G.E. Rusconi u.a. (Hrsg.): Parallele Geschichte?

Cover
Titel
Parallele Geschichte?. Italien und Deutschland 1945-2000


Herausgeber
Rusconi, Gian E.; Woller, Hans
Reihe
Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 20
Erschienen
Anzahl Seiten
575 S.
Preis
€ 118,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Janz, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Deutschland und Italien weisen in ihrer neueren Geschichte zahlreiche Parallelen und Verflechtungen auf – von der gemeinsamen Erfahrung der napoleonischen Herrschaft über die fast gleichzeitige Nationalstaatsbildung und den Ersten Weltkrieg bis hin zum Faschismus und Nationalsozialismus und dem Bündnis der beiden Regime. Deutschland und Italien sind daher immer wieder verglichen worden. In den letzten Jahren ist eine weitere Zunahme vergleichender und beziehungsgeschichtlicher Studien zur deutsch-italienischen Geschichte zu verzeichnen, was angesichts des Trends zu transnationalen Ansätzen und zur Europäisierung der Geschichtswissenschaft nicht erstaunen kann.1 Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiesen Deutschland und Italien viele Gemeinsamkeiten und Konvergenzen auf – von der ähnlichen Ausgangslage und der Last einer in vieler Hinsicht vergleichbaren Vergangenheit über die langjährige Hegemonie christdemokratischer Parteien, die Westintegration und die wichtige Rolle der beiden Länder im Prozess der europäischen Einigung bis hin zum fundamentalen Wandel der Gesellschaft durch Wirtschaftswunder, Amerikanisierung und Konsumgesellschaft. Die Geschichte der beiden Länder nach 1945 wird jedoch bisher nur selten verglichen. Auch ihre Verflechtungen, die wohl niemals stärker waren als in den letzten fünf Jahrzehnten, werden nur selten thematisiert, von der Erforschung der italienischen Arbeitsmigration nach Deutschland einmal abgesehen.

In diese Lücke stößt der vorliegende Sammelband.2 Er ist aus einer Studienwoche des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient im September 2002 hervorgegangen und enthält 25 Aufsätze, von denen acht vergleichend und weitere vier beziehungsgeschichtlich angelegt sind. Auf einführende Texte von Rusconi, Woller, Charles S. Maier und Jens Petersen folgen Aufsätze, die vor allem fünf Themenkreise berühren: Geschichtspolitik und Abrechnung mit der Vergangenheit (Norbert Frei, Lutz Klinkhammer, Filippo Focardi), Verfassung, Politik und Parteien in der Zeit Adenauers und De Gasperis (Francesco Traniello, Pietro Scoppola, Hermann Graml, Thomas Schlemmer, Paolo Pombeni, Giovanni Bognetti), Europa und Westintegration (Maddalena Guiotto, Eckart Conze, Aldo Agosti), die wirtschaftliche Entwicklung der 1950er- und 1960er-Jahre (Christoph Buchheim, Giorgio Mori, Patrizia Battilani, Francesca Fauri) und den Umbruch von 1989/90 (Klaus-Dietmar Henke, Wilfried Loth, Martin Sabrow, Lucio Caracciolo, Joachim Scholtyseck).

Die erste Sektion gehört zu den gelungensten Teilen des Bandes.3 Es wird deutlich, dass man sich nach 1945 auch südlich der Alpen der faschistischen Vergangenheit kaum stellte und schon bald alles tat, um eine Ahndung der bis heute wenig bekannten italienischen Kriegsverbrechen auf dem Balkan und in den Kolonien zu verhindern. Diese Haltung der italienischen Regierung wirkte sich auch auf die Verfolgung deutscher Kriegsverbrechen aus, wie Klinkhammer zeigt, der sich hier auf neueste italienische Forschungsergebnisse stützen kann. Um eine öffentliche Debatte über italienische Kriegsverbrechen und jugoslawische Auslieferungsbegehren zu verhindern, wurden seit Ende der 1940er-Jahre auf Weisung von oben Hunderte von Verfahren gegen ehemalige deutsche Besatzungssoldaten von der italienischen Militärjustiz verschleppt und später auf rechtswidrige Weise ganz eingestellt. Die entsprechenden Akten, die in einem zur Wand gekehrten Aktenschrank versteckt worden waren, sind erst 1994 wieder aufgetaucht und als „Armadio della Vergogna“ (Schrank der Schande) bekannt geworden.

Parallel dazu etablierte sich in Italien schon sehr früh ein Bild des Faschismus, das diesen als eine eher lächerliche als tragische Verirrung der Nationalgeschichte darstellte, der das italienische Volk letztlich selbst ein Ende gemacht habe. Focardi zeigt in seinem hervorragenden Beitrag, wie konstitutiv für diese bis heute weit verbreitete, verharmlosende Sicht der Dinge der ständige kontrastive Vergleich mit Deutschland und dem Nationalsozialismus war, und zwar quer durch alle politischen Lager. Dies richtete sich zunächst vor allem an die Alliierten und hatte präzise politische Ziele wie eine mildere Behandlung durch die Siegermächte, entwickelte sich dann aber immer mehr zur zentralen Strategie der historischen Selbstentschuldung und zu einem Alibi, das eine ehrliche Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit über weite Strecken verhindert hat.

Die Beiträge zum politischen System und den Parteien in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Krieg machen vor allem zahlreiche Parallelen und Berührungspunkte zwischen den christdemokratischen Parteien und ihren beiden Gründungsvätern deutlich – auch wenn diese zum Teil aus sehr spezifischen nationalen Traditionen schöpften, wie Traniello zeigt, und ihr Verhältnis zum Kommunismus graduelle Unterschiede aufwies, was Scoppola betont und vor allem auf die in dieser Hinsicht nur schwer vergleichbaren Konstellationen zurückführt, in der die Kommunisten mal als starke innenpolitische Kraft, mal vorwiegend als externer Gegner auftraten. Zu den Gemeinsamkeiten zählte vor allem das starke Engagement für den europäischen Gedanken. Guiotto zeigt, dass sich die rasche Annäherung zwischen der Bundesrepublik und Italien vor allem über Kontakte zwischen den christdemokratischen Parteien im Zeichen der gemeinsamen Europa-Orientierung vollzog. Diese speiste sich jedoch nicht nur aus den Traditionen der älteren christdemokratischen Europabewegung, sondern auch und vor allem aus politischen und wirtschaftlichen Interessen.

Der wichtigste und für die politische Entwicklung der beiden Länder folgenreichste Unterschied war die ausbleibende Sozialdemokratisierung der italienischen Linken, wie in den Beiträgen von Woller und Pombeni deutlich wird. Die italienischen Kommunisten lösten sich kaum von Moskau, die Sozialisten nur zögerlich von den Kommunisten. So entstand keine demokratische Volkspartei auf der Linken, die dem bürgerlichen Lager die Führung hätte streitig machen können, und es kam zu keinem Machtwechsel wie in der Bundesrepublik – und zwar weder auf nationaler noch auf regionaler Ebene, denn Italien blieb seinen zentralistischen Traditionen treu (ein weiterer wichtiger Unterschied) und führte erst spät Regionen ein, die schwach blieben. Eine weitere Folge war, dass sich die italienische Linke erst sehr viel später als die deutsche Sozialdemokratie zur Westintegration und zur europäischen Einigung bekannte, wie der Beitrag von Agosti deutlich macht.

Der Band weist manche Schwächen auf. An vielen Stellen hätte stringenter verglichen werden können. Eine vergleichende Zusammenfassung und Bilanz sucht man vergebens. Ganze Jahrzehnte werden fast vollständig ausgeblendet. So kommen die Krisen und der Wandel der 1960er- und 1970er-Jahre kaum in den Blick, bleiben Themen wie Studentenbewegung, Linksterrorismus und neue soziale Bewegungen oder Arbeiterschaft und Bürgertum, Lebensstil und Konsum, Jugend und Geschlecht, Öffentlichkeit und Medien ausgespart. Die abschließende Sektion zum Umbruch von 1989/90 enthält hervorragende Beiträge zur deutschen Einigung, ihrem internationalen Kontext und ihren Folgen, doch ein Italienbezug fehlt fast völlig, wodurch dieser Teil wie ein Fremdköper wirkt. Hier ist eine Chance zum Vergleich verschenkt worden, denn auf kein westeuropäisches Land außer Deutschland hat sich das Ende der Blockkonfrontation um 1990 wohl so nachhaltig ausgewirkt wie auf Italien. Und auch Sabrows anregender Beitrag über Europäisierungstendenzen in der gegenwärtigen Zeitgeschichte bezieht Italien nicht ein.

Dennoch handelt es sich bei diesem umfangreichen Band um einen wichtigen Baustein für eine deutsch-italienische Vergleichs- und Beziehungsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein Feld, auf dem zahlreiche Forschungen gerade erst angelaufen sind und das in den kommenden Jahren mit Sicherheit an Bedeutung gewinnen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. Dipper, Christof (Hrsg.), Deutschland und Italien 1860–1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich, München 2005 (rezensiert von Friedemann Scriba: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-195>); Rusconi, Gian E., Deutschland – Italien, Italien – Deutschland. Geschichte einer schwierigen Beziehung von Bismarck bis zu Berlusconi, Paderborn 2006 (rezensiert von Sabine Rutar: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-013>; ital. Erstausg.: Germania, Italia, Europa. Dallo stato di potenza alla „potenza civile“, Turin 2003); Corni, Gustavo; Dipper, Christof (Hrsg.), Italiani in Germania tra Ottocento e Novecento. Spostamenti, rapporti, immagini, influenze, Bologna 2006.
2 Die italienische Ausgabe ist bereits vor der deutschen erschienen und für einen Bruchteil des abschreckenden deutschen Preises erhältlich: Rusconi, Gian E.; Woller, Hans (Hrsg.), Italia e Germania 1945–2000. La costruzione dell’Europa, Bologna 2005.
3 Hier bin ich dezidiert anderer Meinung als Rudolf Lill, der das Thema für unwichtig zu halten scheint. Vgl. seine Rezension in: Historische Zeitschrift 284 (2007), S. 804ff.