W. Dornik: Erinnerungskulturen im Cyberspace

Cover
Titel
Erinnerungskulturen im Cyberspace. Eine Bestandsaufnahme österreichischer Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust


Autor(en)
Dornik, Wolfram
Reihe
E-culture 2
Erschienen
Berlin 2004: Trafo Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erik Meyer, Sonderforschungsbereich Erinnerungskulturen, Justus-Liebig-Universität Gießen

Die Reflexion verschiedener Formen der Vermittlung von Vergangenheitswissen ist inzwischen ein etablierter Bestandteil des geschichtswissenschaftlichen Diskurses. Das Interesse beschränkt sich nicht nur auf Aspekte der Geschichtsschreibung im engeren Sinne, sondern hat sich ausgehend von Arbeiten zur Geschichtskultur auf alle Arten der Repräsentation von Vergangenheit ausgeweitet und fokussiert vor allem die Präsentation der Zeitgeschichte in publikumswirksamen Formaten wie Ausstellungen und Artefakten der audio-visuellen Massenmedien. Darüber hinaus lassen sich die Gegenstände der Geschichtskultur als Ausdruck gegenwärtiger gesellschaftlicher Konstellationen interpretieren, die jeweils spezifische ästhetische Darstellungsstrategien und historische Deutungen begünstigen beziehungsweise hervorbringen. Entsprechende Fragestellungen sind somit auch im interdisziplinären Forschungsfeld der Erinnerungskulturen und dem dort vorliegenden Interesse an Medien des kollektiven Gedächtnisses zu verorten.

Aus dieser Perspektive stellt insbesondere im deutschsprachigen Raum die Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und Holocaust sowohl einen umfangreichen Gegenstandsbereich als auch ein vielfach bearbeitetes Forschungsthema dar. Dies zeigt auch die Studie von Wolfram Dornik, deren empirischer Teil mit einer quantitativen Bestandsaufnahme von Websites zur österreichischen Zeitgeschichte beginnt: 22 Prozent der von ihm erfassten 370 Sites beschäftigen sich mit dieser Materie (S. 87). 1 Während jedoch für elektronische Massenmedien wie das Fernsehen und „konventionelle“ Bildmedien wie Fotografie und Film bereits einschlägige Publikationen vorliegen, finden digitale und interaktive Medien noch wenig Berücksichtigung. Ausnahmen bilden die Rezensionen entsprechender Ressourcen aus geschichtsdidaktischer oder gedenkstättenpädagogischer Perspektive. Aus erinnerungskultureller Sicht bleibt die Darstellung des Einflusses der Digitalisierung bislang vor allem auf die Archivierung von Inhalten beispielsweise in elektronischen Datenbanken bezogen. Solche Ansätze fokussieren die mediale Funktion der Speicherung und ihr gemeinsamer Nenner lässt sich mit Jan Assmann folgendermaßen resümieren: „Durch die exponentiell gesteigerten Speicherungsmöglichkeiten des Computers werden Grenzen und Selektionsmechanismen hinfällig, die von der Ökonomie und Verwaltbarkeit materieller Speichermedien diktiert sind.“ 2 Diese Diagnose gibt wiederum Anlass zu eher kulturpessimistischen Szenarien, die daraus eine Fragmentierung oder – ausgehend von Konvertierungs- und Konservierungsproblemen – gar eine Erosion des kulturellen Gedächtnisses ableiten. 3 Für eine Analyse gegenwärtiger Erinnerungskulturen erscheint demgegenüber jedoch vielmehr die Bedeutung Neuer Medien für die Verbreitung digital darstellbarer Inhalte relevant.

Auch Dornik geht in seiner Untersuchung von „Erinnerungskulturen im Cyberspace“ von dieser Prämisse aus, wenn er feststellt, dass das Internet gar kein Speichermedium sei und verfolgt die These, „dass das Internet ein Spiegel des kommunikativen Gedächtnisses einer Gesellschaft ist“ (S. 88). Als Grundlage zur Überprüfung dieser These liefert er einen Abriss über „Österreichisches Gedächtnis und (historische) Identität in der Zweiten Republik“ (S. 43ff.), in dessen Rahmen auch die betreffenden Begrifflichkeiten geklärt werden. Sowohl der Gedächtnis-Begriff (S. 43) als auch der Begriff (kollektiver) Identität (S. 45) werden jedoch nur kurz definiert ohne auf alternative Konzeptionen zu verweisen. Die damit einhergehende Periodisierung und die Zuordnung von Leitmotiven sowie die Aufzählung relevanter Aspekte der österreichischen Erinnerungskultur erscheinen recht schematisch. Auch das darauf folgende Kapitel, das theoretische Befunde zum Verhältnis von digitaler Technologie und Geschichte zusammenträgt, ist ähnlich angelegt. Was Dornik als eine gegenstandsadäquate Kombination von historischen, kultur- und medienwissenschaftlichen Theorien konzipiert, wirkt wie ein facettenreiches Kaleidoskop. Die Ausführungen rekurrieren häufig auf die teils aufgeregten Debatten über utopische Aspekte des Internets, die in Deutschland in den letzten Jahren unter dem Titel „Netzwissenschaften“ geführt wurden. Was als Einführung in die Thematik angelegt ist, mag für mit dem Diskurs über computervermittelte Kommunikation nicht vertraute Fachwissenschaftler etwas exotisch anmuten. Einige der erwähnten Phänomene wie etwa die Konstruktion von Identitäten in den Spielwelten der Multi-User-Dungeons (S. 63ff.) verstellen den Blick auf die mögliche Bedeutung des Mediums im vorliegenden Zusammenhang eher.

Demgegenüber wird die Perspektive im empirischen Teil der Arbeit deutlicher. Dornik nähert sich seinem Untersuchungsgegenstand durch eine Kartografie von Websites zur österreichischen Zeitgeschichte. Dabei unterscheidet er Websites, die der wissenschaftlichen Fachinformation dienen (indem etwa Quellen oder Publikationen zugänglich gemacht werden), Repräsentativsites von Institutionen (die hauptsächlich Informationen über die betreffende Einrichtung geben) und thematische Sites, die einen bestimmten zeitgeschichtlichen Aspekt darstellen. Diese typologische Einordnung ist überzeugend und wird nochmals nach spezifischen Trägern (z.B. Museen, Universitäten, Verlagen) beziehungsweise Präsentationsformaten (z.B. Datenbanken, Foren, Magazinen) differenziert und quantifiziert. So entsteht ein instruktiver Überblick, bei dem jedoch Sites mit rechtsradikalen und revisionistischen Inhalten definitorisch ausgeschlossen bleiben. Ausgehend von dieser Recherche werden neun Beispiele im Detail untersucht, die das Spektrum der Bezugnahme auf Nationalsozialismus und Holocaust illustrieren. Dabei wird auf Repräsentativität verzichtet, da die quantitativ dominanten Sites von Institutionen mit ihren Informationen über Öffnungszeiten, Lage etc. in der Regel inhaltlich nicht gleichermaßen aussagekräftig sind. Für diese qualitative Untersuchung wurde ein ausführlicher Kriterienkatalog entwickelt. Dieses Instrument stellt eine herausragende Leistung dar, insofern es Websites als Quelle für kulturwissenschaftliche Analysen ernst nimmt und sich wohltuend von den technizistischen Instrumenten der bislang betriebenen Online-Forschung abhebt.

Leider gelingt Dornik die Anwendung dieses Instruments nicht ebenso überzeugend. Insbesondere die Kriterien zur eigentlichen Quellenkritik werden etwas pedantisch verfolgt: Das Fehlen von Angaben und Nachweisen, die etwa für wissenschaftliche Publikationen verbindlich sind, wird nicht nur unter methodologischen Gesichtspunkten problematisiert, sondern vor allem unter dem Aspekt mangelnder Sorgfalt thematisiert. Dies mag in einer Web-Rezension angebracht sein. Werden Websites hingegen als Untersuchungsgegenstand verstanden und erheben nicht explizit den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, dann gilt es diese Eigenschaft der Artefakte zu interpretieren – ähnlich wie bei anderen historischen Dokumenten als Ausdruck der Gattung oder anderer Kontextfaktoren. Darüber hinaus wird die Ansicht vertreten, dass unter den fehlenden Nachweisen „die Nachvollziehbarkeit und das damit einhergehende Vertrauen in den Inhalt" (S. 192) leidet. Dies mag zutreffen, aber es muss konzediert werden, dass User häufig andere Kriterien anwenden, auch wenn diese nur bedingt objektive Gültigkeit beanspruchen können: Sie interpretieren etwa die prominente Platzierung einer Website in einer Trefferliste bei einer Suchmaschine als Qualitätsmerkmal oder sehen die Richtigkeit von Angaben dann verbürgt, wenn es sich beim Anbieter um eine etablierte Institution handelt. Auch Dornik selbst orientiert sich an ähnlichen Kriterien, wenn er einer Website ausgehend von deren grafischer Gestaltung attestiert, dass damit dem „hohen ethischen Anspruch“ der Anbieter entsprochen werde (S. 166). Es wäre jedoch zu reflektieren, in wie weit es sich dabei eben um eine etablierte gestalterische Konvention handelt.

Abgesehen von ähnlich weit reichenden Schlussfolgerungen und Werturteilen an anderer Stelle gibt die Arbeit einen guten Überblick über die Vielfalt der Darstellungs- und Thematisierungsstrategien sowie das Ausmaß der Nutzung gegebener technologischer Möglichkeiten. Auch die Konklusion bezüglich der verfolgten „Symmetrie“-These wird am empirischen Material plausibel: In den untersuchten Websites spiegeln sich nicht nur etablierte inhaltliche wie ikonografische Muster der auf Nationalsozialismus und Holocaust bezogenen österreichischen Erinnerungskultur(en) wider, sondern sie ermöglichen auch die Artikulation „alternativer“ Perspektiven. Für weitere Forschungen in diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert, als Vergleichsebene weniger den materiellen Raum zu fokussieren und diesen dann mit dem Konstrukt des „Cyberspace“ zu kontrastieren, als das Verhältnis von Websites zu anderen Verbreitungsmedien zu untersuchen.

1 Dornik ist sich bewusst, dass solche Erfassungen nur eine Momentaufnahme darstellen können. Auf der Website www.zeit-ge-schichte-n.net präsentiert er ein aktualisiertes Verzeichnis und dokumentiert auch Aspekte seiner Dissertationsschrift.
2 Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, in: Erwägen, Wissen, Ethik 13 (2002), S. 239-247, hier S. 246.
3 Osten, Manfred, Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur, Frankfurt am Main 2004.

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