Sammeln – erschließen – vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv

Sammeln – erschließen – vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv

Organisatoren
Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.10.2013 - 26.10.2013
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Von
Susanne Rappe-Weber, Archiv der deutschen Jugendbewegung

Im Mittelpunkt der diesjährigen Archivtagung stand die Frage nach dem Umfeld des Sammelns und Bewahrens, in dem das Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) agiert. Die bündischen Strukturen der Jugendbewegung gaben die Basis für die vielen Sammlungen der Verbände und Privatpersonen ab, die hier zusammen geführt wurden. Für die jugendkulturellen Initiativen und sozialen Bewegungen der jüngeren Geschichte etwa seit den 1960er-Jahren aber, deren Organisationsstrukturen sehr viel loser sind, fehlt es bislang an einer Sammlungsstrategie.

Einleitend erörterte DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) mit Blick auf die 1960er- bis 1980er-Jahre die gestiegene Bedeutung der Kulturgeschichte als Erklärungspotential für historische Wandlungsprozesse. Um die Veränderungen in den Jugendkulturen zu verstehen, reiche es nicht aus, diese als soziale Bewegung aufzufassen. Vielmehr müssten Milieus, Lebensstile und Habitus in transnationaler Perspektive untersucht werden, um Phänomene wie den Jugendtourismus oder den Pop zu erklären. Die aus der traditionellen Jugendbewegung kommenden Jugendbünde hätten zu Beginn der 1970er-Jahre veraltet gewirkt. Zunehmend habe sich das Streben nach Selbstbestimmung, das Generationen verbindende Kernanliegen der Jugendbünde, in amorphen Strukturen ausgedrückt: über Festivals, Musikkonsum, Jugendzentren, Hausbesetzungen, Clubs und Kneipen im Spektrum einer sich ausdehnenden Alternativkultur. Auf die daraus resultierenden Herausforderungen für die Geschichtswissenschaft sollten die Archive eingehen, so Siegfrieds Forderung. Angesichts knapper Ressourcen müsse es Netzwerke geben, um die Selbstzeugnisse der Akteure, aber auch die Erzeugnisse verschiedener soziokultureller Richtungen zu bewahren und für die Forschung zugänglich zu machen.

Einblicke in ihre Wege zu historischen Quellen boten anschließend DAVID TEMPLIN (Hamburg) und ALEXANDER SIMMETH (Hamburg), die sich beide als Doktoranden an der Universität Hamburg mit Jugendkulturen der Zeitgeschichte auseinandersetzen. Templin hat für seine Arbeit über die Jugendzentrumsbewegung und daraus resultierende kommunalpolitische Konflikte der 1970er-Jahre eine Datenbank mit mehr als 1.000 Initiativen aufgebaut. Über strukturierte Verfahren hat er viel veröffentlichtes Material erhoben und unter anderem Stadtarchive ausgewertet – den eigentlich ergiebigen „Glücksfall“ stellte aber eine private Sammlung zur Geschichte der Jugendzentren dar, auf die er im Lauf der Recherchen stieß. Simmeth geht dem Thema „‚Krautrock‘1966-1982. Kristallisationspunkt auf dem Weg zu einer transnationalen Populärkultur“ nach. Er beklagte zunächst das im Unterschied zu den USA allgemein geringe Interesse an der Popmusik der 1960er- und 1970er-Jahre in Deutschland, das bereits zum Verlust wertvoller Sammlungen geführt habe. Während die Jugend- und Popkultur in den USA seit Jahrzehnten als etabliertes Sammlungsgebiet öffentlicher Bibliotheken gilt, ist Simmeth hier auf disparat vorliegende Nachlässe und Bestände unter anderem im Deutschen Kabarettarchiv in Mainz, im Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach und im Klaus-Kuhnke-Archiv für populäre Musik in Bremen angewiesen.

Der Mitarbeiter des Freiburger Archivs Soziale Bewegungen, MICHAEL KOLTAN (Freiburg), fragte, inwieweit der Begriff der Jugendkultur unter dem Aspekt des Wertewandels für das Sammlungsprofil seines Hauses fruchtbar gemacht werden könne, habe man sich doch bisher auf Unterlagen von Gruppierungen konzentriert, die sich für den politischen Protest gegen bestehende Zustände organisierten, etwa in der Anti-AKW-, in der Friedens- oder in der Frauenbewegung. Dagegen bildet im 1997 gegründeten Archiv der Jugendkulturen in Berlin die Nähe zu den aktuellen Jugendkulturen das Grundgerüst für die Sammlungstätigkeit, so KLAUS FARIN (Berlin). Um eine große Bandbreite veröffentlichter Materialien aus jugendkulturellen Szenen zu bekommen, gewinnt das Archiv ehrenamtliche Mitarbeiter aus deren Reihen, leitet sie zu beobachtender Teilnahme an oder bindet sie in eigene Forschungsprojekte ein.

Im Spektrum der mit Jugendkulturen und sozialen Bewegungen befassten Archive nimmt das Hamburger Institut für Sozialforschung insofern eine Sonderstellung ein, als sein unabhängiger Status und seine Ausstattung gesichert sind und das Sammlungsprofil frei entsprechend den Vorgaben des Stiftungsvorstandes erfolgen kann. Der Leiter, REINHART SCHWARZ (Hamburg), wies auf die gute Vernetzung des Archivs und den Schwerpunkt auf der Aktenerschließung hin, was dazu führe, dass dem Archiv interessante Unterlagen angeboten würden, ohne dass man dafür aktiv Akquise betreiben müsse. ROLF KOHLSTEDT (Göttingen) erörterte, was HistorikerInnen, die Jugendkulturen erforschen wollen, in einem Stadtarchiv wie dem der Universitätsstadt Göttingen erwarten können. Neben der punktuell überraschend dichten Überlieferung im Rahmen von Verwaltungsunterlagen, etwa zum städtischen Jugendzentrum im „Büro des Oberstadtdirektors“, wurden auch gezielt ergänzende Bestände eingeworben. Allerdings sind städtischen Archiven, die das kulturelle Geschehen in einer Stadt einschließlich der Alternativ- und Jugendkulturen umfassend dokumentieren wollen, äußerst enge Grenzen gesetzt, reichen die Ressourcen doch meist kaum zur Erfüllung der Pflichtaufgaben, so CHRISTIAN HEPPNER und CORNELIA REGIN (beide Hannover) vom Stadtarchiv Hannover. Am Beispiel der städtischen Frauengeschichte und der Erinnerungskultur in den Stadtteilen verdeutlichte Regin den notwendigen Aufwand, um in Kooperation mit den geschichtsinteressierten Akteuren zu guten archivischen Lösungen zu kommen. CORNELIA WENZEL (Kassel), Archiv der deutschen Frauenbewegung, und JÜRGEN BACIA (Duisburg), Archiv für Alternatives Schrifttum, referierten abschließend über die aktuelle Lage der etwa 100 Freien Archive in Deutschland, von denen sich viele vor der Aufgabe sehen, ihren Bestand langfristig zu sichern und dabei neue Wege zu gehen. Von großer Bedeutung zur Lösung der anstehenden Aufgaben sind die gute Verbindung untereinander, die seit 2003 im „Workshop Archive von unten“ praktiziert wird, und die Zusammenarbeit mit den öffentlichen Archiven im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare.

Die anwesenden Gäste, KollegInnen, ZeitzeugInnen und WissenschaftlerInnen betonten in der Abschlussdiskussion, wie notwendig es sei, jugendkulturellen Phänomenen einen Platz in Archiven einzuräumen und dafür Ressourcen bereitzustellen. Aus Sicht des Archivs der deutschen Jugendbewegung gehe es darum, danach zu fragen, wo nach 1960 außerhalb des traditionellen Spektrums „Jugendaufbruch“ und „Jugendbewegung“ stattgefunden habe. Das Angebot des AdJb, zusammen mit seinem Wissenschaftlichen Beirat entsprechende Fragestellungen zu bearbeiten 1 und sich in seiner Sammlungstätigkeit für entsprechende Überlieferungen zu öffnen, wurde begrüßt.

Konferenzübersicht:

Detlef Siegfried (Kopenhagen): Kulturgeschichte und Soziale Bewegungen im Archiv. Bestandsaufnahme und Perspektiven

David Templin (Hamburg): Wie die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung erforschen? Die Materialrecherche und ihre Probleme

Alexander Simmeth (Hamburg): „Krautrock“ – wie erforschen?

Michael Koltan (Freiburg): Jugendkultur, Jugendbewegung, Soziale Bewegungen – Versuch einer historischen Begriffsbestimmung

Klaus Farin (Berlin): Was wir unter „Jugendkultur“ verstehen und wie wir sie „sammeln“

Reinhart Schwarz (Hamburg): Jenseits staatlicher Institutionen und universitärer Forschung, doch nicht im Abseits – die Sondersammlung „Protest, Widerstand und Utopie in der Bundesrepublik Deutschland“

Rolf Kohlstedt (Göttingen): Jugendkultur und Soziale Bewegungen im Archiv einer Universitätsstadt

Cornelia Regin / Christian Heppner (Hannover): Grau und bunt. Jugendkultur und Soziale Bewegungen in einem großstädtischen Archiv

Jürgen Bacia (Duisburg) / Cornelia Wenzel (Kassel): Bewegung bewahren in Freien Archiven – Chancen und Probleme der Überlieferungssicherung

Wo sind und was wird aus nicht organisationsgebundenen Materialien von Jugendkulturen und sozialen Bewegungen?
Podiumsgespräch mit Cornelia Regin, Gudrun Fiedler und Susanne Rappe-Weber

Anmerkung:
1 Vgl. die Beiträge zum Themenschwerpunkt „Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert!“. Jugendbewegung und Kulturrevolution um 1968, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 4 / 2007 mit Beiträgen von Detlef Siegfried, Jürgen Reulecke, Meike Sophia Baader u.a.


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