S. Steiner: Reisen ohne Wiederkehr

Cover
Titel
Reisen ohne Wiederkehr. Die Deportation von Protestanten aus Kärnten 1734-1736


Autor(en)
Steiner, Stephan
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 46
Erschienen
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Schunka, Universität Stuttgart

Dieses Buch erzählt, so der Verfasser, die Geschichte einer „neuartige[n] Austragung von Religionskonflikten“ (S. 111): der militärisch organisierten Deportation missliebiger Untertanen im Zeitalter der Aufklärung. Im Mittelpunkt stehen die von der habsburgischen Verwaltung euphemistisch als Transmigrationen bezeichneten Umsiedlungsmaßnahmen protestantischer Einwohner der habsburgischen Erblande. Unter Karl VI. in den 1730er-Jahren und zwanzig Jahre später unter Maria Theresia kam es zu mehreren dieser Deportationszüge, bei denen evangelische Untertanen nach Siebenbürgen, an den äußersten Rand der Habsburger Monarchie verbracht wurden. Die frühen, sogenannten karolinischen Transmigrationen sind dabei weniger bekannt als die der Zeit Maria Theresias.

Der Autor zeichnet die Vorgeschichte, den eigentlichen Umsiedlungsvorgang und seine Wirkungen anhand der kleinen Kärntner Herrschaft St. Paternion an der Drau nach. In zeitlicher und räumlicher Nähe, aber auch in kausalem Zusammenhang mit der großen Salzburger Emigration von 1731/32 verstärkte sich der Druck auf den evangelischen Teil der Paternioner Bevölkerung, dessen Glaubenspraxis zuvor über längere Zeit ein offenes Geheimnis für Kirche, Administration und Nachbarschaft gewesen zu sein schien. Steiner zeigt, wie durch äußeren Druck von Lokalverwaltung und Ordensmission schwelende Spannungen aufbrachen, die sich nun immer offener durch sozial und religiös abweichendes Verhalten Ausdruck verschafften. Nachdem Bekehrungsversuche und Zwangsrekrutierungen zum Militär die Situation nicht beruhigten, sondern eher verschärften, entwickelte man die Idee einer Verschickung der unliebsamen evangelischen Untertanen nach Siebenbürgen. Die bereits aus früheren Migrationsvorgängen bekannte Argumentation der Behörden, es handele sich nicht um eine anderskonfessionelle Minderheit, sondern um politisch-soziale Aufrührer, sollte den Schein einer gewissen Legitimität wahren.

Siebenbürgen war zwar habsburgisches Territorium, lag zugleich aber vermeintlich weit genug entfernt von den Reichsgrenzen und der außenpolitischen Gefahr konfessioneller Instrumentalisierung durch die protestantische Politik im Umkreis des Corpus evangelicorum. Die bisherigen Kontakte der Herrschaft Paternion zum Corpus evangelicorum schlugen sich allerdings auch in einer gleichzeitigen Emigration zahlreicher Untertanen ins Reich nieder, wie dies seit mehr als einhundert Jahren für Protestanten aus den Habsburgerländern üblich geworden war.

Insgesamt handelte es sich um nicht ganz 100 Personen, die auf mehreren Transporten unter Einsatz von Militär zwischen 1734 und 1736 aus Paternion nach Siebenbürgen deportiert wurden. Dabei wurden Familien auseinandergerissen, Kinder zurückgehalten und die Erstattung von Besitzwerten durch die lokalen Behörden verschleppt. Viele Menschen starben bald nach ihrer Ankunft (auch wenn die bisher in der Forschung bekannten Zahlen hier nach unten korrigiert werden). Für die allermeisten bedeutete die Transmigration einen massiven sozialen Abstieg, und auch die religiösen Bedürfnisse konnten in Siebenbürgen kaum zufriedengestellt werden, da sich die evangelische Praxis der Kärntner durchaus eigenständig entwickelt hatte und weder rituell noch sprachlich dem Luthertum der Siebenbürger Sachsen entsprach – mitunter konnte man schlichtweg den sächsischen Prediger nicht verstehen (S. 302). Daher nahm eine ganze Reihe der Transmigrierten später wieder Kontakt zu ihrer alten Heimat auf. Einige kehrten – meist kurzzeitig – zurück, auch wenn sie in der Regel nicht mehr in ihren vormaligen Besitzstand gelangen konnten.

Die Mischung aus Familienrekonstitution, der Analyse von persönlichen, häufig sehr emotionalen Briefen der Deportierten (die oft ungekürzt wiedergegeben werden), von Verhörsprotokollen und anderen Quellen ergibt ein lebendiges, minutiös gezeichnetes Bild des Lebens- und Leidenszusammenhangs der evangelischen Einwohner St. Paternions. Überhaupt ist die spannungsreiche, geradezu literarische, bisweilen dramatisierende Form der Darstellung über weite Strecken ein Lesevergnügen, sofern man bei diesem Thema von Vergnügen sprechen kann. Manchmal geht dies auf Kosten der Analyse, etwa wenn mehrere Episoden recht unverbunden nebeneinander stehen; mitunter fühlt sich der Leser auch etwas überfordert ob der zahlreichen Personennamen und angesichts stilistischer Brüche, wenn etwa auf suggestive Erzählpassagen recht unvermittelt eine Forschungsdiskussion folgt.

Die Absicht, in den Transmigrationen eine Vorgeschichte späterer Bevölkerungsverschiebungen auszumachen, sie also weniger in Verbindung mit konfessionspolitischen Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit und eher als Fanal für die Massendeportationen späterer Jahrhunderte zu betrachten, wird immer wieder und bisweilen fast überdeutlich betont. Bei aller Sympathie mit den Opfern ließe sich einwenden, dass die obrigkeitlichen Legitimationsstrategien konfessionellen Dissenses als Rebellion und Aufruhr auf lange etablierte Praktiken des konfessionspolitischen Umgangs mit Andersgläubigen verweisen. Daraus resultierten auch zuvor häufig extreme Gewalt- und Zwangsmaßnahmen (Haftstrafen, Galeerenverschickung), sowohl im Habsburgerreich, etwa in Oberungarn, als auch bei den Hugenottenverfolgungen in Frankreich. Durch eine stärkere Einbeziehung der spezifischen Rolle der habsburgischen Zentralverwaltung hätte sich die These des Buches vielleicht erhärten lassen; die Rolle Wiens wird aber im Buch kaum angesprochen.

Der vom Autor eingeführte Begriff des „Untergrund-Protestantismus“ lässt an Terrorgruppen oder Guerilla-Kämpfer denken und soll die bislang in der Forschung verbreiteten Bezeichnungen Krypto- oder Geheimprotestantismus ablösen. Nach der Lektüre des Buches gewinnt man aber eher die Auffassung, evangelische Glaubenspraxis in habsburgischen Territorien des frühen 18. Jahrhunderts sei ein gar nicht so geheimes, ja vielleicht nicht einmal ein ‚untergründiges’ Verhalten, sondern manchmal geradezu ein sozial akzeptierter Lebensstil gewesen, der eben keineswegs nur in abgelegenen Bergregionen, sondern genauso in gut erreichbaren Talgegenden in der Nähe von Straßen und Märkten anzutreffen war (S. 194). Die Verbreitung protestantischen Ideenguts und erbaulicher Schriften ebenso wie die an vielen Stellen deutlich gemachten Transformationen theologischer Lehrinhalte in der Glaubenspraxis unterstreichen, dass evangelische Traditionen über Generationen hinweg in den Familien bewahrt und verändert und erst im Gefolge der Salzburger Emigrationen stärker als zuvor ins politische Bewusstsein gerieten. Ein ‚Untergrundphänomen’ aber scheinen sie aus der Perspektive der Dorfgemeinschaften, der ländlichen Lebenswelt und selbst von Teilen der Lokaladministration eher nicht gewesen zu sein. Ungeachtet dessen macht gerade der mikroskopische Zugang den Reiz dieser Untersuchung aus, die auf ausgesprochen lebendige Weise und noch dazu reich bebildert die Rekonstruktion eines erschreckenden Auswuchses konfessionellen Homogenitätsstrebens unternimmt.