B. Lorentz: Industrieelite und Wirtschaftspolitik 1928-1950

Titel
Industrieelite und Wirtschaftspolitik 1928-1950. Heinrich Dräger und das Drägerwerk


Autor(en)
Lorentz, Bernhard
Erschienen
Paderborn 2001: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
58.- DM
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Martin Fiedler

Die Studie von Bernhard Lorentz verbindet Unternehmerbiographie und Unternehmensgeschichte auf eine gelungene Weise. Die zentrale Fragestellung der Dissertation, die im Wintersemester 1998/99 an der Humboldt-Universität abgeschlossen wurde, stellt ein wesentliches Anliegen der jüngeren sozial- und wirtschaftshistorischen Forschung über das Verhalten von Unternehmen und Unternehmern im NS-Staat in den Mittelpunkt der Untersuchung: Die Frage nach Handlungsspielräumen und Entscheidungszwängen, nach Anpassungsbereitschaft und Zwang, nach dem Grad der Autonomie für unternehmerisches Handeln und nach strategischen Optionen in einer Wirtschaft, die von einem zunehmenden Interventionismus der Rüstungsbürokratie geprägt wurde.

Bernhard Lorentz geht dieser Frage auf der Grundlage einer Überlieferung nach, deren Dichte als eine glückliche Voraussetzung für ein ambitioniertes Vorhaben bezeichnet werden kann. Auch das untersuchte Fallbeispiel, ein auf die Herstellung von Atemschutzgeräten spezialisiertes Unternehmen aus Lübeck, das unter der Leitung Heinrich Drägers (1898-1988) im Zeitraum der Untersuchung von einem mittelständischen Familienunternehmen zu einem Technologiekonzern expandierte, stellt sich als gute Wahl für eine solche Mikrostudie heraus. Als Hersteller von Gasschutzmasken war das Drägerwerk bereits im Ersten Weltkrieg eine feste Größe in der deutschen Rüstungswirtschaft. Der Eigentümerunternehmer Dräger verfolgte vielfältige wirtschaftspolitische Aktivitäten, unter anderem als Initiator und Mitgründer der "Studiengesellschaft für Geld- und Kreditwirtschaft", deren Tätigkeit das erste Kapitel gewidmet ist.

In der Verbindung der zwei Untersuchungsebenen entsteht eine differenzierte Beschreibung unternehmerischer Strategie von der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie liefert detaillierte Einblicke in die Mentalität eines bislang weniger bekannten Repräsentanten der deutschen Industrieelite und in die Funktionsmechanismen der Kriegs- und Rüstungswirtschaft. Indem Lorentz immer wieder den Vergleich mit dem größten Wettbewerber des Drägerwerks sucht, der von der Degussa beherrschten Auergesellschaft, treten Charakteristika des Eigentümerunternehmens und der Unternehmerpersönlichkeit hervor. Obwohl sich Dräger auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise im Rahmen der Studiengesellschaft für staatliche Krisenintervention einsetzte und dabei auch den Kontakt zur NSDAP nicht scheute, um auf ihr wirtschaftspolitisches Sofortprogramm Einfluß zu nehmen, verfolgte der Lübecker Unternehmer die Zunahme staatlicher Intervention in die Wirtschaft im NS-Staat mit Skepsis. Drägers Absicht, das Unternehmen vom Einfluß von Staat und Partei freizuhalten, beschreibt ein zentrales Anliegen seiner Strategie, die in der Radikalisierung des Regimes in der zweiten Kriegshälfte scheinbar widersprüchliches Verhalten hervorrief. Einerseits beteiligte sich das Unternehmen aktiv in der Selbstverwaltung der Rüstungswirtschaft, andererseits war es bemüht, die von der Rüstungsbürokratie geforderten Investitionen hinauszuzögern. Das bis zur Wirtschaftskrise exportorientierte Mittelstandsunternehmen, das im Kaiserreich 30 Prozent seines Gesamtumsatzes in den Vereinigten Staaten erzielt hatte, dachte langfristig: So rechnete Dräger früher als die meisten bislang untersuchten deutschen Industriellen mit einer Niederlage und begann mit der Nachkriegsplanung.

Lorentz arbeitet die Ambivalenzen in der Persönlichkeit des Unternehmers sorgfältig heraus, hinter denen eine erstaunliche Kontinuität sichtbar wird. Als entscheidende Elemente der lebensweltlichen Prägung des liberalkonservativen Unternehmers lassen sich die Staatsnähe der hanseatischen Unternehmerfamilie und der Ordnungsgedanke als ein Grundelement seines politischen Handelns identifizieren. In der Konsequenz zeigte Drägers Verhalten ein hohes Maß an systemkonformer Effizienz, obwohl er die Verfassungslosigkeit und Organisationsdefizite des nationalsozialistischen Regimes nicht nur erkannt hatte, sondern in der zweiten Kriegshälfte mit wachsender Distanz verfolgte. Auch im Fall des Lübecker Unternehmens bleibt eine schuldhafte Verstrickung in das System der Kriegswirtschaft zu bilanzieren, deren Effektivitätssteigerung in der zweiten Kriegshälfte vor allem auf der Intensivierung des Faktors Arbeit basierte. Die Initiative zum Einsatz von KZ-Häftlingen im Sommer 1944 ging jedoch von der Rüstungsbürokratie aus, die auf diesem Weg versuchte, die Verzögerungstaktik des Unternehmens gegen die Erhöhung der Produktion von Volksgasmasken zu unterlaufen. Das in mancherlei Hinsicht nonkonforme Verhalten Drägers bewahrte nicht vor Anpassungsbereitschaft an das System, die nicht aus einer ideologischen Übereinstimmung mit dem Regime resultierte, sondern aus dem zentralen Motiv des Eigentümers, die Verfügungsmacht über das Unternehmen gegenüber dem Zugriff der Staatsbürokratie zu behaupten.

Als entscheidende Grundlage für die Transformationsleistung des Unternehmers, die begrenzte Autonomie eines Eigentümerunternehmens in einer Zeit dynamischer Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verteidigen - Rüstungsaufträge machten nach 1933 etwa 60 Prozent des Umsatzes aus, während der Anstieg der Belegschaft des Drägerwerks zwischen 1928 und 1944 die betriebliche Expansion von einem mittelständischen Familienbetrieb zu einem Großunternehmen markierte - verweist Lorentz auf die sozialen Netzwerkbeziehungen Heinrich Drägers, die es dem Unternehmer gestatteten, strategisch auf die Veränderungsdynamik der Umwelt zu reagieren. Die 1931 gegründete Studiengesellschaft hatte den Charakter eines "Braintrusts", der Dräger neben der öffentlichen Wirkung vielfältige Kontakte zu Wirtschaft, Gesellschaft und Politik einbrachte, die sich gerade in der totalitären Gesellschaft des NS-Staates als nützlich erwiesen, weil sie den Verlust des freien Zugangs zu Informationen kompensierten.

Nicht nur die Integration des Netzwerkbegriffs trägt dazu bei, dass das Buch von Lorentz eine innovative Untersuchung über unternehmerisches Handeln darstellt, die den Anspruch in der Einleitung einlöst, Biographie nicht als Selbstzweck, sondern als Methode einzusetzen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Wer sich für eine differenzierte Analyse der Handlungsspielräume in der Kriegs- und Rüstungswirtschaft interessiert, kommt nicht umhin, diese neuere Studie zur Kenntnis zu nehmen.

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