und weltreferentiellen Erzählungen ernst nehmen will.

Konferenzübersicht:

Andrew Hoskins (Glasgow), The Life and Death of the Image

Barbara Wodarz (Freiburg), „Sehendes Erzählen“: Interaktionen zwischen Bild und Text
Kommentar: Peter Kuon (Salzburg)

Annette Schöneck (Freiburg), Das Sehen von Geschichte – Literarische Geschichtsbilder im historischen Roman des 19. Jahrhunderts
Kommentar: Kirsten Dickhaut (Koblenz / Landau)

Nicole Falkenhayner (Freiburg), CCTV beyond surveillance: memory
Kommentar: Jörn Ahrens (Gießen)

Patrick Galke (Freiburg), Die Finanzkrise bebildern: Die narrative und rhetorische Funktion von Infographiken und Bildern.
Kommentar: Andreas Langenohl (Gießen)

Bettina Korintenberg (Freiburg), Gemälde fallen aus dem Rahmen. Akte der Bildaneignung in Manuel Mujica Lainez’ Erzählung ‘Un novelista en el Museo del Prado’
Kommentar: Markus Rautzenberg (Berlin)

Anmerkungen:
1 Astrid Erll / Anne Rigney (Hrsg.), Mediation, Remediation, and the Dynamics of Cultural Memory, New York 2009.
2 Friedrich Lenger / Ansgar Nünning (Hrsg.), Medienereignisse der Moderne, Darmstadt 2008.
3 John Pier / José A. Garcia Landa (Hrsg.), Theorizing Narrativity, New York 2008.
4 Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Frankfurt 2010.
5 Lambert Wiesing, Sehen lassen: Die Praxis des Zeigens, Berlin 2013.


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