I. Dieckmann u.a. (Hgg.): Das Wilkomirski-Syndrom

Dieckmann, Irene; Schoeps, Julius H. (Hrsg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein. Zürich 2002 : Pendo Verlag, ISBN 3-85842-472-2 367 S. € 16,90

: Hefti, Sebastian (Hrsg.): ... alias Wilkomirski - Die Holocaust- Travesti. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals. Berlin 2002 : Jüdische Verlagsanstalt Berlin, ISBN 3-934658-29-6 270 S. € 12,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Viktor Otto, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Freie Universität Berlin

Vor zwei Jahren veröffentlichte der Historiker Stefan Mächler eine umfassende biografische Studie zu Binjamin Wilkomirski, in der er argumentativ belegte, dass es sich bei Wilkomirski mitnichten um einen Juden lettischer Herkunft handelt, der die Lager Majdanek und Auschwitz-Birkenau als Kind überlebt hatte. Vielmehr sei Wilkomirski ein reiner Phantasiename, hinter dem sich der gebürtige Schweizer Bruno Grosjean (aufgrund seiner Adoption später Bruno Doessekker) verberge. 1 Mächlers Studie liegt ein Gutachten zugrunde, das er im Auftrag von Wilkomirskis Literatur-Agentur angefertigt hatte, um zu klären, ob Wilkomirski mit seinem 1995 bei Suhrkamp erschienenen Holocaust-Buch ‚Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948‘ 2 in der Tat eine autobiografische Schrift verfasst hatte oder ob das Werk nicht vielmehr rein fiktionale Literatur sei.

Den autobiografischen Status der ‚Bruchstücke‘ hatte im Sommer 1998 erstmals der Schweizer Schriftsteller Daniel Ganzfried öffentlich in Frage gestellt. 3 Nachdem Mächler sein auf Ganzfrieds Vorarbeiten fußendes Gutachten abgeschlossen hatte, sahen sich Agentur und Verlage veranlasst, das Buch im Herbst 1999 vom Markt zu nehmen. Im November 1999 erstattete ein Schweizer Rechtsanwalt Strafanzeige gegen Wilkomirski alias Doessekker wegen gewerbsmäßigen Betrugs. Im Rahmen der Ermittlungen wurde Doessekker einem DNA-Test unterzogen, der zweifelsfrei seine Schweizer Herkunft bestätigte: Er ist der Sohn eines Bieler Feinmechanikers.

Nun wird seit Ganzfrieds Enthüllung zweierlei kontrovers diskutiert: zum einen die Frage, ob Doessekkers Handeln als pathologisch oder kriminell einzustufen ist, zum anderen aber der Umstand, dass Doessekkers über Jahrzehnte gepflegte falsche Identität auch nach der Publikation der ‚Bruchstücke‘ drei Jahre lang von keiner Seite öffentliche Beanstandung fand. Ersteres haben Psychiatrie und Justiz zu klären, letzteres die Holocaust-Forschung, der Kulturbetrieb und die Literaturwissenschaft. Die Psychiatrie hält für Fälle erfundener Erinnerungen und Identitäten das Krankheitsbild der Pseudologie bereit, die Justiz ggf. den Tatbestand des Betrugs. Die Pseudologie ist aber ein wenig spezifischer Terminus der alten Psychiatrie, der in neuen Klassifikationssystemen keine Rolle mehr spielt, zumal Pseudologen als therapeutisch “wenig beeinflußbar” gelten. 4 Dass sich offenkundig auch die Justiz mit dem Fall Wilkomirski schwer tut, illustriert die Tatsache, dass seit der Strafanzeige über drei Jahre vergangen sind, ohne dass bislang eine Entscheidung über die Anklageerhebung gefallen ist. 5 Die hier zu verhandelnde Ebene ist aber nicht die persönliche von Psychiatrie und Justiz, sondern die gesellschaftliche von Historiographie und Philologie, deren anteilige Mitschuld am Erfolg Wilkomirskis wiederholt behauptet wird. Auffällig ist zumindest, dass sich weder die Geschichts- noch die Literaturwissenschaft sonderlich darum bemüht haben, den im Zuge der Affäre hier und dort erhobenen Vorwurf mangelnder Qualitäts- und Sicherheitsstandards in ihren Fächern zu problematisieren. Kann im Fall der skrupellos fälschenden Krebsforscher Hermann und Brach ein kathartisches Moment für die (medizinisch-naturwissenschaftliche) Wissenschaftspraxis veranschlagt werden, 6 so ist zu konstatieren, dass dem Fall Wilkomirski dies in Bezug auf die Holocaust-Forschung bislang keineswegs gelungen ist. Zwei neu erschienene Sammelbände widmen sich nun dieser Affäre.

Im Zentrum des vom Deutschschweizer PEN herausgegebenen Bandes ‚... alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie‘ steht eine umfassende, als “Erzählung” deklarierte Dokumentation des Falles aus der Perspektive von Daniel Ganzfried (S. 17-154). In recht launigem Ton zeichnet Ganzfried das Bild einer Verschwörung, in der Doessekker nicht mehr als ein von vielen Seiten zu seinem falschen Spiel angetriebener Mime gewesen sie. Der “Holocaust-Transvestit” (S. 147) Doessekker sei das Opfer einer Kultur-Clique geworden, die mit “Holocaustigem” ihre Geschäfte mache: Agentur, Verlagen und Psychotherapeuten, der Kulturszene wie der Literaturkritik macht Ganzfried den Prozess, indem er nicht allein Fahrlässigkeit, sondern Mittäterschaft behauptet: “Auf der Kirmes von Veranstaltern wie diesem Suhrkamp am Main war Auschwitz nur noch der Name über dem Kassenhäuschen zur Geisterbahn.” (S. 88) Im Kontext der aufgeheizten Debatte um eine Mitschuld der Schweiz an der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg sei Doessekker gleichsam zum lebendigen Mahnmal aufgebaut worden: “So trieb die Entourage ihren Artisten zur Höchstleistung. Bis er die Erinnerungsnummer von alleine tanzte.” (S. 71) Ganzfried berichtet von Störmanövern, Drohungen und Bestechungsversuchen, mit denen seine Recherchen behindert worden seien. Mächlers Studie wird sowohl vom Herausgeber (S. 8f.) als auch von Ganzfried selbst (S. 149f.) als parteiisch dargestellt, sei dieser doch von Wilkomirskis Agentur als Gutachter berufen worden. Insbesondere stört sich Ganzfried an Mächlers Versuch, Doessekkers Handeln als Spätfolge realer traumatischer Kindheitserlebnisse darzustellen und diesen somit gleichsam zu exkulpieren.

Die folgenden kleineren Beiträge sind der Lesart Ganzfrieds verpflichtet: Die Literaturkritikerin Elsbeth Pulver stellt ebenfalls Mächlers Objektivität in Frage, der FAZ-Redakteur Lorenz Jäger geht mit Suhrkamp hart ins Gericht, der Schriftsteller Rafael Newman verortet die Affäre im Feld schweizerischer Debatten um Multikulturalismus. Angehängt sind ferner zwei Gespräche mit Claude Lanzmann bzw. Imre Kertész, in denen aber neben dem Austausch von Gemeinplätzen der Versuch von Sebastian Hefti und Wolfgang Heuer unangenehm berührt, Lanzmann und Kertész auf die Ganzfried-Linie einzuschwören. Der Band beschließt mit dem Neuabdruck einiger Artikel (u.a. von Ruth Klüger und Philip Gourevitch) zum Thema aus der schweizerischen, deutschen und US-amerikanischen Presse.

Gleich mit der Titelgebung und wohl in Anlehnung an das psychiatrische Krankheitsbild des “Münchhausen-Syndroms” suggeriert der von Irene Diekmann und Julius H. Schoeps herausgegebene Sammelband ‚Das Wilkomirski-Syndrom‘, dass es sich bei Doessekker keineswegs um einen Einzelfall handelt. Das Buch basiert auf einer Potsdamer Tagung zum Thema, die im Mai 2001 vom Moses-Mendelssohn-Zentrum veranstaltet worden war. Einer blassen Einführung von Sander L. Gilman folgt das Kernstück der Dokumentation: zwei ausführliche Aufsätze von Stefan Mächler (S. 28-131), in denen dieser die Ergebnisse seiner biografischen Recherchen nochmals vorstellt und um neue Funde ergänzt. Auffällig ist, dass Mächler seine bisher eher verhaltene Kritik an Agentur und Verlagen nun deutlich verschärft (womit wiederum Ganzfrieds Kritik an Mächlers erster Studie an Plausibilität gewinnt). Auch wagt Mächler hier größere Ausflüge auf die Gebiete der Psychologie und Gedächtnistheorie. In Bezug auf die Leserschaft von Holocaust-Literatur steht notiert: “Man weidet sich am Grauen, während man sich einbildet, mitzuleiden und einem geschundenen Opfer Gehör zu schenken, ihm zu helfen und sich in aufklärerischer Absicht kritisch mit der Vergangenheit auseinander zusetzen.” (S. 49) Mächler entdeckt im wissenschaftlichen Umgang mit Wilkomirski “zwei irritierende Phänomene: Erstens entwickelten oder illustrierten Literaturwissenschaftler und Psychologen anhand seines Textes Theorien und Thesen, die er wahrscheinlich zur Herstellung eben dieses Textes verwendet hatte. Zweitens waren sie vermutlich von der innovativen Form seiner Erzählung besonders beeindruckt, weil diese mehr ihrer Vorstellung einer adäquaten Darstellung des ‚Undarstellbaren‘ entsprach als all die auf herkömmliche Weise geschriebenen authentischen Zeugnisse. Die elaborierte Kopie schien wahrer als die unbeholfenen Originale. Mit dichterischer Freiheit war den Theorien und Postulaten eher zu genügen, als mit den Ausdrucksnöten und -zwängen realer Erfahrung. Wenn sich also selbst renommierte Fachleute von ‚Bruchstücke‘ haben beeindrucken lassen, war dies nicht der Fall, obwohl sie sich in der Materie auskannten, sondern weil sie es taten.” (S. 63f.) Ganzfrieds ‚Holocaust-Travestie‘ kritisiert Mächler als “retrospektive Vergegenwärtigung, deren Grenzen zur Imagination fließend sind.” (S. 99) 7

Auf einen Essay, in dem Ganzfried noch einmal seine Sicht der Dinge darlegt, folgt der bisher einzige Beitrag zum Fall Wilkomirski aus medizinischer Perspektive. Der Psychiater Hans Stoffels erklärt das umstrittene Krankheitsbild der Pseudologie zu einem Feld von allenfalls medizinhistorischem Interesse (S. 162), problematisiert Pseudoerinnerungen aber im Kontext der Traumaforschung, welcher er eine mangelnde Methodenreflexion vorwirft: “die Sogwirkung im Opfer-Sein ist ein Sachverhalt, der bisher wenig zur Kenntnis genommen worden ist. Hilfe und Unterstützung für die wirklichen Trauma-Opfer sind aber darauf angewiesen, dass eine Unterscheidung zwischen realem und erfundenem Trauma annäherungsweise gelingt.“ (S. 174) 8 Ebenso wie die freien “Imaginationen”, die Mächler Ganzfried nachweist, stören gerade bei einem Fall wie dem Wilkomirskis auch andere Verstöße gegen Gebote wissenschaftlicher Redlichkeit: Stoffels übernimmt zahlreiche Sätze nahezu wörtlich aus einem psychiatrischen Wörterbuch, 9 ohne diese als Zitate zu kennzeichnen oder auch nur die Quelle anzugeben (S. 164f.).

Einen argumentativ verworrenen Beitrag liefert Julius H. Schoeps, der sowohl Doessekker wie auch und vor allem Norman G. Finkelstein (Autor von ‚Die Holocaust-Industrie‘) als rein pathologisch interessante Fälle abzutun gedenkt. Finkelsteins Buch sei das Werk eines Mannes, der sich “mit den Opfererfahrungen seiner jüdischen Eltern identifiziert und deren Leiden noch einmal durchlebt.” (S. 285) Zu Doessekker vermerkt Schoeps: “Es scheint so, als ob wir es bei dem Schweizer Wilkomirski mit den Verirrungen eines Menschen zu tun haben, der seinen eigenen Obsessionen aufgesessen ist, keinesfalls aber, wie Finkelstein uns glauben machen will, mit einem auf Profitmachen angelegten Projekt irgendwelcher Hollywood-Spekulanten, die sich am Leiden der Opfer der Shoah bereichern wollen.” (S. 279) Schoeps verteidigt Goldhagens ‚Hitlers willige Vollstrecker‘ gegen den von Finkelstein erhobenen Vorwurf, “Wilkomirskis ‚Bruchstücke‘ plus Fußnoten” 10 zu sein. Vor dem Hintergrund der gerade laufenden Debatte um Goldhagens neues Buch, das Schoeps wiederum und wiederholt verteidigt hat, erscheinen die Thesen Finkelsteins, die in der im Anhang dokumentierten Podiumsdiskussion von Ganzfried (S. 345f.) und Henryk M. Broder (S. 343f.) geteilt werden, weniger pathologisch, als Schoeps sie sich vielleicht wünscht.

In dem Sammelband finden sich mehrere Beiträge, in denen andere Fälle von Pseudoidentität, die im weitesten Sinne im Zusammenhang mit dem Holocaust stehen, vorgestellt werden. So untersucht die Germanistin Barbara Breysach die Publikationsgeschichte des Romans ‚Aufzeichnungen aus einem Erdloch‘: 1992 war der bislang nur unter dem Namen Jakob Littner publizierte Text als Roman Wolfgang Koeppens bei Suhrkamp erschienen; Jakob Littner sei nichts weiter als ein frühes Pseudonym dieses Autors (S. 238). Bezugnehmend auf Vorarbeiten ihres Kollegen Reinhard Zachau macht Breysach deutlich, dass dem Roman Koeppens ein 180seitiges Typoskript von einem durchaus realen jüdischen Kaufmann namens Jakob Littner zugrunde liegt, der das Dritte Reich in polnischen Verstecken überlebt hatte. Der Historiker Lothar Mertens berichtet von einem haarsträubenden Fall aus einer Jüdischen Gemeinde der DDR: Die Tochter eines SS-Mannes, der sich freiwillig zu den Einsatzkommandos an der Ostfront gemeldet hatte, wird 1968 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle/Saale, obgleich sie wahrscheinlich nie einer Jüdischen Gemeinde beigetreten war. Obwohl in keiner Weise dazu befugt, leitete Karin Mylius in den beiden folgenden Jahrzehnten Gottesdienste in einer selbstentworfenen Rabbinertracht. Mitte der siebziger Jahre bestattete sie ihre protestantischen Eltern auf dem jüdischen Friedhof, der somit nach rituellem Verständnis entweiht worden ist. Den eigenen Sohn Frank-Chaim, der in Halle bis dahin nur durch Hakenkreuz-Schmierereien aufgefallen war, schickte sie auf das Budapester Rabbiner-Seminar, das dieser aber wegen wiederholten Diebstahls aus der Seminar-Bibliothek bald wieder verlassen musste. Derweil verscherbelte die Mutter in Halle die Kultgegenstände der Gemeinde. Ihre SED-Mitgliedschaft schützte Mylius bis 1986 vor strafrechtlichen Konsequenzen.

Einige weitere Beiträge seien an dieser Stelle ausgespart, da sie zum Teil Nachdrucke sind, zum Teil aber auch abschweifend, redundant oder insgesamt wenig überzeugend. Festzustellen bleibt, dass sich auch mit dem Erscheinen der beiden Sammelbände nichts am betretenen Schweigen der professionellen Holocaust-Forschung geändert hat, sieht man einmal ab von dem eher Verwirrung stiftenden als klärenden Essay von Julius H. Schoeps. Das Feld blieb bis heute Fachfremden wie Ganzfried und außeruniversitär tätigen Nachwuchswissenschaftlern wie Mächler überlassen. Die Meinungsführer der Geschichts- und Literaturwissenschaft haben sich der Herausforderung Wilkomirski nicht gestellt.

Anmerkungen:
1 Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie, Zürich 2000.
2 Das Buch war im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschienen und in der Folge in neun Sprachen übersetzt worden.
3 Daniel Ganzfried: Die geliehene Holocaust-Biographie, Weltwoche vom 28.8.1998.
4 Lexikon der Psychiatrie, hrsg. von Christian Müller, Berlin 2. Aufl. 1986, S. 530f.
5 Telefonische Auskunft von Rechtsanwalt Manfred Kuhn vom 4.12.2002.
6 Sowohl die DFG (1998) als auch die MPG (2000) hatten in der Folge Kontroll- und Sicherungsregeln verabschiedet, die wiederum an vielen deutschen Universitäten als Grundlage der eigenen Forschungstätigkeit festgeschrieben worden sind.
7 Siehe hierzu auch den Artikel von Mächler und den Leserbrief des Dokumentarfilmers Eric Bergkraut in der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘ vom 5.4.2002.
8 In erweiterter Fassung veröffentlicht in ‚Der Nervenarzt‘ Jg. 73 (2002), H. 5, S. 445-451.
9 Siehe Anmerkung 4.
10 Norman G. Finkelstein: Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird, München 2001, S. 72.

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