S. Payne: Geschichte des Faschismus

Cover
Titel
Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung


Autor(en)
Payne, Stanley
Erschienen
Anzahl Seiten
800 S.
Preis
€ 39,ßß
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Nolzen, Momentan arbeitslos

"Whatever happened to 'fascism'?". Diese rhetorische Frage stellte der britische Historiker Timothy W. Mason im April 1988, knapp zwei Jahre vor seinem tragischen Tod 1. Anläßlich einer Konferenz an der Universität von Pennsylvania, die den Titel "Reevaluating the Third Reich" trug, war Mason die Aufgabe gestellt worden, die Reichweite der in den 1960er und 1970er Jahren prominenten Faschismustheorien kritisch zu analysieren. Hierbei kam er zu dem Ergebnis, daß alle bisherigen Versuche, den Faschismusbegriff auf politische Regime anzuwenden, gescheitert seien. Zugleich beklagte Mason, daß man das Konzept Faschismus nicht durch ein neues Paradigma ersetzt, sondern sich darauf verständigt habe, das "Dritte Reich" als politisches Gebilde anzusehen, das keiner vergleichenden Betrachtung zugänglich sei. Von einer solchen Position grenzte sich Mason ab. Stattdessen plädierte er dafür, den Vergleich zwischen dem faschistischen Italien und dem "Dritten Reich" zu intensivieren, ohne den Faschismusbegriff zu verwenden. Wenn die NS-Forschung die Möglichkeit dieses Regimevergleichs verneine, so schlußfolgerte Mason, begebe sie sich in den Provinzialismus.

Trotz Masons Warnungen ist die westdeutsche NS-Forschung, dieser Vorwurf kann ihr nicht erspart bleiben, vor allen Dingen in den 1980er Jahren durchaus provinzieller geworden. Die meisten empirischen Studien zum "Dritten Reich" blieben einer deutschen Binnenperspektive verhaftet. Deshalb war auch der Verzicht auf einen vergleichenden Faschismusbegriff in der bundesrepublikanischen Historiographie immer stärker ausgeprägt als im Ausland 2. Die Mehrzahl der amerikanischen, englischen, französischen und italienischen Historiker hielt nämlich am Faschismusbegriff fest. Daraus entstanden nicht gerade wenige Monographien, die sich in erster Linie mit der Geschichte der faschistischen Bewegungen befaßten 3. Die westdeutsche NS-Forschung hat diese Studien bisher kaum einmal zur Kenntnis genommen. Es ist daher nur zu begrüßen, daß der Propyläen-Verlag initiativ geworden ist und ein grundlegendes Buch zum Thema Faschismus ins Deutsche hat übersetzen lassen. Hierbei handelt es sich um eine Monographie Stanley Paynes, die 1995 im englischen Original erschien. Payne, Jahrgang 1934 und seit 1968 Professor für Neuere Geschichte an der University of Wisconsin, hat einige bedeutende Arbeiten zu faschistischen Bewegungen und autoritären Regimen der Zwischenkriegszeit vorgelegt, vornehmlich zu Spanien. Er ist ein ausgesprochener Experte, was die politische Praxis faschistischer Bewegungen angeht.

In der vorliegenden Studie geht Payne davon aus, daß es in Europa von 1918 -1945 einen generischen Faschismus gab, daß die faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit also mehr miteinander gemein haben als sie voneinander unterscheidet. Zu den Gemeinsamkeiten zählt Payne eine radikal nationalistische, expansionistische und Gewalt und Krieg verherrlichende Ideologie, die faschistischen Negationen - also Antiliberalismus, Antikommunismus und Antikonservativismus - und einen politischen Stil, der die Mobilisierung der Massen, die Militarisierung und Ästhetisierung der Politik, die Verherrlichung der Jugend und eine charismatisch legitimierte Befehlsgewalt beinhaltete (S. 15). Im Faschismus sieht der Autor, neben der radikalen und der konservativen Rechten, eine von drei Spielarten eines autoritären Nationalismus, der sich Ende des 19. Jahrhunderts in Europa entwickelte. Es sei jener besondere politische Stil gewesen, der den Faschismus vom nichtfaschistischen autoritären Nationalismus der radikalen und konservativen Rechten unterschied, dessen hauptsächliches Wirkungsfeld in Süd- und Osteuropa lag.

Nach dieser typologischen Beschreibung des Faschismus widmet sich Payne der Geschichte der einzelnen faschistischen Bewegungen in Europa. Zunächst behandelt er jene kulturelle Transformation, die sich während des Fin de siècle vollzog, und den europaweiten Aufstieg des radikalen Nationalismus seit den 1890er Jahren. In beiden Phänomenen macht Payne, in enger Anlehnung an die Arbeiten von George L. Mosse, die Vorboten späterer faschistischer Bewegungen aus. Die erste Bewegung, auf die diese Kennzeichnung zutraf, war Benito Mussolinis Partito Nazionale Fascista (PNF) in Italien. Die Ende November 1921 gegründete PNF stellte ein Amalgam aus Mussolinis Fasci Italiani di Combattimento und dem Squadrismo dar, einer terroristischen Bewegung, deren Straßengewalt sich gegen Kommunisten und Sozialisten richtete. Als erste Partei entwickelte die PNF einen spezifisch faschistischen Stil, zu dem eine besondere Uniformtracht, Sprechchöre, sakralisierte Zeremonien und die öffentlich praktizierte Gewalt gehörten (S. 126 f., 131 f. u. 141 ff.). Der politische Stil der PNF und die opportunistische Handhabung ihrer Programmatik durch Mussolini avancierten, so Payne, zum realtypischen Vorbild für andere faschistische Bewegungen.

Angesichts dieses Befundes hätte es nun nahegelegen, die Strukturmerkmale des italienischen Faschismus zum Ausgangspunkt für die weitere Analyse zu machen und danach zu fragen, inwieweit sie sich in den anderen als faschistisch klassifizierten Bewegungen wiederfanden. Dies tut Payne allerdings nicht. Stattdessen setzt er die Gemeinsamkeiten der faschistischen Bewegungen im weiteren Verlauf seiner Untersuchung affirmativ voraus, ohne diese je einer vergleichenden Analyse zu unterziehen. Das macht sich bereits bei den Ausführungen zum Aufstieg von Adolf Hitlers Nationalsozialistischer Deutscher Arbeiterpartei (NSDAP) von 1919-1933 negativ bemerkbar. Abgesehen von einigen verstreuten Bemerkungen zu Masseninszenierungen, politischer Symbolik und Gewaltpropaganda der NSDAP (S. 203 f. u. 220 f.) wird nicht so recht klar, warum sie eine faschistische Partei war. Dieser Sachverhalt hätte auch deshalb ausführlich erklärt werden müssen, weil viele Autoren dazu neigen, die NSDAP aufgrund ihres Antisemitismus und Rassismus aus dem vergleichenden Faschismuskonzept herauszunehmen 4. Ein weiteres analytisches Problem in Paynes Darstellung besteht dann in der Behandlung von PNF und NSDAP nach der Machtübernahme 1922/25 beziehungsweise 1933. Bis auf wenige Ausnahmen (S. 157 f., 232 ff., 266 f. u. 297 f.) analysiert er nicht mehr die Entwicklung, die diese beiden Parteien nahmen, sondern beschränkt sich auf die staatliche Politik. Dadurch gerät die wichtige Frage aus dem Blick, welche Rolle faschistische Parteien spielten, nachdem ihre "Führer" die politische Macht im Staate errungen hatten.

In den darauffolgenden Kapiteln handelt Payne alle Länder Europas ab, in denen faschistische Bewegungen auftraten. Dabei erweist es sich als Vorteil, daß er die radikale und konservative Rechte stets in seine Analyse einbezieht, denn deren relative Stärke in Ländern wie Frankreich kann zur Erklärung des Scheiterns kleinerer faschistischer Bewegungen beitragen (S. 357-368). Darüber vernachlässigt Payne allerdings die vielfältigen Arbeitsbeziehungen, die diese faschistischen Bewegungen zur PNF und zur NSDAP unterhielten. Obwohl diese Beziehungen seit 1939/40 immer wichtiger wurden, verliert der Autor in seinem 100 Seiten langen Kapitel "Der Zweite Weltkrieg: Höhepunkt und Vernichtung des Faschismus" kein Wort darüber. Vielmehr ergeht er sich in wenig originellen Ausführungen zur Außen- und Besatzungspolitik der Achsenmächte und zur politischen Lage in den Satellitenstaaten des "Dritten Reiches", die auch noch auf die handelnden Personen an der Regierungsspitze fokussiert sind. Über den Funktionswandel, dem die faschistischen Parteien während des Zweiten Weltkrieges unterlagen, erfährt man wenig.

Im zweiten Teil seines Buches, das mit "Interpretation" überschrieben ist, gibt Payne dann einen kurzen Abriß bisheriger Faschismusdeutungen. Dabei zeigt er die ganze Bandbreite der zeitgenössischen Faschismuskritik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf und widmet sich weithin vergessenen Autoren wie Julius Braunthal, Fritz Schotthöfer sowie Wilhelm Kornhauser (S. 542 f. u. 552). In diesem Zusammenhang kommt er auch auf die Frage der Unterscheidung zwischen faschistischen Bewegungen und Regimen zu sprechen. Payne definiert ein faschistisches Regime als Staat, der in "vollem Umfang von Faschisten" kontrolliert wird und die Prinzipien einer faschistischen Bewegung zur Durchführung brachte (S. 570, ähnlich S. 324). Im "Dritten Reich" sieht er deshalb den einzigen Staat, den man als faschistisches Regime bezeichnen könne, dies jedoch erst seit 1944/45. Daraus zieht Payne die zutreffende Schlußfolgerung, daß der Faschismusbegriff nur generisch definiert werden kann, wenn man soziale Bewegungen analysiert (S. 572). Dies ist eine wichtige Einsicht, denn allzu oft ist der Faschismusbegriff unreflektiert zur Kennzeichnung politischer Regime benutzt worden, ohne überhaupt nach den sozialen Bewegungen zu fragen, von denen die angeblich faschistischen Regime getragen wurden.

Gewissermaßen das Kernstück von Paynes Interpretation bildet seine "epignostische Theorie des Faschismus"; eine Auflistung derjenigen Bedingungen, die seiner Ansicht nach erfüllt sein mußten, damit eine faschistische Bewegung an die Macht kam. Dabei unterscheidet er insgesamt 20 kulturelle, politische, soziale, ökonomische und internationale Faktoren, darunter einen sich permanent radikalisierenden Nationalismus, eine tiefgreifende ökonomische Krise, eine bürgerkriegsähnliche Lage im Innern und eine (halb)demokratische Regierungsform, die genügend politische Betätigungsmöglichkeiten bot (S. 595). Lagen diese Voraussetzungen nicht vor, dann scheiterten faschistische Bewegungen. In der epignostischen Faschismustheorie liegt das größte Verdienst von Paynes Studie: Der Erfolg des europäischen Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird aus den historischen Entwicklungsbedingungen dieser Epoche erklärt. Payne reduziert faschistische Parteien nicht wie Ernst Nolte in seiner phänomenologischen Faschismusdeutung auf ein "faschistisches Minimum", das aus ihrer Struktur und Ideologie abgeleitet ist. Auch klebt er nicht an monokausalen Erklärungsmodellen, die den Erfolg faschistischer Bewegungen in der Radikalisierung des Mittelstandes oder deren bewußter Abwendung von der Moderne zu erkennen glauben. Demgegenüber präsentiert Payne ein multikausales Faschismusmodell, in dem Struktur, Ideologie und politische Praxis faschistischer Bewegungen einen ähnlichen Stellenwert besitzen wie das komplexe Bedingungsgefüge des autoritären Nationalismus, in dem sie agierten. Meines Wissens ist er der bislang einzige Faschismusforscher, dem eine derart ausgewogene Gewichtung aller Faktoren gelungen ist.

Darüber hinaus erinnert Paynes Studie an die elementare Wahrheit, daß der generische Faschismusbegriff eine Methode zum Vergleich sozialer Bewegungen ist. In dieser Beziehung besteht in der historischen Forschung noch einiger Nachholbedarf. Studien zu faschistischen Bewegungen, die vergleichend verfahren, sind an einer Hand abzuzählen 5. Dies gilt in erster Linie für die sogenannte Bewegungsphase von faschistischen Parteien, also die Zeit vor der Eroberung der politischen Macht. Nur wenig ist bekannt über die Gewaltpropaganda faschistischer Bewegungen und die Anziehungskraft dieser Gewalt auf potentielle Wähler und Sympathisanten. Kaum etwas wissen wir über die Rituale faschistischer Vergemeinschaftung und deren integrative Funktionen für faschistische Bewegungen selbst. Vielleicht erklärt sich der Grad des Erfolges, den der Faschismus in einzelnen Ländern hatte, auch aus der jeweiligen Kohäsionskraft der dort existierenden faschistischen (Mikro)Milieus. Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es vergleichender Studien, bei denen die PNF das Tertium comparationis bilden muß.

Das Potential des Faschismuskonzepts scheint mir aber auch für die Systemphase faschistischer Parteien noch nicht ausgereizt zu sein. Dies betrifft PNF und NSDAP, also die einzigen beiden faschistischen Parteien, deren "Führer" ohne Hilfe von außen die politische Macht errangen. Die Frage, wie sich PNF und NSDAP nach der Machtübernahme wandelten, ist nicht hinreichend beantwortet. Blieben sie faschistisch oder büßten sie ihren faschistischen Charakter ein? Welche Veränderungen ergaben sich im politischen Stil dieser Parteien, nachdem Wahlwerbung nicht mehr notwendig war? Eine Analyse des Struktur- und Funktionswandels faschistischer Parteien an der Macht steht noch aus. Damit hängt ein zweiter Fragenkomplex zusammen, der wieder zur vergleichenden Regimelehre zurückführt. Inwieweit gelang es PNF und NSDAP nach der Machtübernahme, faschistische Prinzipien auf Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu übertragen? War die NSDAP dabei gerade deshalb erfolgreicher als die PNF, weil sie ihren faschistischen Charakter besser konservierte? Vielleicht war Masons eingangs zitierter Abgesang auf das Faschismuskonzept als eine Möglichkeit des Vergleichs zwischen Mussolinis Italien und Hitlers “Drittem Reich” doch verfrüht. Was immer auch in den letzten dreißig Jahren mit dem Faschismusbegriff passiert sein mag: In Zukunft bedarf es seiner Wiederentdeckung. Es ist Payne dafür zu danken, daß er stets an diese Notwendigkeit erinnert.

Anmerkungen:
1 Timothy W. Mason: Whatever happened to 'fascism'?, in: Ders.: Nazism, fascism and the Working Class, hrsg. v. Jane Caplan, Cambridge 1995, S. 323-331.
2 Zur Entwicklung der faschismustheoretischen Diskussion Wolfgang Wippermann: Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, 7. überarb. Aufl., Darmstadt 1997, bes. S. 9. In den letzten Jahren erlebt der vergleichende Faschismusbegriff im deutschen Sprachraum eine gewisse Renaissance, denn es sind einige beachtliche Studien zum Thema erschienen. Am eindrucksvollsten ist Hans Woller: Rom, 28. Oktober 1922. Die faschistische Herausforderung, München 1999.
3 Ein Forschungsbericht oder bibliographischer Abriß zu dieser Literatur existiert nicht. Man muß sich die entsprechenden Titel mühsam aus Michael Ruck: Bibliographie zum Nationalsozialismus, vollst. überarb. u. wesentlich erw. Aufl.; 2 Bde. plus CD-ROM, Darmstadt 2000; Band 1, S. 16-24, zusammensuchen.
4 Diese Position vertritt exemplarisch Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 506-527, bes. S. 517-525.
5 Dazu jetzt die wichtigen Arbeiten von Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde in Italien und Deutschland. Ein Vergleich der Formen, Funktionen und Ursachen politischer Gewalt in der Aufstiegsphase faschistischer Bewegungen, Phil. Diss. Freie Universität Berlin 2000, sowie dems.: Formen faschistischer Gewalt. Faschistische Kampfbünde in Italien und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Eine typologische Deutung ihrer Gewaltpropaganda während der Bewegungsphase des Faschismus, in: Sociologus. Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie 51 (2001), S. 55-88.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension